Arbeiterproteste unter neuen Bedingungen

Die sich ändernden Muster der Arbeiterproteste in China stellen eine Herausforderung für die Gewerkschaft dar

Kollektive Proteste von Chinas Arbeitern sind in der Regel kleine, spontane Aktionen, die darauf abzielen, betrieblichen Mißstände und Verletzungen grundlegender Arbeitsrechte wie die Nichtzahlung von Löhnen aufzudecken und ihnen zu entgegenzutreten.

Die groß angelegten Streiks und Proteste von Fabrikarbeitern, die vor fünf Jahren den Gewerkschaftsaktivismus in den Vordergrund stellten, werden heute immer weniger sichtbar. Der Gewerkschaftsaktivismus ist jetzt veränderlicher und flüchtiger geworden und stellt als solcher sowohl die Organisatoren an der Basis als auch die offizielle chinesische Gewerkschaft vor neue Herausforderungen.

Rund 95 Prozent der 712 kollektiven Proteste, die in der ersten Jahreshälfte 2019 auf der Streikkarte des China Labour Bulletin verzeichnet wurden, betrafen weniger als 100 Arbeiter und waren überwiegend in den Bereichen Baugewerbe, Dienstleistungen und Verkehr tätig. In der ersten Jahreshälfte gab es keine Proteste mit mehr als 1.000 Beschäftigten. Im gleichen Zeitraum im Jahr 2014 verzeichnete die Streikkarte jedoch 49 Proteste mit mehr als 1.000 Beschäftigten, von denen 37 im verarbeitenden Gewerbe waren, darunter auch den massiven Streik der Schuhfabrik Yue Yuen im April 2014, als 40.000 Beschäftigte einen zweiwöchigen Protest wegen Sozialversicherungsfragen und Niedriglöhnen veranstalteten.

Dieser dramatische Rückgang der Zahl der Großaktionen ist zum Teil auf den Rückgang und die Konsolidierung der Produktion in China zurückzuführen, was dazu geführt hat, dass die verbleibenden großen Fabriken generell akzeptable Lohn- und Arbeitsbedingungen bieten. Es zeigt auch die Entschlossenheit der Behörden unter Xi Jinping, groß angelegte Proteste zu verhindern, die die soziale Stabilität Chinas gefährden könnten.

In der ersten Jahreshälfte 2019 verzeichnete die Streikkarte insgesamt 95 Streiks und Proteste von Fabrikarbeitern, nur 13 Prozent der Gesamtzahl. Dies entsprach in etwa dem Niveau der ersten Jahreshälfte 2018, was darauf hindeutet, dass der Sino-US-Handelskrieg bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die Proteste der Fabrikarbeiter hatte, mit Ausnahme vielleicht im Exportzentrum für Industriegüter in Guangdong, wo der Aktivismus der Arbeiter im letzten Jahr leicht zugenommen hat.

Wie wir in unserer Analyse der Arbeitsbeziehungen im Jahr 2018 festgestellt haben, findet die überwiegende Mehrheit der Arbeitskonflikten in China inzwischen in in inländischen Privatunternehmen statt. Von den 601 Vorfällen, die in der ersten Jahreshälfte 2019 verzeichnet wurden und bei denen der Unternehmensbesitz überprüft werden konnte, befanden sich 80 Prozent in in inländischem Privatbesitz, 15 Prozent in staatlichem Besitz, während nur etwa zwei Prozent in hundertprozentigem Besitz von ausländischen/Hongkong/Taiwan-Unternehmen waren.

Das mit Abstand größte Wachstum der Arbeiterproteste fand im Dienstleistungssektor und im Einzelhandel statt, die zusammengenommen ein Viertel aller Proteste in der ersten Jahreshälfte 2019 ausmachten, gegenüber 14 Prozent im ersten Halbjahr des Vorjahres. Viele dieser Proteste fanden in den großen Städten statt (12 in Peking und je sieben in Shanghai und Shenzhen) und zeigten eine Vielzahl von Berufen: Straßenreiniger, Investmentberater und Buchhalter, Beschäftigte des Gesundheitswesens, Hotel- und Gaststättenarbeiter, Handelsvertreter, Mitarbeiter von Fitnessstudios und Kosmetiksalons sowie Beschäftigte des traditionellen Einzelhandels und des E-Commerce. Die Beschäfdtigten im Dienstleistungssektor gehören zu den am schlechtesten bezahlten in China und viele müssen für jeden Cent kämpfen, den sie verdienen. Eine Gruppe von 100 Sanitärarbeitern in Henan, die am 23. April in den Streik getreten sind, verdiente zum Beispiel nur 1.450 Yuan pro Monat (etwa 190 Euro).

Die Beschäftigten im Einzelhandel machten sechs Prozent aller in der ersten Jahreshälfte 2019 registrierten kollektiven Proteste aus. Ältere Supoermarkbeschäftigte, die am ehesten Gefahr laufen, entlassen zu werden, gehörten zu den aktivsten Kämpfenden.

Taxifahrer, Lebensmittelzusteller und Kuriere führten weiterhin regelmäßige Streiks und Proteste wegen niedriger Löhne, überhöhter Managementgebühren, hoher Kraftstoffkosten, ineffektiver staatlicher Regulierung und Firmenkonkursen durch. Nach dem Zusammenbruch des bekannten Kuriers Rufengda Express (如风达快递) veranstalteten die Arbeiter beispielsweise eine Reihe von Protesten in Peking, Shanghai und Xi'an. Mehr als ein Drittel der kollektiven Proteste der Transportarbeiter enthielten Forderungen nach höheren Löhnen. Viele Arbeiter beklagten, dass sie von den Online-Plattformen, die heute die Transport- und Logistikbranche in China dominieren, ständig unter Druck gesetzt werden. So senkten beispielsweise die beiden großen Lebensmittelvertriebsunternehmen kurz nach dem chinesischen Neujahrstag die Sätze, was zu einer Zunahme der Proteste von Fahrern im ganzen Land führte.

Im Allgemeinen hängen die Arbeiterproteste in China jedoch eher mit der Nichtzahlung von Löhnen, als mit offensichtlichen Forderungen nach höheren Löhnen zusammen. Lohnrückstände lagen mit 80 Prozent in der ersten Jahreshälfte auf der Streikarte erfassten Vorfälle. In der Bauwirtschaft, die 42 Prozent aller Proteste ausmachte, stieg dieser Anteil auf erstaunliche 99 Prozent. Wie China Labour Bulletin (CLB) in ihrem in diesem Jahr veröffentlichten Forschungsbericht über die Bauwirtschaft in China feststellte, sind Lohnrückstände seit Jahrzehnten ein vorherrschendes Problem, das trotz unzähliger Bemühungen von allen Ebenen bis zur Regierung, bis heute in der Branche fest verankert ist. Administrative und staatliche Interventionen haben wenig dazu beigetragen, den Bauarbeitern zu helfen, während die offizielle Gewerkschaft in der Nebenlinie inaktiv geblieben ist.

Es gibt die dringende Notwendigkeit, dass sich die Gewerkschaft aktiver an der Organisation der Bauarbeiter beteiligt und Tarifverträge aushandelt, die die rechtzeitige Zahlung angemessener Löhne für alle Beschäftigten von vom Tagelöhner bis zum Oberingenieur garantieren können. Die Gewerkschaft kann es sich auch nicht leisten, die Millionen von Arbeitnehmern in kleinen, privat geführten Unternehmen des Dienstleistungssektors und der Transportbranche zu ignorieren, die sich als Hauptursache für Arbeitsunruhen erwiesen haben. Es gibt Hinweise darauf, dass einige Gewerkschaftsfunktionäre diese Notwendigkeit erkennen, aber es muss eindeutig noch viel getan werden.

Übersetzt aus: China Labour Bulletin