Die Neue Seidenstraße
Schwer zu stoppen
Die Größenordnung ist gigantisch. Inzwischen beteiligen sich mehr als 100 Staaten an der „Belt and Road Initiative“ (BRI, auf Deutsch: „Gürtel- und Straßeninitiative“), die Chinas Präsident Xi Jinping 2013 ausgerufen hat. Es ist das größte Infrastrukturprojekt der Menschheitsgeschichte. Geplante Kosten: 900 Milliarden bis eine Billion US-Dollar.
Die Pläne der chinesischen Regierung werden im Westen mit einer Mischung aus Faszination und Misstrauen zur Kenntnis genommen. Da ist die Rede von einer „weltgeschichtlichen Kühnheit“, die einem „den Atem raubt“ (FAZ). Der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) warnt dagegen vor romantisierenden Marco-Polo-Reminiszenzen und charakterisiert das Projekt als „Versuch, ein umfassendes System zur Prägung der Welt im chinesischen Interesse zu etablieren“ (Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2018). Aller Aufregung zum Trotz: Um was geht es hier eigentlich?
Zunächst einmal peilt die BRI einen umfassenden Ausbau von Verkehrswegen an – das kann man als Ebene eins des Projekts bezeichnen. Die Neue Seidenstraße soll Asien mittels mehrerer neuer Eisenbahnlinien, zum Teil durch Hochgeschwindigkeitszüge, mit Europa verbinden. Dazu gehören der Bau neuer Umschlagplätze wie Khorgos an der kasachisch-chinesischen Grenze sowie der Ausbau alter Häfen. Die „maritime“ Seidenstraße wiederum soll Transportwege in Afrika sowie Mittel- und Südamerika entwickeln: Straßen, Autobahnen, Pipelines. Um das zu finanzieren, hat die chinesische Regierung 2013 die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) gegründet, die Kreditgeber aus aller Welt einlädt, unter ihrer Führung daran zu verdienen – eine Aufforderung, der zum großen Ärger der USA alle westlichen Länder bis auf Japan gefolgt sind.
Würden Marktliebhaber, Globalisierungsbefürworter und Austeritätskritiker ihren eigenen Behauptungen glauben, müssten sie die chinesischen Pläne eigentlich lauthals begrüßen. Schließlich wird die Neue Seidenstraße die Märkte Asiens, Europas und Afrikas enger zusammenschließen. Und allein der Bau der geplanten Autobahnen, Eisenbahnlinien, Häfen und Pipelines wird vielen Unternehmen und Ländern Geschäftsmöglichkeiten bieten („Arbeitsplätze“ also, wie in solchen Fällen normalerweise verdolmetscht wird) – selbst wenn China seinen Firmen und Beschäftigten einen Teil der Projekte sichert.
Etliche deutsche Unternehmen sehen die Sache tatsächlich pragmatisch vom Standpunkt der Chancen aus und versuchen, sich an den Zug anzuhängen. So etwa Siemens-Chef Joe Kaeser, der ein eigenes Seidenstraßenbüro in Peking eröffnet hat. Ansonsten aber ist klar: Die schönen und einladenden Worte des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, „zum Nutzen aller zusammenzuarbeiten“, können hierzulande niemanden darüber hinwegtäuschen, dass es um chinesische Interessen geht. Ökonomisch, geostrategisch und politisch ist das ganze schöne Projekt für „uns“ (soll heißen: Deutschland) eine zweischneidige Angelegenheit, weil es – Entwicklung hin, Geschäfte her – unter der „falschen“ nationalen Federführung steht.
Jenseits der Heuchelei
Aus der Sicht des eifersüchtigen Konkurrenten erkennen die hiesigen Experten für Wirtschaft am „Fall China“ also problemlos, was bei den entsprechenden deutschen Unternehmungen und ihrer ideologischen Aufbereitung niemand wahrhaben, geschweige denn aussprechen will. Erstens bringt die kapitalistische Konkurrenz auf den Weltmärkten nicht einfach allen Beteiligten Vorteile. So ist zu vermuten, dass die Neue Seidenstraße vor allem chinesischem Kapital Konkurrenzvorteile durch sinkende Transportkosten verschaffen wird.
Zweitens nutzen die starken Wirtschaftsnationen sämtliche Momente ihrer Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Staaten – vom Kredit über die Förderung der Infrastruktur bis hin zu den tatsächlichen Waren- und Kapitalströmen – dafür, Abhängigkeiten zu stiften und im Idealfall die eigenen Interessen in deren Staatsräson zu verankern. Das, was in der marktwirtschaftlichen Konkurrenz für jede Nation gilt, die „oben“ mitspielt, wird den Chinesen allerdings angekreidet, als sei es ein Regelverstoß.
Deshalb machen „wir“ uns nun lauthals Sorgen darüber, dass die chinesische Politik kleinere Nationen in eine „Schuldenfalle“ stürzt – eine Behauptung übrigens, die von der amerikanischen „China Africa Research Initiative“ untersucht und ziemlich umfassend widerlegt wurde. Erinnert sich in diesem Zusammenhang eigentlich noch jemand daran, wie die „hoch verschuldeten armen Länder“ Afrikas entstanden sind? Wer hatte Griechenland so viel Geld geliehen? Und wer hat die dann entstandene Krisenlage ausgenutzt, um der griechischen Regierung in ihren Haushalt hineinzuregieren und ihr eine rücksichtslose Behandlung der Bevölkerung abzuverlangen?
Um was es jenseits dieser Heuchelei geht, liegt auf der Hand. Mit seiner BRI will China die Handelsströme sichern, auf die es als inzwischen kapitalistische, an erfolgreichem Wachstum orientierte Macht angewiesen ist: die Export- und Importwege seiner Waren und Rohstoffe. Das ist, analytisch gesehen, Ebene zwei des Seidenstraßenprojekts, und diese ist strategischer Natur. Sie zielt darauf, sich gegenüber absehbaren Störversuchen, insbesondere der USA, ihrer Seestreitkraft und ihrer engen Alliierten, unangreifbarer zu machen (Südostasiatisches Meer, Straße von Malakka, Suezkanal). Daher rührt der Ausbau der vielen landgestützten Verbindungen zwischen Asien und Europa, aber auch das Großprojekt eines zweiten Kanals in Mittelamerika, um dem US-beherrschten Panamakanal auszuweichen.
Zudem legt China im eigenen Interesse – ökonomisch, um sein Geschäft voranzubringen, und politisch als potenzielle Unterstützung in der bevorstehenden Auseinandersetzung mit den USA – Wert auf freundschaftliche, stabile Beziehungen zu möglichst vielen anderen Nationen. Die will es, als aufsteigende Großmacht, erst einmal erwerben und absichern. Deshalb gibt es in China tatsächlich ein Moment positiver Bezugnahme auf die Interessen der Konkurrenz. China baut in Afrika Staudämme, Straßen und Eisenbahnen zu vorteilhaften Konditionen; es vergibt Kredite günstiger als die Weltbank und andere Anbieter; es bietet den durch die ökonomische Konkurrenz ruinierten Staaten Europas Alternativen zum EU-Spardiktat.
Keine Frage, dass auch chinesische Politik da, wo es ihr im eigenen Interesse nötig erscheint, zu mehr oder weniger heftigen Erpressungen greift und dafür die Mittel einsetzt, die sie sich in den vergangenen Jahren erworben hat: die ökonomischen Abhängigkeiten anderer Staaten, die chinesische Waren und Kredite brauchen oder an China verkaufen müssen. Keine Frage auch, dass es deshalb Unzufriedenheit mit den geschäftlichen Konditionen oder dem „arroganten“ Auftreten der Chinesen gibt. Das beschenkt die Gegenseite mit Material, mit dem sich China für seinen „neuen Imperialismus“ anklagen lässt.
Allerdings: Das ist das übliche Geschäftsgebaren in einer Welt konkurrierender Kapitale und Staaten. Und es ist das, was ein Staat braucht, wenn er auf dem Weltmarkt erfolgreich und Weltmacht sein will. Die USA machen es schließlich seit vielen Jahren vor. Auch die EU und insbesondere ihre ökonomische Führungsmacht Deutschland verfahren nach demselben Rezept, haben Ost- und Südeuropa sich untergeordnet und können es überhaupt nicht leiden, wenn Peking diesen Staaten auch nur bessere Verhandlungsmöglichkeiten gegen die „alternativlosen“ Ansagen aus Brüssel und Berlin beschert.
Erneut gilt hier, dass die Beschwerden über ein China, das nicht anders handelt als die etablierten Macher der geltenden Weltordnung, weniger die Besonderheit des chinesischen Aufstiegsprojekts charakterisieren als die Anspruchshaltung von USA und EU. Sie wollen die Nutznießer der globalen Konkurrenz sein und verlangen politische Gefolgschaft von den Nationen, die sie sich in ihren ökonomischen und politischen Bündnissen zugeordnet haben.
Sonderfall der Geschichte
China will das momentan geltende Resultat dieser Weltordnung, die die USA nach 1945 zu ihrem Vorteil eingerichtet und nach 1990 als alleinige Weltmacht vollendet haben, zu seinen Gunsten verändern. Mit seiner Neuen Seidenstraße will es die Bedingungen des weltweiten Geschäfts für die kommenden Jahrzehnte zu seinem Nutzen festklopfen; so will das frühere „Reich der Mitte“ endlich die „ihm gebührende“ Weltmachtstellung wiedergewinnen. Das ist Ebene drei des Projekts. Dieses Verlangen ist eine ernsthafte Kampfansage an die USA als Hegemon der bisherigen Weltordnung – auch wenn es aus der Position der schwächeren Nation heraus bescheiden in den Antrag auf eine „multilaterale Welt“ gekleidet wird.
Chinas kommunistische Staatspartei sorgt im Innern mit all ihrer Macht und dem bereits verdienten Geld dafür, möglichst schnell und intensiv alle Landesteile zu erschließen und Land und Volk zu einer ständig größer werdenden kapitalistischen „Wachstumsmaschinerie“ zu machen.
Sie weiß, dass der Aufstieg des Landes schwer zu stoppen ist, wenn dieses Programm im Innern so ungestört weiterläuft wie die mit der BRI begonnene Expansion. Und dass das auch den USA bewusst ist, die den lästigen Rivalen stoppen wollen und mit Handelskriegen, geostrategischer Einkreisung und der Befeuerung islamistischer oder tibetischer Separationsbestrebungen an seinen „empfindlichen“ Punkten ansetzen: seinen Weltmarkterfolgen und seiner staatlichen Hoheit.
Deshalb – und nicht, weil das neue „Imperium“ demnächst der Welt seinen autoritären Politik- und Lebensstil aufzwingen will, wie die westliche Feinddarstellung lautet – wächst mit Chinas wachsenden weltweiten Wirtschaftsinteressen auch sein Bedarf an militärischen Mitteln der „nationalen Sicherheit“.
China ist also ein einzigartiger (und darin erklärungsbedürftiger) Sonderfall der Weltgeschichte. Es hat geschafft, was die großen westlichen Staaten den „Entwicklungsländern“ immer so generös als Resultat ihres Einstiegs in den Weltmarkt verheißen hatten: sich zu entwickeln, reich und mächtig zu werden und ihnen auf Augenhöhe entgegenzutreten. An den Reaktionen der „Etablierten“ ist abzulesen: Ein solches Resultat ist so nicht erwünscht. Der Kampf der USA gegen diesen Rivalen hat längst begonnen. Die Europäische Union stellt sich gerade neu auf und hofft, in der Gegnerschaft zu China eine imperiale Einigkeit in ihrem an inneren Widersprüchen leidenden Projekt zu formieren.
(Obiger Bericht wurde im Freitag veröffentlicht. Die Autorin hat ihn zur Veröffentlichung in diesem Blog freigegeben.)
Renate Dillmann ist Journalistin und Dozentin an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Ihr Buch China. Ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, einen sozialistischen Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt einer kapitalistischen Gesellschaft und den Aufstieg einer neuen Großmacht ist als eBook erhältlich und erscheint demnächst im Verlag Buchmacherei in ergänzter Neuauflage