January 17, 2022

996 Arbeitszeiten, Tote und Proteste

Arbeitszeiten von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends an 6 Tagen die Woche bleiben ein Dauerbrenner. Sie sorgen nicht nur für Debatten, sondern auch für Gegenwehr

996 Arbeitszeiten, Tote und Proteste

Mit einer "996" Arbeitswoche sind Arbeitszeiten von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends an 6 Tagen in der Woche gemeint. Alibaba-Gründer Jack Ma bezeichnete das Arbeitszeitmodel 996 als einen großen Segen. Die chinesische Netzcommunity konterte humorig subversiv mit einem "007".

Selbstmord eines Stararbeiters bei Tencent

Beschäftigte des chinesischen Technologieunternehmens und Internetnutzer sind mit der Erklärung von Tencent zum Selbstmord eines jungen Mitarbeiters nicht zufrieden.
Anfang dieser Woche wurden die Mitarbeiter von Tencent, dem chinesischen Tech-Riesen hinter WeChat, mit einem internen Memo über den Tod eines jungen Kollegen konfrontiert.
"Am Morgen des 11. Dezember hat uns Máo Xīngyún 毛星云, ein hervorragender Mitarbeiter des Unternehmens, der im PC/Console Rendering Team arbeitete,  für immer verlassen", schrieb Qín Yàlín 秦亚林, General Manager von TiMi Studio, einer Tochtergesellschaft von Tencent Games. "In den mehr als fünf Jahren, die er bei Tencent war, waren wir von seiner Kompetenz beeindruckt. Seine Leistungen waren hervorragend und er hat sich immer an hohe Standards gehalten." (...) In Medienberichten wurde Maos Tod kollektiv als "Unfall" bezeichnet, und Tencent wurde als mitfühlender und verantwortungsvoller Arbeitgeber dargestellt, der Maos Familie in der Zeit der Trauer finanziell unterstützen wollte.
Doch in den letzten Tagen tauchte in den sozialen Medien allmählich eine andere Version der Geschichte auf, die von ehemaligen und aktuellen Mitarbeitern von Tencent erzählt und bestätigt wurde. Im direkten Gegensatz zu Qins Beschreibung der Situation enthüllten mehrere anonyme Quellen auf Weibo, dass Mao tatsächlich durch Selbstmord umgekommen war. Der 30-jährige renommierte Spieleentwickler sei am Samstag vom Dach eines Bürogebäudes im Kexing Science Park in Shenzhen gesprungen, in dem sich die Spieleabteilung von Tencent befindet, während er seine Arbeit nachholte.
Da Wang seit Jahren mit schweren Depressionen zu kämpfen hatte, die in diesem Jahr zu einem zweimonatigen Krankenhausaufenthalt führten, argumentierten viele von ihnen, dass Tencent die Schuld trage - weil es angeblich unrealistische Erwartungen an Mao gestellt und ihn zu unerträglich langen Arbeitszeiten gezwungen habe.
Die leidenschaftlichste Stimme, die Tencent für seine harte Arbeitskultur kritisierte, kam von dem Weibo-Nutzer Goose Factory Surveillance Brother. Der ehemalige Angestellte des Unternehmens, der in der Öffentlichkeit nur mit seinem Nachnamen Yan genannt wird, verklagte den Internetriesen vor drei Jahren, weil er  wegen seiner Weigerung Überstunden zu leisten, unrechtmäßig entlassen worden sei.
"(...) In den vier Monaten vor meiner Entlassung haben sie das Arbeitsumfeld für mich so giftig gemacht, dass ich depressiv wurde und mehrmals von einem Gebäude springen wollte", schrieb Yan . (...)
Inzwischen ist es kein Geheimnis mehr, dass Tencent ein chronisches Überlastungsproblem hat. Im Mai sprang eine 21-jährige Praktikantin von Lightspeed & Quantum Studios, einem Spieleentwickler von Tencent Games, von einem Bürogebäude des Tencent-Hauptquartiers in Shenzhen in den Tod, demselben Ort, an dem Mao sich das Leben nahm. (...)
Im selben Monat schimpfte Tencent-Manager Zhāng Jūn über Chinas Jugend, die zu viel schlafe. Seine Äußerung während des Feiertags zum Tag der Arbeit wurde schnell zu einem Anlaß für Menschen, ihre Wut zu äußern in éinem Jahr mit dem Tod mehrerer erschöpfter Arbeiter im Tech-Sektor, darunter ein 22-jähriger Beschäftigter des E-Commerce-Unternehmens Pinduoduo. "Du solltest froh sein, dass wir geschlafen haben, anstatt Kapitalisten wie dich an Straßenlaternen aufzuhängen", schrieb ein Weibo-Nutzer an Zhang.
Aber Maos Tod scheint die Öffentlichkeit besonders berührt zu haben. Bevor er zu Tencent kam, wurde Mao 2014 von Microsoft China als "wertvollster Experte" ausgezeichnet. Er war nicht nur Autor verschiedener Lehrbücher zur Spieleentwicklung, sondern auch ein hochrangiger Mitarbeiter bei Tencent, wo er für die Entwicklung mehrerer hochpreisiger Titel verantwortlich war. Doch trotz seines Einflusses in der chinesischen Spieleindustrie und der hohen Position, die er bei Tencent innehatte, war Mao nicht immun gegen die harten Arbeitszeiten und das hohe Arbeitspensum, dem die Beschäftigten ausgesetzt waren.(...)

SupChina 16.12.2021

Einen Monat zuvor berichtete Heise:

Gegen "996": Wie ausgebrannte chinesische Tech-Arbeiter zurückschlagen wollen

Von 9 bis 21 Uhr arbeiten – an sechs Tagen die Woche: Damit leben junge Chinesen in Hightech-Berufen. Ihre Gegenwehr geht jetzt viral.
(...) Doch das Projekt, das zunächst den Namen "Worker Lives Matter" (in Anlehnung an "Black Lives Matter") und dann "Working Time" trug, war fast so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war. Die Datenbank und die dazu passende GitHub-Repository-Seite wurden gelöscht – und Online-Diskussionen über das Arbeitsleben dieser Menschen wurden von chinesischen sozialen Netzwerkplattformen zensiert. (...) "Ich glaube, es wird immer mehr Versuche und Initiativen wie diese geben", sagt der Programmierer Suji Yan, der an einem anderen Projekt gegen "996" gearbeitet hat. Mit besseren Ansätzen zur Umgehung der Zensur könnten sie noch mehr Aufmerksamkeit auf das Problem lenken. (...)
In Zukunft müssen die Unternehmen möglicherweise noch mehr Überstunden abbauen, um junge Bewerber zu gewinnen. Faper Fu, ein Universitätsstudent in Nanjing, sagt, er habe wenig Interesse daran, 996 zu akzeptieren, wenn er auf den Arbeitsmarkt kommt. (...) In der Zwischenzeit, so Cooper, werden die jüngeren Generationen "nicht aufhören, für eine gute Qualität des Arbeitslebens zu kämpfen".

Heise 24.11.2021

Auseinandersetzungen um die Arbeitszeit in Chinas Arbeitswelt sind ein Dauerbrenner nicht nur in westlichen Medien und sie wurden wiederholt in diesem Blog thematisiert. Die Arbeitszeiten stellen für die arbeitenden Menschen ein zentrales Konfliktfeld dar und die immer wieder aufflammenden Debatten, Proteste und Kämpfe finden stets Wege, sich Gehör zu verschaffen. Trotz des ausgefeilten Systems der Internetzensur, verbreiten sich Nachrichten und Meinungen zum Thema in den Sozialen Medien in einer derartigen Rasanz, daß diese Beiträge schon millionenfach gelesen worden sind, bevor die Zensoren die Beiträge löschen konnten. Dann wird auch in chinesischen Mainstreammedien von diesen Debatten berichtet. Erwähnenswert ist auch, daß sich junge Menschen zunehmend marxistischen Vokabulars bedienen, wenn sich ihre Wut Bahn bricht. Da ist wohl etwas aus dem Schulunterricht hängengeblieben.