January 20, 2023

Einschätzungen der Unruhen in China (Teil 1)

Die Bevölkerung beendete den Lockdown selbst

Einschätzungen der Unruhen in China  (Teil 1)

Es herrschte einige Zeit eine gewisse Ruhe in China, die erst der massiven Ausweitung der Repression und dann der rigorosen ZeroCovid Politik geschuldet war. Als nun eine Vielzahl von Protesten ausbrach, Arbeiter:innen bei Foxconn, Studenten vieler Universitäten, sowie unterschiedlichste Menschen, die die Lockdownmaßnahmen nicht länger ertragen wollten und auf die Barrikaden gingen, war China wieder im Fokus internationaler Medien. Den Zündfunken für die Protestwelle lieferte der Brand in einem Wohnhaus in Urumqi, bei dem die Lockdown-Absperrungen für vermeidbare Tote sorgten. Das Hochhalten von unbeschriebenen Weißen Blättern gaben den Protesten den Namen White Paper Protests oder A4 Revolution.

Das weiße Blatt Papier war auch bei Antikriegsprotesten in Rußland zu sehen. Doch der Ursprung dieser Protestform soll in Hongkong bei den Protesten 2019 liegen.

Auf diesen Berichten von den Protesten in China versuchen nun viele ihr Süppchen zu kochen und insbesondere US-Amerikanische Medien sahen schon einen Aufstand gegen die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas. Doch da ist der Wunsch wohl Vater des Gedankens. Es waren Proteste gegen konkrete Mißstände sowohl am Arbeitsplatz, alsauch am Wohnort. Die Proteste und Aufstände waren alles andere als homogen. Die direkte Kritik an der Politik der Kommunistischen Partei und ihrem Vorsitzenden Xi Jinping bezog sich auf Fehlentscheidungen, Korruption und ihrem autäritären Auftreten.

Gleich zu Beginn der Proteste gab aus der chinesischen linken Bewegung den Versuch einer Einschätzung und Einmischung:

Von Urumqi nach Shanghai: Forderungen von chinesischen und hongkonger Sozialisten

Ein Brief über Strategie und Solidarität mit dem Kampf der Uiguren
Am Donnerstag, den 24. November 2022, brach in einem Wohnhaus in Urumqi, der Hauptstadt von Chinas "Xinjiang Uyghur Autonomous Region", ein Feuer aus. Das Feuer forderte vor allem uigurische Opfer und viele weitere Verletzte. Die Tragödie war eine Folge der gescheiterten Pandemiepolitik Chinas (...).
Als Reaktion darauf starteten die Einwohner von Urumqi am Samstag, den 26. November, einen beispiellosen stadtweiten Protest, bei dem sie der Polizei trotzten, um Regierungsgebäude zu umzingeln und ein Ende der derzeitigen Abriegelungsmaßnahmen zu fordern. (...)
Studenten und Arbeiter in ganz China gehen auf die Straße, um Rechenschaft über die "ZeroCovid" Politik zu fordern, die sie ihrer Rechte beraubt und ihre Sicherheit gefährdet hat. Mit dem schrecklichen Brand in Urumqi haben die Menschen in Xinjiang erneut die Hauptlast der repressiven Politik Chinas tragen müssen. Doch nun ist die Region, in der einige der am stärksten ausgegrenzten Menschen des Landes leben, zum Auslöser der möglicherweise größten Mobilisierung in der chinesischen Gesellschaft seit Jahren geworden. (...)
Wir verlangen, dass die Opfer des Brandes in Urumqi zur Rechenschaft gezogen werden, und fordern einen radikalen Systemwandel:
Forderungen
Abschaffung der derzeitigen Abriegelungen, mit denen Menschen gewaltsam in ihren Häusern festgehalten werden und ihnen der Zugang zu grundlegenden Bedürfnissen verwehrt wird.
Abschaffung des PCR-Test- Zwangs.
Erlaubnis für Infizierte, sich zu Hause zu isolieren, während diejenigen mit schweren Symptomen das Recht auf Behandlung im Krankenhaus haben; Aufhebung der Zwangsverlegung und Isolierung von Infizierten und Nicht-Infizierten in mobilen Kabinen-"Krankenhäusern".
Bereitstellung von Optionen für Mehrfachimpfungen, so dass jeder die Möglichkeit hat, seine Gesundheitsversorgung selbst zu wählen.
Freilassung des Demonstranten von der Sitong-Brücke, Peng Zaizhou, und anderer politischer Gefangener, die wegen der Proteste inhaftiert sind.
Aufruf zur landesweiten Trauer um die Toten, die durch die unverantwortlichen Abriegelungsmaßnahmen zu beklagen sind.
Rücktritt der Bürokraten, die für das Missmanagement der Pandemie verantwortlich sind.
Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung müssen von medizinischen Experten beraten und demokratisch von der Bevölkerung durchgeführt werden.
Die Menschenrechte auf Rede-, Versammlungs-, Organisations- und Protestfreiheit sind zu wahren.
Unterstützung der unabhängigen Arbeitnehmermacht bei diesen Protesten und darüber hinaus; Abschaffung arbeiterfeindlicher Praktiken wie der Arbeitszeitregelung 996 und Stärkung des arbeitsrechtlichen Schutzes, einschließlich des Schutzes des Streikrechts und des Rechts auf Selbstorganisation der Arbeiter, damit sie sich stärker am politischen Leben beteiligen können.
Strategien
Wenn jemand von der Polizei bedroht wird, sollten andere aufstehen und ihn unterstützen.
Wir sollten niemanden davon abhalten, radikalere Slogans zu skandieren, sondern versuchen, positiven und konkreten Forderungen nach systemischen Veränderungen den Vorrang zu geben.
Änderungen an den politischen Schaltstellen innerhalb des Systems wären wenig sinnvoll, solange wir nicht das System selbst gründlich demokratisieren.
Vermeidet die riskante Taktik der langfristigen Besetzung von Straßen und Plätzen - wählt eine Mobilisierung im Stil von "Be Water", um zu verhindern, dass die Behörden zu leicht gegen die Demonstranten vorgehen.
Über die Proteste hinaus gilt es die gegenseitige Hilfe und die Selbstorganisation in der Nachbarschaft und an den Arbeitsplätzen zu stärken.
Die Menschen in China beginnen heute, sich für den Aufruf des Demonstranten von der Sitong-Brücke, Peng Zaizhou, zu einer Massenaktion zu mobilisieren, um "Demokratie und nicht noch mehr erzwungene PCR-Tests" zu fordern. (...)
Wir stehen in Solidarität mit dieser sich entwickelnden Bewegung und fordern die chinesische Regierung auf, die Lebensgrundlage und die grundlegenden bürgerlichen Freiheiten ihrer Bürger zu respektieren.
Sozialisten aus China und Hongkong am 28. November 2022

Die Rebellion in Fabriken und auf den Straßen wurde weder erwartet, noch von politischen Aktivisten vorbereitet. Es ist zum Hintergrund der Coronamaßnahmen auch anzumerken, daß diese von der Bevölkerung zu einem hohen Maße akzeptiert und mitgeragen wurden und diese Proteste nicht eine chinesische Variante der Querdenker sind. Es herrschte ein massive Unzufriedenheit mit der Umsetzung der Coronamaßnahmen, bei denen es Engpässe bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten gab, sich bei den Helfern der Seuchenbekämpfung zunehmend Korruption und Selbstbedienungsmentaltität ausbreiteten und immer mehr Beschwerden über Diebstähle und Übergriffe seitens der Hilfskräfte bekannt wurden. Ein Grund für den Aufstand bei Foxconn war, daß die neu eingestellten Arbeiter mit positiv getesteten Kollegen zusammen arbeiten sollten.

So spontan die Proteste auch waren, so sehr mischten sich politische Inhalte in die Auseinandersetzungen. Es entwickelten sich auch Bezüge zu anderen Kämpfen. Und besonders erwähnenswert ist die Kreativität der Protestbewegung. Der aufmarschierenden Polizei nahm man den Wind aus den Segeln, indem man ihr satirisch mit Parolen wie "wir wollen öfter getestet werden!" oder "Xi Jinping für immer!" begegnete. Das Hochhalten von unbeschriebenem weißen Papier konnte als Anprangerung der Zensur gelesen, doch schwer als solche geahndet werden.

Das Singen der Nationalhyme bei einige Demos kann eher als Festhalten an dem politischen System gesehen werden und man von der Partei und ihren Führern erwartet, sie sollten sich an die sozialistischen Werte, mit denen sie sich schmücken, auch halten.

Eine Absage an die Hoffnung westlicher Medien, es sei eine Revolte mit dem Ziel einer Demokratie nach amerikanischen Vorbild, war das Absingen der Internationale bei den Protesten an verschiedenen Universitäten.

In einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern sollte man Proteste mit insgesamt einigen Tausend Teilnehmern nicht überbewerten, doch sie sind Indikatoren für Stimmungen in der Bevölkerung.

Die politisch brisantesten Parolen wurden bei Protesten in Shanghai in der Wulumuqi/Urumqi Road laut. Sie wandten sich direkt gegen die Kommunistische Partei und Xi Jinping. Als die Behörden entschieden, das Straßenschild vom Ort des Protests zu entfernen...

...dauerte es gerade mal eine viertel Stunde, bis es im Internet als Meme wieder auftauchte.

Das Meme ging viral

Und wenig später war es auch in London zu sehen:

Es gilt als Novum, daß sich bei diesen Protesten Han Chinesen massiv für die Belange von Uiguren eingesetzt haben. In erster Linie zeigte man sich solidarisch mit den Familien der Opfer, die bei dem Hochhausbrand in Urumqi umgekommen sind und fordert eine Aufarbeitung der Ursachen der Brandkatastrophe und eine angemessene Behandlung der Opfer und ihrer Angehörigen. Darüber hinaus gab es auch Forderungen zur Beendung der Kasernierung der Uigurischen Bevölkerung in Arbeitslagern.

Euer Lockdown ist beendet. Was ist mit den Uiguren und Kasachen"? Schluß mit den Konzentrationslagern. -Chinesische Feministinnen- 

Bei einigen der Protestaktionen wurden die Forderungen des Brückenmanns teilweise in Teilen, manchmal auch komplett übernommen.

Als die Polizei den Demonstranten vorwarf, sie seien von ausländischen Kräften aufgehetzt worden, entgegneten die Protestierenden: "Die ausländischen Kräfte, von denen ihr sprecht - sind das Marx und Engels?"

Auch in Hongkong entflammten wieder Proteste. Es ging um Solidarität mit den Unruhen in Festlandchina. Die Aktivisten berichteten, die rechte Strömung der "Lokalisten" habe sich von diesen Protesten ferngehalten.

Bei Demonstrationen in China wurde auch die Hymne der Protestbewegung in Hongkong gesungen.

Es gab sogar eine Bezugnahme auf die Proteste vom Tiananmen Squarre. Ein vom BBC aufgenommes Interview zeigt einen Radfahrer, der sich den Protesten der Studenten anschließen wollte. Auf die Frage nach dem Warum entgegnete er "Es ist meine Pflicht!"

Dieses "It's my duty" war in den Sozialen Medien während der Proteste ein geflügeltes Wort.

Man muß vorsichtig sein und aus solchen Momentaufnahmen nicht zu voreiligen Schlüssen kommen. Doch nicht nur der Publizist Au Loong-Yu vermutet eine tiefere Erschütterung der chinesischen Gesellschaft, als diese spontanen Proteste wirklich belegen. Man erahnt einen Wandel im politischen Klima und geht von einem weiteren Aufbegehren der Bevölkerung aus.

Eine aktuelle Welle an Arbeiterprotesten belegt diese Annahme.