February 26, 2020

China: Gebärstreik und Widerstand

Das chinesische Regime versucht, eine demografische Krise abzuwenden, und ruft die Frauen im Land zum Kinderkriegen auf. Bisher ohne Erfolg. Denn die patriarchale Familienordnung gerät zunehmend in die Kritik.

China: Gebärstreik und Widerstand

Ralf Ruckus zur Bevölkerungspolitik in China, erschienen in der WOZ:

Für die Frauen in China wäre der Schritt eine Zäsur: Seit der  Einführung der sogenannten Ein-Kind-Politik vor vierzig Jahren  unterliegt ihre Familienplanung rigiden staatlichen Kontrollen. Nun  gehen BeobachterInnen davon aus, dass diese im Frühjahr fallen.

Mit der Aufhebung der Kontrollen versucht die Führung der  Kommunistischen Partei (KPCh), eine demografische Krise abzuwenden. Laut  der vom nationalen Statistikamt Chinas am Freitag veröffentlichten  Daten ist die Zahl der Geburten 2019 auf den niedrigsten Stand seit  Jahrzehnten gefallen. Die Fertilitätsrate ist so niedrig, dass die  Bevölkerung bald deutlich schrumpfen wird. Und auch die Zahl der  Erwerbstätigen verringert sich seit mehreren Jahren kontinuierlich.

Da sich viele Frauen weigern, mehr als ein Kind zu bekommen, hat  selbst die Einführung einer «Zwei-Kind-Politik» im Jahr 2016 nicht die  gewünschte Geburtenzunahme bewirkt. In «Birth Strike. The Hidden Fight  Over Women’s Work» beschreibt die Autorin Jenny Brown das Phänomen eines  informellen «Gebärstreiks» als «Reaktion von Frauen auf ihre schlechten  Arbeits- und Lebensbedingungen». Die chinesischen Lokalbehörden  versuchen zurzeit, diesen «Streik» zu brechen – bisher ohne Erfolg.

Dabei geht es um nichts Geringeres als die Zukunft des Landes: Bleibt  der vom Staat geforderte Babyboom aus, droht eine Verschärfung der  Arbeitskräfteknappheit und der Überalterung der Gesellschaft. Dies  könnte die wirtschaftliche Fortentwicklung abwürgen.

Rigide Vorschriften

Die erwartete Wende in der staatlichen Geburtenpolitik und die  Forderung nach mehr Kindern birgt eine historische Ironie. Auch in den  späten fünfziger und frühen sechziger Jahren hatten Teile der KPCh von  Frauen verlangt, möglichst viele Kinder zu bekommen – damals für den  Aufbau des Sozialismus. Ab Anfang der siebziger Jahre versuchte die  Führung jedoch verstärkt, das Bevölkerungswachstum und damit  zusammenhängende wirtschaftliche Lasten zu reduzieren. Lokale Kader  waren demnach für die Einhaltung vorgegebener Babyquoten verantwortlich.

Mitte der siebziger Jahre lancierte die Führung eine Kampagne für  spätere Heirat, längere Abstände zwischen Geburten und weniger Kinder.  Zwischen 1970 und 1980 sank die Geburtenrate von 33,5 Kindern pro 1000  EinwohnerInnen auf 18,2.

Ende der siebziger Jahre leitete das Regime umfassende  Wirtschaftsreformen ein, löste die landwirtschaftlichen Kommunen auf und  verteilte das Land an Bauernfamilien. Nun fürchtete es jedoch, die  BäuerInnen würden diese Lockerung der staatlichen Kontrolle ausnutzen  und wieder mehr Kinder bekommen. Deswegen verhängte die Führung mit der  Ein-Kind-Politik strikte Vorschriften und setzte sie rigide durch – mit  Kampagnen, Zwangsabtreibungen und -sterilisierungen, Kontrollen der  Verhütungsmethoden und anderen Repressionen.

In den Städten war das weitgehend erfolgreich, bedeuteten  Zuwiderhandlungen doch hohe Geldstrafen, den Verlust des Arbeitsplatzes  oder gar des Rechts, in der Stadt zu leben. Ausserdem wurde die Vorgabe  eher akzeptiert, weil aufgrund der staatlichen Versorgungssysteme die  Zahl der Kinder (und deren Geschlecht) für die soziale Absicherung nicht  so entscheidend waren. Auf dem Land hingegen gab es von Anfang an  deutlich mehr Widerstand gegen die neue Regel – vor allem, wenn das  erste Kind ein Mädchen war. Gemäss den dominanten patriarchalen  Vorstellungen in China setzen nur Söhne die Familientradition fort,  Töchter werden nach der Heirat Teil der Familie ihres Ehemanns, sind für  die eigene Familie als Arbeitskraft und Altersabsicherung also  «verloren».

Dass die Staatskader und die medizinischen Versorgungsteams den  Widerstand gegen die Verordnung in vielen Fällen blutig niederschlugen,  ist im kürzlich erschienenen Dokumentarfilm «One Child Nation» des  US-chinesischen Filmemachers Nanfu Wang beispielhaft zu sehen. Darin  schildern Wangs InterviewpartnerInnen auf dem Land, wie seit den  achtziger Jahren nicht nur Strafen verhängt und Häuser zerstört, sondern  Frauen auch brutal zu (späten) Abtreibungen und Sterilisierungen  gezwungen wurden. Gleichzeitig töteten die Dorfbewohner viele weibliche  Neugeborene oder setzten diese aus.

Mitte der achtziger Jahre reagierte das Regime auf die  Unzufriedenheit und den Widerstand auf dem Land. Weil es fürchten  musste, die Kontrolle über die Dörfer zu verlieren, erlaubte es  ländlichen Familien ein zweites Kind, wenn das erste ein Mädchen war. Da  es weitere Sonderregelungen gab, etwa für «Minderheiten», ist die  Bezeichnung «Ein-Kind-Politik» eigentlich irreführend. Die Beschränkung  auf nur ein Kind galt letztendlich nur für etwa ein Drittel der Frauen  in China.

Unbeabsichtigte Auswirkungen

Auch wenn das Regime behauptet, 400 Millionen Geburten «eingespart»  zu haben – der «Erfolg» der Ein-Kind-Politik ist mindestens fragwürdig.  So fielen die Fertilitätsraten bereits vor Einführung der rigiden  Politik deutlich. Und in vergleichbaren Ländern wie Südkorea oder  Thailand sind sie ohne Zwangsmassnahmen ähnlich gesunken – durch die  Zunahme der Urbanisierung, bessere Bildung und wirtschaftliche  Verbesserungen.

Ab den nuller Jahren wurden die unbeabsichtigten Auswirkungen der  Ein-Kind-Politik derweil immer deutlicher. Aufgrund von  geschlechtsselektiven Abtreibungen und Femiziden entstand ein  Männerüberhang. Die Geschlechtsverteilung von Geburten liegt seit den  neunziger Jahren je nach Provinz zwischen 115 und 130 Jungen zu 100  Mädchen; 2017 lebten in China 32,7 Millionen mehr Männer als Frauen.  2010 gab es zudem schätzungsweise 13 Millionen «schwarze Kinder», die  als Illegale nicht registriert wurden, um Strafen zu entgehen – etwa ein  Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie haben beispielsweise keinen Anspruch  auf Schulerziehung und Sozialleistungen.

In den letzten Jahren fiel die Zahl der Geburten deutlich, was auch  Folge der immer weiter zurückgehenden Zahl von Frauen im Gebäralter ist.  2019 gab es lediglich 14,6 Millionen Geburten, 1990 waren es noch 23,9  gewesen. Die Geburtenrate lag im letzten Jahr bei nur noch 10,5 pro 1000  EinwohnerInnen, der niedrigste Stand in der Geschichte der  Volksrepublik. Aufgrund der niedrigen Geburtenzahlen droht vor allem  eine entscheidende Quelle des Wirtschaftswachstums zu versiegen: frische  (und möglichst «billige») Arbeitskraft.

Die Erwerbsbevölkerung schwindet auch deshalb, weil das Regime keine nennenswerte Einwanderung von Arbeitskräften zulässt und sich bisher  nicht traut, das Rentenalter (60 Jahre für Männer, zwischen 50 und  55 Jahren für Frauen) hochzusetzen. Nun «überaltert» die Gesellschaft  zusehends, was durch die auch in China gestiegene Lebenserwartung  verschärft wird. So lag der Anteil der über Sechzigjährigen 2017 bei  etwa einem Sechstel, 2030 soll er bei einem Viertel und 2050 bei etwa  einem Drittel liegen. Immer weniger Jüngere müssen also immer mehr  Ältere versorgen, ohne dass bisher ein ausreichendes Rentensystem  existiert – vor allem auf dem Land.

Der Sexismus des Regimes

Seit Jahren schon versucht die Führung der KPCh, ihre  Bevölkerungspolitik anzupassen. 2013 erlaubte sie Eltern, die selbst aus  Ein-Kind-Familien kommen, zwei Kinder zu haben. Ab 2016 galt dann die  Zwei-Kind-Regel, und es wird erwartet, dass 2020 die Vorgabe komplett  gestrichen wird, weil alle bisherigen Massnahmen letztlich scheiterten.  Nun hat die Führung in einigen Gegenden Kampagnen für mehr Kinder  gestartet und an die «patriotische Pflicht» der chinesischen Frauen  appelliert, der «Nation» Kinder zu schenken. «Die Geburt eines Babys ist  nicht nur eine Angelegenheit der Familie selbst, sondern auch eine Staatsaffäre», schrieb die «Volkszeitung» bereits 2018. Lokale Behörden versuchen, die Kinderflaute durch materielle Anreize, Elternzeiten und Propaganda zu beenden, und einige haben das Recht auf Abtreibungen eingeschränkt.

Die KPCh-Führung sieht Frauen weiter als Gebär- und Sorgemaschinen im  Dienst ihres Entwicklungsregimes. Unter dem aktuellen Vorsitzenden Xi  Jinping werden «konfuzianische Werte», sprich sexistische  Gesellschaftsvorstellungen, von staatlicher Seite verstärkt betont, Ehe  und Familie als zentrale Säulen der Gesellschaft herausgestrichen und  Frauen zunehmend auf eine «traditionelle» Geschlechterrolle und  Sorgearbeit in den Familien festgelegt – auch durch die offizielle  Frauenorganisation der Partei. Flankiert wird dies von einer rigiden heteronormativen Sexualmoral, wie sie in den staatlichen Medien  verbreitet wird.

In der Wirtschaft sank die Frauenerwerbsquote, die 1990 noch bei 73  Prozent lag, bis 2018 auf 60 Prozent, das Geschlecht ist, neben der  Herkunft, der wichtigste Faktor für die (in China enorm hohe)  Einkommensungleichheit. Frauen verdienten 2018 im Schnitt nur 78 Prozent  dessen, was Männer verdienen, sie werden weiter bei der Einstellung  benachteiligt, weil sie wegen Geburt oder Reproduktionsarbeit ausfallen  könnten.

Auch der patriarchale Druck in den Familien hält an: Junge Frauen  sollen mit Mitte zwanzig heiraten und Kinder bekommen, um «die  Familientradition fortzusetzen» – und das vor allem durch das Gebären  eines Sohnes. Unverheiratete Frauen über 27 werden hingegen als «übrig  gebliebene Frauen» stigmatisiert. Und schliesslich sehen sich Frauen  auch in China im Alltag häufig sexualisierter Gewalt ausgesetzt.

Formen der Auflehnung

Offener und organisierter Frauenwiderstand ist in China gefährlich.  Wo feministische Aktivistinnen ausserhalb der offiziellen staatlichen Vertretungskanäle für Fraueninteressen eintreten und sich zum Beispiel  gegen sexualisierte Gewalt wehren, reagiert der Staat mit repressiver  Härte. So wurden 2015 etwa die Mitglieder der Gruppe «Feministische  Fünf» verhaftet, nachdem sie Aktionen gegen sexuelle Nötigung von Frauen  geplant hatten. Und 2018 wurde die Onlineplattform «Nüquan Zhisheng»  (Feministische Stimmen), die sich für eine #MeToo-Kampagne starkgemacht  hatte, vom Netz genommen.

Es gibt jedoch andere Formen der Auflehnung. Etliche Frauen in China  stellen die konfuzianistische Familienordnung infrage und legen es  darauf an, ihre schlechte Lage durch «Hochheiraten in bessere Kreise» zu  ändern, schieben die Heirat hinaus, bleiben lieber unverheiratet oder  lassen sich bei Problemen schneller wieder scheiden. Die Zahl der  registrierten Heiraten sank von 13,5 Millionen 2013 auf 10,1 Millionen  2018, die Zahl der Scheidungen nahm deutlich zu, von 1,3 Millionen 2003  auf 4,5 Millionen 2018, und sie wurden meist von Frauen eingereicht.

Vor allem wollen viele junge Frauen in China nicht qua  Parteianweisung als Reproduktionsmaschinen fungieren und die verlangten  (zwei) Kinder bekommen. Die soziale und geografische Herkunft spielt  hier eine wichtige Rolle: Die (relativ wenigen) Frauen der urbanen  Mittelklasse könnten sich ein zweites Kind leisten, die (viel  zahlreicheren) migrantischen und ländlichen Frauen wegen der hohen Kosten für Wohnung, Bildung und Gesundheit nicht oder nur schwerlich.

Viele wollen ohnehin nicht mehr als ein Kind, weil sie nicht noch die Reproduktionsarbeit für ein zweites Kind übernehmen wollen, oder sie bekommen es später, weil sie sich erst um ihre Ausbildung und  Berufslaufbahn kümmern wollen. Das erklärt, warum es bisher trotz  Lockerung der Geburtenkontrolle und Kampagnen für mehr Kinder keinen  Babyboom gegeben hat. Dem chinesischen Regime werden Gebärstreik und  Frauenwiderstand noch einige Probleme bereiten.

https://www.woz.ch/2004/bevoelkerungspolitik-in-china/gebaerstreik-und-widerstand