September 25, 2019

Deutsche Linke für Xi Jinping?

Neuerscheinungen zu China – Besprechung von Bodo Zeuner und Ingeborg Wick

Deutsche Linke für Xi Jinping?

Es sind nicht nur diejenigen, die einst mit der Maobibel und Maobildern auf Demonstrationen gingen, die nicht von dem Traum von einer besseren Welt in einem sozialistischen China lassen können, es sind auch die real bedrohlichen Entwicklungen des entfesselten Kapitalismus des Westens mit den USA unter Trump, die solche Hoffnungen befeuern.

Es sind jedoch über die nicht einmal sonderlich kritischen Medien genug Fakten über China bekannt, daß das Land als Projektionsfläche für sozialistische Träume nicht taugt, sondern bestenfalls als kleiners Übel erscheint.

Jörg Kronauer und Werner Rügemer folgen in ihren jüngsten Publikationen der Logik des kleiner Übels,  was Bodo Zeuner und Ingeborg Wick zu einer kritischen Rezenson veranlaßt hat:

Im Zuge der von der Trump-Regierung vom Zaun gebrochenen  Welthandelskonfrontation USA-China gibt es bei einigen linken ­Autoren  in Deutschland eine fast schon »klassische« Tendenz, sich auf die  weltpolitisch »richtige« Seite zu stellen – und da dies auf keinen Fall  die wie eh und je imperialistische und unter Trump immer unverfroren  nationalegoistischer auftretende kapitalistische Hauptmacht USA sein  kann, scheint sich die logische Notwendigkeit zu ergeben, geopolitisch  und auch ideologisch für China Partei zu ergreifen. Zwei gerade  erschienene Bücher von Jörg Kronauer und Werner Rügemer folgen mehr oder  weniger dieser Logik. Sie erkennen Chinas Wandel zum Kapitalismus und  unterscheiden sich somit von Strömungen in der deutschen Linken, die  Chinas Entwicklung der letzten Jahrzehnte als ungebrochen sozialistisch  einstufen.
Das Muster ist wahrlich nicht neu, sondern aus der kommunistischen  Weltbewegung, ­verstärkt seit dem zwischen Maoisten und  Moskautreuen/»Realsozialisten« in den 50er Jahren aufgebrochenen  Schisma, äußerst vertraut. Westliche Linke, und auch viele Kämpfer aus  den antikolonialistischen Befreiungs­bewegungen, ordnen sich einer  führenden KP-regierten Weltmacht zu, definieren ihren  »Internationalismus« im Wesentlichen als »Solidarität« mit dieser und  leiten daraus auch mehr oder weniger strikte Konsequenzen für die  Analyse des eigenen Kapitalismus, der Klassen- und Sozialanalyse der  eigenen Gesellschaft und ihrer Organisierungs- und Bündnispolitik ab.  Abweichungen von diesem Muster formierten sich bei den – am Leninschen  Partei-Modell festhaltenden – Trotzkisten mit ihrem eigenständigen Internationalismus sowie den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen  samt den verschiedenen Dritte-Welt-Aktivitäten in den Metropolen,  spätestens seit Frantz Fanon und den Studentenrevolten der späten 60er  Jahre.
Nun kann das alte Muster seit den Zusammenbrüchen Ende der 80er Jahre  nicht mehr funktionieren: Nicht nur gibt es für die »Realsozialisten«  seit dem Ende der Sowjetunion und des Sowjetsystems keinen real  existierenden Bezugspunkt mehr, der als Weltmacht Orientierung stiften  könnte. Auch den Maoisten ist ihr Leitmodell abhanden gekommen, seit  China unter Maos Nachfolger Deng für den Weltmarkt geöffnet und zu einer  kapitalistisch funktionierenden Binnenwirtschaft umgestaltet wurde.  Zwar wird das Land weiterhin von einer sich kommunistisch nennenden  Parteidiktatur beherrscht, die alle Staatsapparate und  gesellschaftlichen »Massenorganisationen«, darunter die Gewerkschaften,  fest im Griff hat, aber es hat sich eine Klassengesellschaft mit  extremen Ungleichheiten herausgebildet, deren Profiteure, die neue  Bourgeoisie, Teil des Parteiführungsapparats sind. Obwohl dieser Apparat  selber behauptet, die Einführung von Markt und Konkurrenz, Profit und  Profitstreben als Motor und ein Wachstum des BIP bei wachsender  Ungleichheit von Vermögen und Einkommen seien nur eine Durchgangsphase  auf dem Wege zum Endziel einer klassenlosen kommunistischen  Gesellschaft, gibt es weder in China noch bei westlichen Unterstützern  nennenswerte Evidenz und Überzeugungskraft für diese Alt-Ideologie.
Auch Kronauer und Rügemer sind keine maoistischen Nostalgiker oder Blindflieger. Sie ­sehen durchaus, dass ein Wandel zum sog.  Sino-Kapitalismus stattgefunden hat. Ihre These lautet allerdings, dass  dieser Wandel wegen der damit verbundenen Veränderung der  weltpolitischen Kräfteverhältnisse (Kronauer) und auch wegen der  Herausbildung eines neuen, humaneren Kapitalismus eine »menschheitliche Bedeutung« (Rügemer) hat. Beide Autoren sind linke Publizisten, die sich  durch vielfache kritische Analysen gegen den Mainstream der  »westlichen« Betrachtungsweise, der in den deutschen Medien mit seiner  Gleichsetzung von Demokratie, Kapitalinteressen und Euro- bzw.  US-Zentrismus besonders nervt, Verdienste erworben haben. Auch ihre  China-Darstellungen enthalten wichtige Gegeninformationen sowohl gegen  »den Westen« als alternativlos idealisierende als auch gegen  geschichtsvergessene Berichte. Gleichwohl schießen sie in ihrer Bewunderung für den ­Rivalen des US-Hegemons bzw. das Modell China weit  übers Ziel hinaus und verlassen damit auch bisherige Gemeinsamkeiten  kapitalismuskritischer Analysen, etwa, dass jeder Kapitalismus, auch der  neue chinesische, Klassengegensätze hervorbringt und vertieft, dass er  eine Überwachungsgesellschaft schafft und dass Wachstum und Ökologie auf  Dauer unvereinbar sind. Auch bleibt etwa die Ver­zahnung des  chinesischen Kapitalismus mit der patriarchalen Geschlechterordnung  ausgeblendet – ganz abgesehen vom Fehlen weitergehender  emanzipatorischer Visionen jenseits der Grenzen des Sino-Kapitalismus.
Das soll im Folgenden anhand der beiden ­genannten Werke gezeigt werden.
Zunächst zu Jörg Kronauer. Sein 2019 im Konkret Verlag erschienenes  Werk »Der Rivale. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und die Gegenwehr des  Westens« ist ein in klassischem, ziemlich altbacken-politologischen  Sinne auf Außenpolitik konzentriertes Werk. Da werden US-amerikanische  »International-Relations«-Theorien zugrunde gelegt, die sich mal locker  über historische Entwicklungen und Klassenverhältnisse hinwegsetzen und  ­Gesetzmäßigkeiten in Mechanismen auf- und absteigender Welt- und  Großmächte entdecken, angefangen mit Sparta und Athen und dem allen  Ernstes in die Gegenwart gezwängten »Thukydides-Theorem«. Der  wissenschaftliche US-Regierungsberater Graham T. Allison hat seit den  2000er Jahren den Theoriemarkt mit Thesen zur Wahrscheinlichkeit eines  Krieges zwischen rapide aufsteigenden und ängstlich bedrohten  Weltmächten erobert. Nach dem Muster des – von Thukydides  beschriebenen – Peloponnesischen Kriegs (431- 404 v. Chr.) entdeckte er  15 Fälle der Weltmacht­konkurrenz, von denen elf in einen Krieg  ­gemündet waren (Kronauer, S. 46). Solche ahistorischen Vergleiche mögen  zwar ihren feuilletonistischen Reiz haben, aber wenn sie den  Entscheidungsträgern als ernsthafte Theorie verkauft werden, dann sollte  das linke Kritiker eher misstrauisch machen, wird doch der  gesellschaftliche und ökonomische Hintergrund der außenpolitischen  Aktionen von Regierungen eher aus dem Blick gerückt. (Anders als  übrigens bei Thukydides, der nie übersah, dass Sparta und Athen auf  Sklaverei beruhende Klassengesellschaften waren.)
Kronauer übernimmt zwar weitgehend die Perspektive der »Weltmächte«-Theoretiker, allerdings beschreibt er in seinem insgesamt informationsreichen Buch nicht nur die Interaktionen und Winkelzüge der diplomatischen und militärischen Apparate zwischen den »Rivalen« China  und USA bzw. Europa, sondern auch deren ökonomische Hintergründe und  Ziele, etwa Investitionen in Billiglohnländer, Außenhandelsüberschüsse  und -defizite, die chinesische Belt & Road Initiative (BRI) und  andere weltweite Infrastrukturprojekte, den Kampf um Märkte und Zölle  sowie um globale Währungshoheit.
Auffallend ist aber, dass in seinem Buch der Begriff »Globalisierung«  oder gar »global agierendes Weltkapital« eher eine Randexistenz führt.  Es sind bei ihm nicht die großen Kapitale (und deren Eigner) die, egal  ob in den klassischen kapitalistischen Zentren oder beim neuen Rivalen  China, die Fäden in der Hand haben, sondern die – meist wie zu Bismarcks  Zeiten nationalstaatlich agierenden – Regierungen. Dass die  Welt-Rivalität im Rahmen eines Weltkapitalismus und damit auch eines  globalisierten Klassenkampfes stattfindet, bleibt systematisch unterbelichtet.
Zwar liefert Kronauer fundierte Gegeninformationen zur westlichen  Anti-China-Propaganda auf fast allen Gebieten – von der  Kolonialismus-These in Afrika über die »neue Seidenstraße« mit ihren  gigantischen Verkehrs- und Infrastrukturprojekten (wozu allerdings die  2018 erschienene Untersuchung von Uwe Hoering noch Genaueres aus einer  unbefangeneren Position anbietet) bis zu den Vorwürfen zur Unterdrückung  ethnisch religiöser Minderheiten in Tibet und Xinjiang. Dabei wird  jeweils die Pekinger Perspektive ernst genommen und dem China-Bashing  insbesondere US-amerikanischer Thinktanks unter dem Motto »Death by  China« fundiert widersprochen. Insofern ist Kronauers Darstellung äußerst lesenswert.
Aber was in dieser, wie uns scheint, zu ­»bismarckianischen«  Perspektive fehlt, ist die Transnationalität des globalen Kapitalismus  und der global agierenden Kapitale, in die sich auch China eingeordnet  hat und der es sowohl sein wirtschaftliches Wachstum (einschließlich der  Besserstellung großer Teile der Bevölkerung) als auch die steigende  Ungleichheit und die immer markanteren Ausprägungen einer  Klassengesellschaft verdankt. Diese Ungleichheit wird bei Kronauer nur  beiläufig erwähnt, und dass es westliche wie chinesische Kapitale und Kapitalisten sind, die aus dem riesigen Niedriglohnangebot der  Volksrepublik exorbitante Extraprofite erzielen, bleibt ebenso am Rande  von Kronauers Analyse wie alle Fragen, die sich auf die Möglichkeiten  der Organisierung der Arbeiterklasse in China und die Möglichkeiten der  transnationalen Solidarität der Ausgebeuteten beziehen. Dies ist umso  ­bedauerlicher, als in den vergangenen Jahrzehnten zu Themenkomplexen  wie diesen zahlreiche Studien auf der Basis chinesischer Umfragen und  Analysen veröffentlicht worden sind (Asia Monitor Resource Center 1997,  Pun/Li 2008, Wick 2009, SACOM 2011 u.a.) Dass in China die immer noch  zahlenmäßig größte Arbeiterklasse der Welt ausgebeutet wird, ohne auch  nur ansatzweise über eine eigenständige, von Staat und Kapital nicht  gesteuerte gewerkschaftliche Interessenvertretung zu verfügen, bleibt  bei Kronauer ungesagt. Wer dieses Problem gar nicht erst sieht, braucht  dann auch nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass unter Xi Jinping die  Unterdrückung und Einschüchterung aller eigenständigen Gruppen von Labour Activists ebenso wie die von Reformern in der gelben Staatsgewerkschaft ACFTU noch zugenommen hat.
Dieselbe Kritik gilt, in differenzierter Form, auch für die  China-Analysen von Werner Rügemer. Anders als Kronauer bleibt Rügemer  nicht bei der Außenpolitik stehen. (Beide zeichnen übrigens vorzüglich  die Geschichte der kolonialen Auspressung und Demütigung des  chinesischen Reichs durch den Westen von den Opiumkriegen bis zu Maos  Sieg über die Kuomintang 1949 nach.) Er entwirft vielmehr das Bild eines  neuen, im Vergleich zum US-amerikanischen oder westeuropäischen  humaneren und menschheitsfreundlicheren Kapitalismus in China. Auch hier  ist, gerade aus einer linken und internationalistischen Perspektive,  deutlicher Widerspruch geboten, auch hier seien aber zunächst die Verdienste von Rügemers Analyse im Vergleich zum herrschenden  China-Diskurs der deutschen Medien hervorgehoben. Zutreffend ist, dass  die von Mao geführte und organisierte Revolution ab 1949 in der  chinesischen Gesellschaft völlig neue Kräfte freisetzte und feudale  Strukturen gründlich beseitigte.
Aber bei Rügemer erscheint der Übergang von Mao zu Deng und seiner  Einführung kapitalistischer Regeln und Strukturen als fast organisch –  in Wirklichkeit lag dazwischen die blutige soziopolitische Erschütterung  der »Kulturrevolution« sowie die Herausbildung einer  Staatsbürokratieklasse, die mit Hilfe der Parteidiktatur zu einer  einheimischen Kapitalistenklasse mutierte.
Dass die Rechtlosigkeit der chinesischen ArbeiterInnen für Deng und  seine Reformer ein Mittel der Anwerbung westlicher Inves­toren war, wird  von Rügemer übergangen − stattdessen ist es für ihn ein Beispiel für  »eine andere Entwicklungslogik«, dass die ArbeiterInnen dagegen  streikten, »auch ohne und gegen Gewerkschaften« (S. 8). Die brauchte es  anscheinend auch gar nicht, denn die KP- und Staats-Führung war weise  und verantwortungsbewusst genug, 2008 ein Arbeitsvertragsgesetz auf den  Weg zu bringen, dass die individuellen Rechte der Arbeiterinnen und  Arbeiter stärkte (wenngleich diese in der Realität, wie auch zuvor schon  existierende progressive Arbeitsgesetze, oft verletzt werden). Rügemer hat völlig recht, wenn er den Protest westlicher Investoren und  Regierungen gegen dieses Gesetz als Beweis für die Heuchelei des Westens  anprangert, der sich um Rechte von TibeterInnen und UigurInnen, aber  nicht von WanderarbeiterInnen kümmert.
Allerdings wiederholt Rügemer hier nur, was in unseren Publikationen  als Forum Arbeitswelten seit 15 Jahren kritisiert wurde, nämlich die  komplette menschenrechtliche Unglaubwürdigkeit und Kapitalhörigkeit der  westlichen Regierungen.
Problematisch wird es bei Rügemer allerdings, wenn er das tatsächlich  gesteigerte Augenmerk der chinesischen Regierung für das Bezahlen von  Mindestlöhnen, Überstunden und Sozialversicherungsbeiträgen durch die  Arbeitgeber im Vergleich zu westlichen Sozialstaaten als vorbildlich  ansieht und für stärker »sanktioniert« erklärt (S. 11). Denn immerhin  gehört zu den in entwickelten Kapitalismen erkämpften  Sozialstaatssystemen auch eine zivilgesellschaftliche Sphäre, in der u.a. unternehmens- und staatsunabhängige Gewerkschaften um Ausweitung  ihrer Organisationsrechte und Kampfchancen kämpfen, statt, wie in China,  nur auf die weise und gütige Einsicht der großen Führer zu hoffen.
Rügemer behauptet, diese Führer hätten »die Souveränität des Staates  (…) gesichert (…), weil er nicht, wie im Westen, direkt und in vielen  indirekten und versteckten, auch verheimlichten Formen dem privaten  Kapital assoziiert oder unterworfen wurde.« (Rügemer 2018, 285). Diese  »Souveränität« hat der chinesische KP-Staat allerdings damit erkauft,  dass er große Teile seiner Betriebe und seiner Dienstleistungen  privatisierte, u.a. mit der Folge von Massenentlassungen der alten  Arbeiterklasse, dass ein großer Teil der Staatsbürokraten zu  Privatkapitalisten mutierte, unter Nutzung alter parteistaatlicher  Netzwerke, dass sich schließlich 2008 die KP für KapitalistInnen und  neue Millionäre öffnete. Unter Vermeidung der Unterwerfung des Staats  unter Kapitalinteressen, die China vorteilhaft von Trumps USA oder den kapitaladministrativen Komplexen in Deutschland, Frankreich etc.  unterscheidet, stellen wir uns etwas anderes vor. Im Übrigen bestätigen  sozialstatistische Untersuchungen immer wieder, dass in China die  Arm-Reich-Schere bei Vermögen und Einkommen im globalen Vergleich  besonders weit auseinander geht.
Schlimm wird es, wenn Rügemer unter dem Titel »Kampf der systemischen Kapitalismus-Kriminalität« die Einführung eines totalen  Überwachungsstaats durch das »Sozialkreditsystem« verteidigt. Die  Außerkraftsetzung jedes Schutzes der Privatsphäre durch eine  Totalüberwachung und die Klassifizierung aller BürgerInnen durch ein  Punktesystem für ihr alltägliches Sozialverhalten wird damit begründet,  dass dies auch der Korruption von Managern und Parteifunktionären  entgegenwirken soll. Selbst wenn dem so wäre, und unter Beachtung der  Tatsache, dass auch im »liberalen« Westen ein »Überwachungskapitalismus«  von Google & Co. wuchert (Shoshana Zuboff 2018), gibt es keine  Rechtfertigung für die atemberaubende Abschnürung aller Bürgerfreiheiten  durch ein totalitäres System, das z.B. den Zugang zu Eisenbahnfahrten  oder Krediten an »gutes« und parteitreues Sozialverhalten bindet.
Eine unabhängige Gerichtsbarkeit, gerade auch zu Arbeitskonflikten,  fehlt in China nach wie vor vollständig. Rechtsstaatlichkeit,  Entfaltungsmöglichkeiten für Zivilgesellschaft und Selbstorganisation,  für Mitbestimmung und Mitwirkung der Arbeitenden von unten, in  Betrieben, Gewerkschaften und Partei/Staat, – all das wird unter Xi  Jinping mehr denn je ­unterdrückt.
Mehr noch: Seitdem auf Beschluss des Parteitags der KP 2018 Xi  Jinpings Denken Verfassungsrang genießt und seine Herrschaft keiner  zeitlichen Begrenzung unterliegt, sind die Zeichen eines offenen  Personenkults unübersehbar geworden.
Die Frage, die Rügemer (und indirekt auch Kronauer) aufwirft und die  auch von anderen Analytikern des »Sino-Kapitalismus« wie Tobias ten  Brink (2013) immer wieder erörtert wird, bedarf allerdings weiterhin und  mehr als bisher ernsthafter Beobachtung und Untersuchung: Handelt es  sich beim derzeitigen chinesischen Modell tatsächlich um eine neue  »variety of capitalism«, wie sie schon für unterschiedliche Modelle im  etablierten Westen behauptet wurde? Enthält der Sinokapitalismus  tatsächlich mehr Potential für eine staatliche Steuerung, Planung, Krisenregulierung und Gefahrenabwehr als der ungehemmte  Marktradikalismus von Blackrock und Goldman-Sachs, von Trump, Macron und  Olaf Scholz?
Wenn die Empirie zeigt, dass die Responsivität der Parteidiktatur von  Xi Jinping gegenüber sozialen Interessen der Bevölkerungsmehrheit  derzeit größer ist als beispielsweise die der Trump-Regierung und der  sie stützenden »Eliten« – welche Hoffnungen lassen sich begründen, dass  dies so bleibt und dass Zivilgesellschaft und Selbstständigkeit der  Interessenartikulation, derzeit von der Xi Jinping Parteidiktatur massiv  unterdrückt, doch wieder eine Chance haben? Oder sollen wir – mit  Rügemer – einfach nur auf den »guten Kaiser« hoffen, der klug genug ist, sozialen Protesten vorzubeugen?
Arbeiter – nicht nur innerhalb Chinas – haben nichts zu gewinnen aus  der Rivalität zwischen China und den USA, so der Hongkonger Publizist  und Aktivist Au Yoong Lu kürzlich in einem Interview zu den Protesten in  Hong­kong (Au 2019):  Xi‘s nationalistische Politik laufe auf die  Absicherung der Interessen des chinesischen Kapitals und der  Bürokratenklasse hinaus. Die Arbeiterklasse, die Umwelt, die  Lebensbedingungen der chinesischen Bevölkerung würden dabei geopfert.
Jenseits der Logik des kleineren Übels, der Kronauer und Rügemer  folgen und nach dem der gezähmte Sino-Kapitalismus im Vergleich mit dem  entfesselten US-geführten Kapitalismus des Westens vorzuziehen sei,  sollte deshalb die weitergehende Frage nach Kapitalismus, Patriarchat  und Umweltzerstörung überwindenden Visionen einer emanzipativen  Gesellschaft gestellt werden.
Literatur:
Asia Monitor Resource Center (1997): Arbeitsbedingungen in der  chinesischen Bekleidungsindustrie, in: Wick, Ingeborg, Kleiderproduktion  mit Haken und Ösen. Arbeitsbedingungen in der chinesischen und  philippinischen Bekleidungsindustrie am Beispiel von Zulieferbetrieben  deutscher Unternehmen, hg. von SÜDWIND Institut für Ökonomie und Ökumene  (texte 6), Siegburg
Au, Loong-Yu (2019): The Rebellion in Hong Kong Is Intensifying, www.jacobinmag.com/2019/08
Chan, Jenny et al. (2008): Silenced to deliver: Mobile phone manufacturing in China and the Philippines, http://www.makeitfair.org
Hoering, Uwe (2018): Der Lange Marsch 2.0. Chinas Neue Seidenstraßen als Entwicklungsmodell, VSA Hamburg
Kronauer, Jörg (2019): Der Rivale. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und die Gegenwehr des Westens, konkret Hamburg
Pun, Ngai/Li, Wanwei (2008): Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen, Assoziation A, Hamburg
Rügemer, Werner (2018): Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts.  Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure.  Papyrossa-Verlag Köln
Rügemer, Werner (2019): Die Volksrepublik China und ihre menschheitliche Bedeutung, 25. Juli 2019, http://werner-ruegemer.de
SACOM (2011): Foxconn and Apple Fail to Fulfill Promisses: Predicaments of Workers after the Suicides, http://sacom.hk.archives/837 , 6.5.2011
Brink, Tobias (2013): Chinas Kapitalismus. Entstehung, Verlauf, Paradoxien. Campus, Frankfurt/New York
Wick, Ingeborg (2009): Arbeits- und Frauenrechte im  Discountgeschäft. Aldi-Aktionswaren aus China, hg. von SÜDWIND-Institut  für Ökonomie und Ökumene, Siegburg
Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus, Frankfurt a.M./New York

* Ingeborg Wick war langjährige wissenschaftliche  Mitarbeiterin des SÜDWIND Instituts in Siegburg. Bodo Zeuner, Prof. em.  lehrte Politikwissenschaft an der FU Berlin. Beide sind aktiv im Forum  Arbeitswelten.

erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – Ausgabe 8-9/2019