January 10, 2020

Die Neue Seidenstraße

Re­nate Dillmann über das größte Infrastrukturprojekt der Menschheitsgeschichte

Die Neue Seidenstraße

Schwer zu stoppen

Die Größenordnung ist gigantisch. Inzwischen  beteiligen sich mehr als 100 Staaten an der „Belt and Road Initiative“  (BRI, auf Deutsch: „Gürtel- und Straßeninitiative“), die Chinas  Präsident Xi Jinping 2013 ausgerufen hat. Es ist das größte Infrastrukturprojekt der Menschheitsgeschichte. Geplante Kosten: 900  Milliarden bis eine Billion US-Dollar.

Die  Pläne der chinesischen Regierung werden im Westen mit einer Mischung  aus Faszination und Misstrauen zur Kenntnis genommen. Da ist die Rede  von einer „weltgeschichtlichen Kühnheit“, die einem „den Atem raubt“ (FAZ).  Der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) warnt dagegen vor  romantisierenden Marco-Polo-Reminiszenzen und charakterisiert das  Projekt als „Versuch, ein umfassendes System zur Prägung der Welt im  chinesischen Interesse zu etablieren“ (Rede auf der Münchner  Sicherheitskonferenz 2018). Aller Aufregung zum Trotz: Um was geht es hier eigentlich?

Zunächst einmal peilt die BRI einen umfassenden  Ausbau von Verkehrswegen an – das kann man als Ebene eins des Projekts  bezeichnen. Die Neue Seidenstraße soll Asien mittels mehrerer neuer  Eisenbahnlinien, zum Teil durch Hochgeschwindigkeitszüge, mit Europa  verbinden. Dazu gehören der Bau neuer Umschlagplätze wie Khorgos an der  kasachisch-chinesischen Grenze sowie der Ausbau alter Häfen. Die  „maritime“ Seidenstraße wiederum soll Transportwege in Afrika sowie  Mittel- und Südamerika entwickeln: Straßen, Autobahnen, Pipelines. Um  das zu finanzieren, hat die chinesische Regierung 2013 die Asiatische  Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) gegründet, die Kreditgeber aus  aller Welt einlädt, unter ihrer Führung daran zu verdienen – eine  Aufforderung, der zum großen Ärger der USA alle westlichen Länder bis  auf Japan gefolgt sind.

Würden  Marktliebhaber, Globalisierungsbefürworter und Austeritätskritiker ihren  eigenen Behauptungen glauben, müssten sie die chinesischen Pläne eigentlich lauthals begrüßen. Schließlich wird die Neue Seidenstraße die  Märkte Asiens, Europas und Afrikas enger zusammenschließen. Und allein  der Bau der geplanten Autobahnen, Eisenbahnlinien, Häfen und Pipelines  wird vielen Unternehmen und Ländern Geschäftsmöglichkeiten bieten  („Arbeitsplätze“ also, wie in solchen Fällen normalerweise verdolmetscht  wird) – selbst wenn China seinen Firmen und Beschäftigten einen Teil  der Projekte sichert.

Etliche deutsche  Unternehmen sehen die Sache tatsächlich pragmatisch vom Standpunkt der  Chancen aus und versuchen, sich an den Zug anzuhängen. So etwa  Siemens-Chef Joe Kaeser, der ein eigenes Seidenstraßenbüro in Peking  eröffnet hat. Ansonsten aber ist klar: Die schönen und einladenden Worte  des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, „zum Nutzen aller  zusammenzuarbeiten“, können hierzulande niemanden darüber  hinwegtäuschen, dass es um chinesische Interessen geht. Ökonomisch,  geostrategisch und politisch ist das ganze schöne Projekt für „uns“  (soll heißen: Deutschland) eine zweischneidige Angelegenheit, weil es – Entwicklung hin, Geschäfte her – unter der „falschen“ nationalen  Federführung steht.

Jenseits der Heuchelei

Aus  der Sicht des eifersüchtigen Konkurrenten erkennen die hiesigen  Experten für Wirtschaft am „Fall China“ also problemlos, was bei den  entsprechenden deutschen Unternehmungen und ihrer ideologischen  Aufbereitung niemand wahrhaben, geschweige denn aussprechen will.  Erstens bringt die kapitalistische Konkurrenz auf den Weltmärkten nicht  einfach allen Beteiligten Vorteile. So ist zu vermuten, dass die Neue  Seidenstraße vor allem chinesischem Kapital Konkurrenzvorteile durch  sinkende Transportkosten verschaffen wird.

Zweitens  nutzen die starken Wirtschaftsnationen sämtliche Momente ihrer  Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Staaten – vom Kredit über die  Förderung der Infrastruktur bis hin zu den tatsächlichen Waren- und  Kapitalströmen – dafür, Abhängigkeiten zu stiften und im Idealfall die  eigenen Interessen in deren Staatsräson zu verankern. Das, was in der  marktwirtschaftlichen Konkurrenz für jede Nation gilt, die „oben“  mitspielt, wird den Chinesen allerdings angekreidet, als sei es ein  Regelverstoß.

Deshalb machen „wir“ uns nun  lauthals Sorgen darüber, dass die chinesische Politik kleinere Nationen  in eine „Schuldenfalle“ stürzt – eine Behauptung übrigens, die von der  amerikanischen „China Africa Research Initiative“ untersucht und  ziemlich umfassend widerlegt wurde. Erinnert sich in diesem Zusammenhang  eigentlich noch jemand daran, wie die „hoch verschuldeten armen Länder“  Afrikas entstanden sind? Wer hatte Griechenland so viel Geld geliehen?  Und wer hat die dann entstandene Krisenlage ausgenutzt, um der  griechischen Regierung in ihren Haushalt hineinzuregieren und ihr eine  rücksichtslose Behandlung der Bevölkerung abzuverlangen?

Um  was es jenseits dieser Heuchelei geht, liegt auf der Hand. Mit seiner  BRI will China die Handelsströme sichern, auf die es als inzwischen  kapitalistische, an erfolgreichem Wachstum orientierte Macht angewiesen  ist: die Export- und Importwege seiner Waren und Rohstoffe. Das ist,  analytisch gesehen, Ebene zwei des Seidenstraßenprojekts, und diese ist  strategischer Natur. Sie zielt darauf, sich gegenüber absehbaren  Störversuchen, insbesondere der USA, ihrer Seestreitkraft und ihrer  engen Alliierten, unangreifbarer zu machen (Südostasiatisches Meer,  Straße von Malakka, Suezkanal). Daher rührt der Ausbau der vielen  landgestützten Verbindungen zwischen Asien und Europa, aber auch das  Großprojekt eines zweiten Kanals in Mittelamerika, um dem  US-beherrschten Panamakanal auszuweichen.

Zudem  legt China im eigenen Interesse – ökonomisch, um sein Geschäft  voranzubringen, und politisch als potenzielle Unterstützung in der  bevorstehenden Auseinandersetzung mit den USA – Wert auf  freundschaftliche, stabile Beziehungen zu möglichst vielen anderen  Nationen. Die will es, als aufsteigende Großmacht, erst einmal erwerben  und absichern. Deshalb gibt es in China tatsächlich ein Moment positiver  Bezugnahme auf die Interessen der Konkurrenz. China baut in Afrika  Staudämme, Straßen und Eisenbahnen zu vorteilhaften Konditionen; es  vergibt Kredite günstiger als die Weltbank und andere Anbieter; es  bietet den durch die ökonomische Konkurrenz ruinierten Staaten Europas  Alternativen zum EU-Spardiktat.

Keine Frage, dass auch chinesische Politik da,  wo es ihr im eigenen Interesse nötig erscheint, zu mehr oder weniger  heftigen Erpressungen greift und dafür die Mittel einsetzt, die sie sich  in den vergangenen Jahren erworben hat: die ökonomischen Abhängigkeiten  anderer Staaten, die chinesische Waren und Kredite brauchen oder an  China verkaufen müssen. Keine Frage auch, dass es deshalb  Unzufriedenheit mit den geschäftlichen Konditionen oder dem „arroganten“  Auftreten der Chinesen gibt. Das beschenkt die Gegenseite mit Material,  mit dem sich China für seinen „neuen Imperialismus“ anklagen lässt.

Allerdings:  Das ist das übliche Geschäftsgebaren in einer Welt konkurrierender  Kapitale und Staaten. Und es ist das, was ein Staat braucht, wenn er auf  dem Weltmarkt erfolgreich und Weltmacht sein will. Die USA machen es  schließlich seit vielen Jahren vor. Auch die EU und insbesondere ihre  ökonomische Führungsmacht Deutschland verfahren nach demselben Rezept,  haben Ost- und Südeuropa sich untergeordnet und können es überhaupt  nicht leiden, wenn Peking diesen Staaten auch nur bessere  Verhandlungsmöglichkeiten gegen die „alternativlosen“ Ansagen aus  Brüssel und Berlin beschert.

Erneut gilt  hier, dass die Beschwerden über ein China, das nicht anders handelt als  die etablierten Macher der geltenden Weltordnung, weniger die  Besonderheit des chinesischen Aufstiegsprojekts charakterisieren als die  Anspruchshaltung von USA und EU. Sie wollen die Nutznießer der globalen  Konkurrenz sein und verlangen politische Gefolgschaft von den Nationen,  die sie sich in ihren ökonomischen und politischen Bündnissen  zugeordnet haben.

Sonderfall der Geschichte

China  will das momentan geltende Resultat dieser Weltordnung, die die USA  nach 1945 zu ihrem Vorteil eingerichtet und nach 1990 als alleinige  Weltmacht vollendet haben, zu seinen Gunsten verändern. Mit seiner Neuen  Seidenstraße will es die Bedingungen des weltweiten Geschäfts für die  kommenden Jahrzehnte zu seinem Nutzen festklopfen; so will das frühere  „Reich der Mitte“ endlich die „ihm gebührende“ Weltmachtstellung  wiedergewinnen. Das ist Ebene drei des Projekts. Dieses Verlangen ist  eine ernsthafte Kampfansage an die USA als Hegemon der bisherigen  Weltordnung – auch wenn es aus der Position der schwächeren Nation  heraus bescheiden in den Antrag auf eine „multilaterale Welt“ gekleidet  wird.

Chinas kommunistische Staatspartei  sorgt im Innern mit all ihrer Macht und dem bereits verdienten Geld  dafür, möglichst schnell und intensiv alle Landesteile zu erschließen  und Land und Volk zu einer ständig größer werdenden kapitalistischen  „Wachstumsmaschinerie“ zu machen.

Sie weiß,  dass der Aufstieg des Landes schwer zu stoppen ist, wenn dieses Programm im Innern so ungestört weiterläuft wie die mit der BRI begonnene  Expansion. Und dass das auch den USA bewusst ist, die den lästigen  Rivalen stoppen wollen und mit Handelskriegen, geostrategischer  Einkreisung und der Befeuerung islamistischer oder tibetischer  Separationsbestrebungen an seinen „empfindlichen“ Punkten ansetzen:  seinen Weltmarkterfolgen und seiner staatlichen Hoheit.

Deshalb  – und nicht, weil das neue „Imperium“ demnächst der Welt seinen autoritären Politik- und Lebensstil aufzwingen will, wie die westliche Feinddarstellung lautet – wächst mit Chinas wachsenden weltweiten Wirtschaftsinteressen auch sein Bedarf an militärischen Mitteln der  „nationalen Sicherheit“.

China ist also ein  einzigartiger (und darin erklärungsbedürftiger) Sonderfall der Weltgeschichte. Es hat geschafft, was die großen westlichen Staaten den „Entwicklungsländern“ immer so generös als Resultat ihres Einstiegs in  den Weltmarkt verheißen hatten: sich zu entwickeln, reich und mächtig zu  werden und ihnen auf Augenhöhe entgegenzutreten. An den Reaktionen der  „Etablierten“ ist abzulesen: Ein solches Resultat ist so nicht  erwünscht. Der Kampf der USA gegen diesen Rivalen hat längst begonnen.  Die Europäische Union stellt sich gerade neu auf und hofft, in der  Gegnerschaft zu China eine imperiale Einigkeit in ihrem an inneren  Widersprüchen leidenden Projekt zu formieren.

(Obiger Bericht wurde im Freitag veröffentlicht. Die Autorin hat ihn zur Veröffentlichung in diesem Blog freigegeben.)

Renate Dillmann ist Journalistin und Dozentin an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Ihr Buch China.  Ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, einen sozialistischen  Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt einer kapitalistischen  Gesellschaft und den Aufstieg einer neuen Großmacht ist als eBook erhältlich und erscheint demnächst im Verlag Buchmacherei in ergänzter Neuauflage