March 7, 2020

Die Zukunft der Wanderarbeiter in China

Ein Blick auf die neue Generation der Arbeitsmigratnen

Die Zukunft der Wanderarbeiter in China

Das Phänomen der "Wanderarbeiter" in China erscheint in den westlichen Medien als recht exotisch. Die Entwicklungen auf dem chinesischen Arbeitsmarkt haben jedoch mehr Parallelen mit den Verhältnissen bei uns, als wir ahnen.

Xu Hui forscht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu Arbeitsmarkt und Automatisierung und arbeitet oft mit dem Forum Arbeitswelten zusammen. Über seine jüngste Feldstudie in China hat er einen Bericht für das Magazin ECHOWALL geschrieben, von dem wir Auszüge übersetzt haben, um sie hier zu veröffentlichen:

Echowall: Chinesisches Geflüster / Chinas Jugend

Hinter der Geschichte der raschen wirtschaftlichen Entwicklung Chinas steht die wachsende Unbeständigkeit des Lebens der jungen Arbeitsmigranten des Landes, die zunehmend die Fabrikarbeit zugunsten kurzfristiger, informeller Jobs aufgeben.

Von Xu Hui

Es ist unmöglich, China und seine Wirtschaft, Gesellschaft und Politik heute zu verstehen, wenn man die riesige und komplizierte Frage der Wanderarbeiter des Landes nicht im Blick hat. Trotz der immensen Größe dieser Bevölkerung und ihres wichtigen Beitrags zur wirtschaftlichen Entwicklung, ist sie ein insgesamt weniger sichtbarer Teil der globalen Geschichte des Aufstiegs Chinas.

In diesem Artikel werde ich auf der Grundlage meiner Feldforschung den aktuellen Zustand der chinesischen Wanderbevölkerung - insbesondere der neuen Generation von Migranten - untersuchen. Wie sieht ihr Leben aus? Und was sagt uns das über Chinas zukünftige Herausforderungen?

Die heutige Migrantenbevölkerung ist überwiegend jung, 51,5 Prozent sind nach 1980 geboren. Sie sind besser ausgebildet und wenden sich zunehmend von den trostlosen und unerfüllenmden Arbeitsplätzen in der Produktion ab, in der Hoffnung auf mehr Autonomie und Flexibilität.

Chinas boomende Plattformwirtschaft ist zu einem wichtigen Kanal für die Absorbierung von Arbeitsmigranten geworden. Durch die Arbeit nach dem Algorithmus der Plattform, der auf eine Maximierung der Effizienz abzielt, werden die Fahrer jedoch im Wesentlichen ihrer Autonomie beraubt und verpflichten sich zu einer neuen Form der Ausbeutung.

Ein weiteres Phänomen unter jungen Wanderarbeitern ist die so genannte "Tageslohnarbeit", die sich auf kurzfristige Arbeiten verschiedener Art bezieht, die außerhalb eines Arbeitsvertrags ausgeführt werden und für die der Lohn auf Tages- oder Stundenbasis berechnet wird. Da der nächste Lohntag nie garantiert ist, birgt diese höchst instabile Arbeitssituation Risiken für die Arbeiter und die soziale Stabilität.

Die Ursprünge der "Floating Population"

In der frühen Phase der Reform und Öffnung von Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre führten ländliche Landreformen und andere Veränderungen zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Arbeitsmoral auf dem Lande, und diese Faktoren führten zu einem Überschuss an landwirtschaftlichen Arbeitskräften. In den Küstengebieten des Südostens des Landes führte die Einrichtung der ersten Sonderwirtschaftszonen (SEZ), die sich auf arbeitsintensive Unternehmen konzentrierten, zu einer wachsenden Nachfrage nach billigen Arbeitskräften.

Vor diesem Hintergrund begannen zahlreiche Chinesen vom Land in den Städten zu arbeiten. Dies geschah zunächst, als lokale landwirtschaftliche Arbeitskräfte in der Nähe der Produktionszentren in Guangdong, Jiangsu, Zhejiang und anderen Entwicklungsprovinzen in die Städte zogen - und dabei ihr Land, wie wir sagen, aber nicht ihre Heimatstädte verließen. Als sich der Prozess der Industrialisierung und Verstädterung ausweitete, begann jedoch ein Arbeitskräfteüberschuss aus den ländlichen Gebieten im Landesinneren Chinas in die Küstenstädte im Osten zu fließen. In diesem Fall verließen die Bauern nicht nur ihr Land, sondern auch ihre Heimatstädte. Ein Reim, der in den 1980er Jahren entstand, beschreibt das Phänomen klar und deutlich: "Aus dem Osten, Westen, Süden und Norden sind sie losgezogen; alle für Lohnarbeit in Guangdong."

Aber wenn wir auf Englisch (oder Deutsch) über Chinas "Wanderarbeiter" sprechen, dann verbirgt sich hinter diesem Begriff in Wirklichkeit ein äußerst komplexer Satz sozialer und politischer Faktoren, die für das Verständnis der Mechanismen von Chinas Wirtschaft und Gesellschaft unerlässlich sind. Der Begriff im Chinesischen, nongmingong, wird wörtlich mit "Landarbeiter" oder "Bauer" übersetzt und bezieht sich auf die grundsätzlich ländliche oder landwirtschaftliche Natur dieser Menschen, wie sie durch ihren Status als registrierte Einwohner eines Wohngebiets gegeben ist. Diejenigen, die auf dem Land geboren sind oder deren Eltern vom Land kommen (je nach ihrer Registrierung), werden innerhalb dieses Systems als "ländlich" bezeichnet und behalten diese Zuordnung zu ihrer ländlichen Heimatstadt bei - auch wenn sie wenig Verbindung zum Land haben und in nicht-landwirtschaftlichen Industrien arbeiten. Chinesische "Wanderarbeiter" sind also diejenigen, die hauptsächlich in nicht-landwirtschaftlichen Industrien außerhalb ihrer registrierten ländlichen Heimatstädte tätig sind, mit einem Lohneinkommen als Haupteinkommensquelle.

Nach einem Bericht des chinesischen Statistikamtes vom April 2019 ("Statistische Erhebung über Wanderarbeiter im Jahr 2018") betrug die Gesamtzahl der Wanderarbeiter in China 288,36 Millionen - etwa 56 Prozent der Gesamtbevölkerung der Europäischen Union. 172,66 Millionen Mitglieder dieser Gesamtbevölkerung mit Migrationshintergrund waren der Erhebung zufolge Wanderarbeiter, die außerhalb ihrer Heimatprovinzen leben und arbeiten.

Das verarbeitende Gewerbe und das Baugewerbe waren mit 27,9 Prozent bzw. 18,6 Prozent die Hauptbeschäftigungsquellen für Wanderarbeitnehmer, während 12,2 Prozent in den Bereichen Wohnungsdienste, Reparaturen und andere Dienstleistungen und 6,7 Prozent im Lebensmittel- und Getränkesektor beschäftigt waren.

Eckdaten:

Im Jahr 2019 belief sich die Gesamtzahl der Arbeitsmigranten in China auf 288,36 Millionen. Obwohl sie sowohl in der städtischen als auch in der ländlichen Wirtschaftsentwicklung eine entscheidende Rolle gespielt haben, ist diese Bevölkerungsgruppe weiterhin mit systemischer Diskriminierung konfrontiert, die ihnen den Zugang zu grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen und Arbeitsschutz verwehrt und ihr Leben in der Stadt prekär macht.

Die heutige Migrantengruppe ist überwiegend jung, 51,5 Prozent sind nach 1980 geboren. Sie sind besser ausgebildet und wenden sich zunehmend von den trostlosen und unbelohnten Arbeitsplätzen in der Produktion ab, in der Hoffnung auf mehr Autonomie und Flexibilität.

Chinas boomende Plattformwirtschaft ist zu einem wichtigen Kanal für die Aufnahme von Wanderarbeitern geworden. Durch die Arbeit nach dem Algorithmus der Plattform, der auf eine Maximierung der Produktivität abzielt, werden die Fahrer jedoch im Wesentlichen ihrer Autonomie beraubt und verpflichten sich zu einer neuen Form der Ausbeutung.

Ein weiteres Phänomen unter jungen Wanderarbeitern ist die so genannte "Tageslohnarbeit", die sich auf kurzfristige Arbeiten verschiedener Art bezieht, die außerhalb eines Arbeitsvertrags ausgeführt werden und für die der Lohn auf Tages- oder Stundenbasis berechnet wird. Da der nächste Lohntag nie garantiert ist, birgt diese höchst instabile Arbeitssituation Risiken für die Arbeiter und die soziale Stabilität.

Da sich die prekäre Beschäftigung in China ausgeweitet hat, sind atypische Arbeitsbeziehungen zum neuen Standard geworden. Die Natur der kurzfristigen, befristeten Arbeit hat zur Atomisierung der neuen Generation von Wanderarbeitern geführt, von denen jeder in seinem eigenen Zustand der Prekarität gefangen ist. Während dies vordergründig als eine Frage der freien Wahl erscheinen mag, verwischt die irreguläre Arbeitszeit die Grenze zwischen Arbeit und Leben und erhöht die tatsächliche Arbeitsbelastung.

Während China behauptet, ein sozialistisches Land zu sein, wurde sein Wirtschaftswachstum in den letzten 40 Jahren auf der Grundlage von dem festgelegt, was der Ökonom Qin Hui als "Vorteil der geringen Menschenrechte" bezeichnet hat. Kernstück ist die extreme Ausbeutung der migrantischen Arbeitskräfte. In Fällen, in denen Arbeitsmigranten versuchen, sich durch den Kampf um den Schutz ihrer Rechte zu widersetzen, geht die Regierung schnell hart gegen sie vor. Und die Wanderarbeiter sind nicht nur durch die Fließbandtechnologie atomisiert und isoliert, sondern auch durch das politische System des Landes, das ihnen das Recht auf Vereinigungsfreiheit, auf die Einleitung von Streiks oder auf unabhängige Tarifverhandlungen über Lohn- und Sicherheitsfragen verweigert (die einzigen anerkannten Gewerkschaften sind diejenigen, die der offiziellen Allchinesischen Gewerkschaftsföderation der Kommunistischen Partei angeschlossen sind).

Trotz dieser Entwicklungen kommt es in China immer noch regelmäßig zu Streiks und Arbeitskampfmaßnahmen, die vielfach von der neuen Generation von Wanderarbeitern angeführt werden - ein Zeichen dafür, dass sie noch immer in erheblichem Maße in der Lage sind, für ihre Rechte und Interessen zu kämpfen und dabei Zugeständnisse von Unternehmen und der Regierung zu erzwingen.

Die äußerst ungewisse Arbeitssituation in China ist eine potenzielle Quelle sozialer oder sogar politischer Instabilität, die ernsthaftere Aufmerksamkeit verdient.

Aus: Echo Wall vom 11.2.2020

Anmerkung:

"Ich will nicht werden, was mein Alter ist", sangen Ton Steine Scherben in den 70ern. Die Kinder der Arbeiter in Deutschland strebten kein Leben in der Fabrik an. Ein Leben zwischen Arbeits- oder Sozialamt und gelegentlichen befristeten Jobs etablierte sich als Lebensmodell des "Jobbers". Dann kamen Alternativbetriebe auf, die sich scheinbar vom strengen Regiment der Fabrik unterschieden. Heute sind es Start-ups, die eine andere Arbeitskultur versprechen. Letztendlich waren jedoch die Jugendlichen aus der Alternativ-, Künstler- und Polititszene eine unfreiwillige Avantgarde im Unterwandern erkämpfter Errungenschaften im Arbeitsrecht. Man kannte weder einen 8-Stundentag noch Überstundenzuschläge und wenn es sein muß, arbeitet man auch das Wochenende durch. Heutzutage ist ein Großteil der Menschen, die ins Arbeitsleben starten, auf einem vollständig deregulierten Arbeitsmarkt angekommen. Während die Jobber der 70er und 80er zwischen ihren Jobs noch viel freie Zeit genießen konnten, reicht die prekäre Arbeit der heutigen Zeit meist gerade zum Überleben und die Arbeitszeit übertrifft die ihrer Eltern. Deshalb investieren auch große Konzerne in das Konzept des Start-ups. Flexibler kann man Beschäftigung kaum organisieren.

Mögen Vorgeschichte und die kulturellen Bedingungen in China anders sein, so ist die heutige Situation dort, der in Deutschland nicht unähnlich. Jungen Chinesen erscheint die Fabrik immer unattraktiver. Sie sind zunehmend bereit, auf Sicherheiten und eine bessere Bezahlung zu verzichten, um das Gefühl einer freieren individuellen Lebensgestaltung zu wahren, mit informellen Jobs, oft in der Plattformwirschaft. Arbeitsaufträge kommen per App. Die Uberisierung des Arbeitsmarktes ist ein weltweites Phänomen.

(von Karsten Weber)