January 22, 2023

Eine Welle der Revolten - Einschätzungen Teil 2

Die Proteste haben eine neue Qualität

Eine Welle der Revolten - Einschätzungen Teil 2

Das Ende der ZeroCovid Politik wurde erzwungen von der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung und den aus dem Ruder laufenden wirtschaftlichen Folgen. Es scheint, die Chinesische Regierung steht dieser Situation unvorbereitet gegenüber. Zum Antritt der 3. Amtszeit betrieb man einen großen Aufwand, um öffentlichen Widerspruch und Proteste zu unterbinden. Die Reaktionen auf dann folgenden Proteste und die explodierenden Infektionszahlen erscheinen alles andere als planvoll. Es wurde aufgehört, Zahlen zur Entwicklung des Infektionsgeschehens zu veröffentlichen und auch Bilder von Friedhöfen dürfen nicht mehr verbreitet werden. Völlig überfüllte Notaufnahmen von Kliniken und lange Schlangen vor Beerdigungsinstituten lassen eine schlimme Situation erahnen. Es wird befürchtet, auf dem Land könnte ein massives Problem entstehen, wenn die "zurückgelassenen Kinder", die von in den Städten arbeitenden Arbeitsmigranten bei den Großeltern gelassen wurden, nun ihre Großeltern verlieren.

In den drei Jahren der ZeroCovid Politik, mit ihren zahlreichen rigorosen Lockdowns, hat sich eine Menge aufgestaut. Bei den jungen Leuten gibt es ein unbändiges Bedürfnis nach Geselligkeit und Feiern. Als die Behörden den Gebrauch von Feuerwerkskörpern verboten, gab es dagegen einzelne Proteste. Dann nahmen sich die Jugendlichen selbst die Straße, vertrieben die Polizei und feierten bis zu 6 Tage lang den Jahreswechsel mit teilweise infernalischem Feuerwerk.

Das Magazin Matters sieht in den Weißen Papier Protesten drei unterschiedliche Bewegungen: 1. den Kampf der Arbeiterklasse, 2. den Protest der Stadtbewohner, der Intellektuellen/Universitätsstudenten und 3. die Solidaritätsbewegung einer neuen Generation der chinesischen Diaspora.
Der Ausbruch militanter Proteste von Abeitern bei Foxconn wird als Zündfunken und Treibstoff der dann folgenden Kämpfe gesehen. Die mutige Konfrontation mit dem Management und der Bereitschaftspolizei  fand in einer explosionsartigen Verbreitung in Bildern und Filmclips ihre Verbreitung. "(...) diese Arbeiteraktion gegen gewaltsame Kontrolle und Kapitalausbeutung stieß bei fast der gesamten Bevölkerung auf Resonanz - Korruption, Chaos und unmenschliche Bedingungen sind kollektive Erfahrungen."
Die neue Generation der chinesischen Diaspora in Übersee, vor allem internationale Studenten, hat in den letzten Jahren eine rasche politische Radikalisierung erfahren; die Verfassungsänderung im Jahr 2018 löste eine kleine Campus-Plakatkampagne #NotMyPresident an ausländischen Universitäten aus, und die Proteste von ["Brückenmann"] Peng Lifa (...) am Vorabend des 20. nationalen Kongresses in diesem Jahr inspirierten eine neue Campus-Plakatkampagne. (...) der Ausbruch der Weißes-Papier-Bewegung in großen Städten in ganz China, moblisierte die neue Generation der chinesischen Dissidenten in großem Umfang direkt (...). Ausmaß und Form dieser Solidaritätsaktion in Übersee sind in den letzten dreißig Jahren (nach 1989) völlig beispiellos.

Matters 3.1.2023

China Dissent Monitor weist auf eine große Anzahl an Sozialprotesten und Arbeitskonflikten hin, wobei besonders erwähnenswert ist, daß mehr als 40% im Zusammenhang mit Wohnraum stehen.

1.013 Fälle von Dissens zwischen 1. Juni und 1. Dezember

➣ 43 % der Proteste drehen sich um Streitigkeiten um Wohnraum
➣ 162 Ereignisse im Zusammenhang mit der Pandemiepolitik (74 während der Protestbewegung im November)
➣ Beweise für Repression in 257 Fällen (25%)

Der Politologe Manfred Elfstrom sieht den Vorlauf der Protestwelle nicht in den Kämpfen der letzten Monate, sondern Jahrzehnte:

"Doch dieser Ausbruch ist die jüngste Variante eines Konflikts, der China schon seit drei Jahrzehnten verfolgt. (...)
Als in den Tagen nach dem Ürümqi-Brand in ganz China Proteste ausbrachen, erregten sie zu Recht die Aufmerksamkeit der Welt. Die Wut auf den Straßen war mit Händen zu greifen. Und der Mut der Demonstranten zog sofort Vergleiche mit der Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 nach sich.
Die Aufmerksamkeit und die Vergleiche waren nicht unangebracht. Dass es sich um die bedeutendsten Demonstrationen seit Tiananmen handelt, macht sie jedoch nicht zu Tiananmen-ähnlichen Demonstrationen. Die Bedeutung der Proteste sollte uns auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die aktuellen Unruhen auf anderen Ereignissen aufbauen, die zwischen den beiden Massenerhebungen stattgefunden haben. (...)
China war in den letzten drei Jahrzehnten der staatlich gelenkten kapitalistischen Entwicklung ein außergewöhnlich streitfreudiges Land. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren marschierten Tausende von Beschäftigten staatlicher Unternehmen im Rostgürtel gegen Entlassungen, die durch die Verkleinerung oder Teilprivatisierung ihrer Fabriken ausgelöst wurden. Landwirte sind häufig mit lokalen Beamten aneinandergeraten wegen willkürlicher Gebühren, Landenteignungen, Abwässern aus Chemiefabriken und (bis vor kurzem) wegen Chinas strenger Familienplanungspolitik, die außerhalb der Städte härter umgesetzt wurde. Landflüchtige haben in den Boomtowns an der Küste Ausbeuterbetriebe in einem Ausmaß herausgefordert, das die Streikraten in Europa und Nordamerika wie ein bescheidenes Rinnsal aussehen lässt. Hauseigentümer haben sich gegen Zwangsabrisse gewehrt. Frauen haben sich gegen häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe zur Wehr gesetzt. (...)
Doch im Großen und Ganzen vermied der Dissens in China eine direkte Kritik an der Kommunistischen Partei und ihrer obersten Führung. (...) Dies hat sich nun geändert. (...)
Ein besonders bewegendes Element dieser Demonstrationen war die Solidarität der Han-Demonstranten mit den Uiguren. In Shanghai versammelten sich die Demonstranten zunächst auf der Wulumuqi (Ürümqi)-Straße in der Stadt. Die Demonstranten sprachen dort und anderswo in China davon, dass Han und Uiguren alle Landsleute und "eine Familie" seien. Einige skandierten "unlock Ürümqi" (eine Phrase, die ähnlich wie "liberate Ürümqi" klang).
Im Ausland war die Sprache noch pointierter, (...) um das massive System von Internierungslagern anzuprangern. (...)
Das soll nicht heißen, dass wir uns in einer revolutionären Phase befinden. Die Proteste verlangsamen sich. Die Sicherheitskräfte haben bereits damit begonnen, (...) Rädelsführer aufzuspüren und festzunehmen. (...)

Jacobin 13.12. 2022

Nach der Revolte der Arbeiter:innen bei Foxconn folgte eine Protestwelle in den Städten, die sich gegen Überwachung, Zensur und Bevormundung wandte und Freiheiten und demokratische Mitsprache forderte. Es wurde im Westen jedoch wenig darüber berichtet, daß 2023 eine neue Welle von Arbeiterprotesten über das Land rollte.

Die Internationale bei einem Protest:

Infos über die Verbreitung von Informationen der Protestbewegung:

Wie "Lehrer Li" auf Twitter zur zentralen Drehscheibe für Informationen über die Proteste in China wurde

In seinen eigenen Worten erzählt der chinesische Maler, wie er während einer Woche intensiver Proteste gegen Chinas ZeroCovid-Politik zu einer Ein-Personen-Nachrichtenredaktion wurde.
Während die Proteste gegen die rigiden Maßnahmen zur Covid19-Kontrolle der in China in der vergangenen Woche die sozialen Medien überfluteten, hat sich ein Twitter-Account als zentrale Informationsquelle erwiesen: @李老师不是你老师 ("Teacher Li Is Not Your Teacher"). (...)
Hinter dem Konto steht nur ein Mann: Li, ein in Italien lebender chinesischer Maler, der angesichts der Sicherheitsrisiken nur mit seinem Nachnamen genannt werden möchte. Er hat nie eine journalistische Ausbildung genossen, aber das hat ihn nicht davon abgehalten, eine Ein-Mann-Redaktion zu betreiben. (...) Obwohl er schon lange online über soziale Themen in China spricht, erhielt er irgendwann im Jahr 2021 auf Weibo, dem chinesischen Pendant zu Twitter (das in China verboten ist), private Nachrichten von Menschen, die ihn baten, in ihrem Namen zu posten, da sie befürchteten, ihre eigene Identität preiszugeben.
Seine Beiträge wurden von der chinesischen Zensur entfernt, und im Februar wurde sein Konto gesperrt. In den folgenden zwei Monaten wurden weitere 49 seiner Konten gesperrt. Aber seine Anhänger erlaubten ihm großzügig, sich ihre Telefonnummern zu leihen, um sich weiterhin für weitere Konten zu registrieren. Im April 2022, als er keinen Zugang mehr zu neuen Weibo-Konten hatte, wechselte er schließlich zu Twitter. Dort gewann er schnell eine große Fangemeinde aus internationalen Konten und Chinesen, die über VPN auf die gesperrte Social-Media-Plattform zugriffen. (...)
Sein Twitter-Account ist jetzt der Dreh- und Angelpunkt für Informationen über die Proteste und hat allein in der vergangenen turbulenten Woche über 600.000 Follower gewonnen.
Die anspruchsvolle Arbeit hat jedoch ihren Tribut gefordert. Innerhalb Chinas wurde die Erwähnung seines Kontonamens auf sozialen Medienplattformen, einschließlich Weibo und WeChat, zensiert. Er erhält Todesdrohungen und Beleidigungen(...). Und die Polizei hat seine Familie in China besucht.
Doch in die Angst mischt sich auch ein Gefühl der Befreiung, da er nun endlich den Namen Xi Jinping in den sozialen Medien ohne Angst aussprechen kann. Li scherzte, dass sein Twitter-Avatar, der ein Doodle einer Katze ist, zur berühmtesten und gefährlichsten Katze seiner Zeit geworden ist. (...) Die Leute kontaktierten mich über private Nachrichten, schickten mir, was gerade passiert, oder ihre eigenen Geschichten und hofften, dass ich diese für sie posten könnte. (...)  
In meinen privaten Nachrichten gibt es immer wieder Leute, die wollen, dass ich einen Aufruf zum Handeln veröffentliche, oder Leute, die wollen, dass ich die Slogans zusammenfasse und veröffentliche, oder dass ich erkläre, was die Leute tun sollen, aber diese Grenze habe ich nicht überschritten. (...) Ich kann nur die Berichterstattung übernehmen. (...)

technologyreview 2.12.2022