December 27, 2021

Foodpanda-Streik: Nachbarschaftsgruppen, Übersetzer, YouTuber - wie organisieren sich Arbeiter in der Zeit nach den Gewerkschaften?

Lausan: Der Streik der Fahrer von Essenslieferdiensten nach den Nationalen Sicherheitsgesetzen (NSL) ist ermutigend, aber seine breitere Wirkung bleibt abzuwarten

Foodpanda-Streik: Nachbarschaftsgruppen, Übersetzer, YouTuber - wie organisieren sich Arbeiter in der Zeit nach den Gewerkschaften?
Anmerkung der Lausan Redaktion: Am 13. November streikten die Fahrer des Essenslieferdienstes Foodpanda in Hongkong gegen Kürzungen der Liefergebühren, rassistische und ausbeuterische Arbeitsbedingungen, willkürliche und ungenaue Entfernungsberechnungen durch den Foodpanda-Algorithmus und die Untätigkeit der Geschäftsführung gegenüber früheren Forderungen nach Verbesserungen. Am 18. November führte die zweite Verhandlungsrunde zwischen den Streikführern und dem Foodpanda-Management zu einer Einigung, bei der einige der Streikforderungen erfüllt wurden.
Nach der Verabschiedung des Nationalen Sicherheitsgesetzes in Hongkong haben sich zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen und Gewerkschaften vorsorglich aufgelöst, da sie befürchteten, für Handlungen, die vor der Verabschiedung des Gesetzes begangen wurden, rückwirkend nach dem NSL verfolgt zu werden. Während sich während und nach den Protesten gegen das Auslieferungsgesetz 2019 zahlreiche "neue Gewerkschaften" bildeten, kündigten zwei der bekanntesten Gewerkschaftsorganisationen Hongkongs - die Professional Teachers Union und die Hong Kong Confederation of Trade Unions - ihre Auflösung an und stellten ihre Tätigkeit ein.
Dieser übersetzte Bericht von Stand News über den Foodpanda-Streik bietet eine Momentaufnahme des Lebens einiger streikender Kuriere sowie der Arbeitsbedingungen, die sie veranlassten, ihre Kollegen zu organisieren. Der Streik ist insofern bedeutsam, als die Streikenden sich selbst organisierten, ohne die Hilfe von HKCTU-Arbeitsorganisatoren oder die materielle oder finanzielle Unterstützung des HKCTU, die bei früheren Arbeitskämpfen wichtige Ressourcen für die Beschäftigten waren. Die Tatsache, dass die Streikenden in der Lage waren, sich in einer Branche der Gig-Economy wie der Lebensmittellieferung selbst zu organisieren, in der es keinen Arbeitsplatz gibt, an dem sich Kollegen treffen können, und in der die Lieferfahrer in der Regel allein unterwegs sind, macht ihren Streik nur noch beeindruckender. Auch die demografische Zusammensetzung der Foodpanda-Lieferfahrer, die sich an dem Streik beteiligen, ist bezeichnend. Lieferfahrer aus Hongkong mit han-chinesischer Abstammung standen neben südasiatischen Wanderarbeitern aus Indien und Pakistan. Mit ihren gemeinsamen Interessen als Arbeiter und ihren Forderungen gegenüber ihrem Arbeitgeber arbeiteten die Streikenden zusammen, um herkunfts- und sprachliche Unterschiede zu überwinden.
Die Tatsache, dass der Streik in erster Linie eine Arbeitskampfmaßnahme war, bei der es um den Lebensunterhalt der Arbeiter ging, steht in auffälligem Kontrast zu den hochgradig politisierten Aufrufen zu einem Generalstreik gegen die Regierung während der Proteste 2019. Die Anwesenheit der Polizei - die Geschäftsführung von Foodpanda gab an, die Polizei nicht gerufen zu haben - beim Streik und ihre Drohung, die versammelten Streikenden mit Gewalt auseinanderzutreiben, kann nur als Folge des NSL und der autoritären Machtausübung der Hongkonger Regierung verstanden werden, die den Raum für Protest und Dissens in Hongkong verkleinert. Es bleibt abzuwarten, was dies für künftige Arbeitskämpfe bedeutet.
Ein Jahr nach der Verabschiedung des Nationalen Sicherheitsgesetzes haben sich viele zivilgesellschaftliche Organisationen aufgelöst, darunter auch der 31 Jahre alte Gewerkschaftsbund Hongkong Confederation of Trade Unions, und die Arbeitnehmerrechte werden weiter abgebaut. An diesem Tiefpunkt der Arbeitsorganisation streiken die Beschäftigten des Lieferdienstes Foodpanda seit zwei Tagen unter anderem gegen Lohnkürzungen und unfaire Stornogebühren für Bestellungen. Am 14. November zwangen die Arbeiter Pandamart (Foodpandas Lebensmittelladen), den Betrieb einzustellen. Die versammelten Arbeiter skandierten "Wir sind Menschen, keine Hunde!".
Das Online Medium Stand News interviewte die südasiatischen Lieferfahrer, die diese autonome Aktion organisierten, den Verwalter der Gruppe südasiatischer Lieferfahrer in Kowloon Bay, die zur Massenbeteiligung aufriefen, sowie die "Infanterie" (Fußkuriere), die die Nachrichten und Forderungen der Arbeiter über die sozialen Medien in Hongkong übermittelten, um zu verstehen, wie diese Arbeiterbewegung in der Zeit nach den Gewerkschaften und der "großen Bühne" (zentralisierte Führung) zustande kam.

Wie alles begann: der Bericht eines suspendierten Fahrers

Waqas Fida, ein Lieferfahrer südasiatischer Abstammung, war zunächst ein anonymes Mitglied der Fahrergruppe. Vor ein paar Tagen wurde sein Foodpanda-Fahrerkonto plötzlich gesperrt. Wütend eröffnete er einen Gruppenchat und erstellte eine einfache Grafik: ein Bild mit einem Mittelfinger neben einem Pandakopf. Der Einladungslink zur Gruppe verbreitete sich schnell: "Die Zahl der Mitglieder stieg auf einmal um 200 und 300, dann plötzlich um mehrere hundert. Jetzt sind fast 1500 Mitglieder in der Gruppe".

Waqas stand plötzlich im Rampenlicht - er freute sich, von den Medien interviewt zu werden und sagte, dass er keine Angst vor Vergeltungsmaßnahmen habe: "Es ist in Ordnung, ich werde mich wehren, ich werde vor Gericht gehen, ich werde mein Bestes für unsere Brüder geben." (...)

Sie haben uns nie zugehört

(...) "Das Unternehmen hat uns nie gefragt, was passiert ist, weil niemand da war, als wir sie kontaktiert haben. Sie arbeiten von anderen Ländern aus ... sie hören uns nie zu, wenn wir uns beschweren". Waqas und Shahzad berichteten, dass die Mitarbeiter des Foodpanda-Help-Centers aus Malaysia, Pakistan und anderen Ländern stammten und völlig unfähig waren, ihre Bedürfnisse zu verstehen. Waqas fügte hinzu, dass man bei der dritten Suspendierung dauerhaft von der Arbeit bei Foodpanda ausgeschlossen werde.

Spitzenverdienst von 40.000 HKD im Monat; danach nur noch 19.000 HKD

Angesichts ständig sinkender Liefergebühren und willkürlicher Kontosperrungen seien die Arbeiter unter finanziellem Druck gestanden. Waqas sagte, dass sich in den letzten Monaten mehr Arbeiter der Plattform angeschlossen hätten und die Polizei vermehrt Strafzettel ausgestellt habe. Darüber hinaus mussten die Fahrer Motorräder kaufen und ihre Fahrzeuge aus eigener Tasche instand halten. Während die Auslagen hoch geblieben seien, seien die Löhne geschrumpft. Shahzad erzählte, dass er zu seinen besten Zeiten bis zu 40.000 Dollar verdienen konnte, wenn er 10-12 Stunden an sieben Tagen in der Woche arbeitete. Letzten Monat verdiente er jedoch nur 19.000 Dollar.

Waqas ist 28 Jahre alt und kam 2018 nach Hongkong, um seiner in Hongkong geborenen Frau zu folgen. Sie haben zwei Kinder im Alter von 2 und 1 Jahren. Sowohl Shahzad als auch seine Frau sind Pakistaner, und Shahzad arbeitete zuvor mit seiner Familie in Saudi-Arabien. Erst 2019 kam Shahzad nach Hongkong, um zu seiner Frau zu ziehen. Sein Sohn ist fast drei Jahre alt und wird im September in den Kindergarten gehen. Beide sind die Ernährer der Familie. Da Shahzads Einkünfte zurückgegangen sind, sind seine Frau und seine Kinder nach Pakistan zurückgekehrt, um die Ausgaben zu senken. Er hofft nur, dass er bis zum Schulbeginn im September nächsten Jahres seine Frau und seine Kinder wieder in Hongkong begrüßen kann.

Regionale Gruppen fordern mehr Arbeiter zum Beitritt auf

Am 13. November demonstrierten etwa fünfzig Arbeiter vor dem Pandamart in Kowloon Bay. Sie trugen Schilder mit den Slogans "Gebt uns Sicherheit", "keine unangemessene Aussetzung mehr" und "wir sind Menschen, keine Hunde". Die meisten der anwesenden Arbeiter waren Fahrer südasiatischer Abstammung. (...)

Derzeit gibt es keine genaue Zählung der Anzahl der Lebensmittelkuriere in Hongkong. Wir haben Deliveroo, Uber Eats und Foodpanda nach der Anzahl der Kuriere gefragt, die derzeit für ihre Plattform arbeiten. Deliveroo meldete über 10.000 Kuriere, UberEats etwa 5000 und Foodpanda etwa 10.000.

(...)

Hongkongs Südasiaten und einheimische Chinesen finden wieder zueinander

Der Durchbruch im Kampf für Arbeiterrechte ist dieses Mal auf die Solidarität zwischen südasiatischen Migranten und Han-Chinesen zurückzuführen.

Die Lebensmittelkurierin und Organisatorin Ga Wing (嘉泳) war eine wichtige Vermittlerin für die Kommunikation zwischen Einheimischen und Südasiaten und eine vertraute Größe am Ort des Streiks. Sie war die Organisatorin des Streiks in Kowloon City und konnte gelegentlich als Übersetzerin für südasiatische Zusteller vor Ort gesehen werden. Ihr sanftes und freundliches Auftreten täuschte über die Breite und Tiefe ihrer aktivistischen Arbeit hinweg - sie war Mitglied einer NGO, der "Concern Group for Food Couriers' Rights", und gehörte seit April dieses Jahres zur "Infanterie" (Fußkuriere). Zum Zeitpunkt des Gesprächs verfolgte sie in ihrem Namen drei Klagen von Lieferfahrern, die arbeitsbedingte Verletzungen erlitten hatten.

(...) Sie schickten einen Aktionsaufruf an die Online-Plattform, die von lokalen Foodpanda-Kurieren für einen früheren Streik eingerichtet worden war, und Ga Wing, die eine der Organisatorinnen war, wurde darauf aufmerksam. Ga Wing übernahm daraufhin die Rolle des Vermittlers und leitete den Aktionsaufruf der Südasiaten an andere Chatgruppen weiter, wodurch er nach und nach die Unterstützung von Han-Chinesen für den Streik gewann.

Zur gleichen Zeit verteilten die Südasiaten vor Pandamarts in ganz Hongkong Flugblätter, in denen sie zum Streik aufriefen. Ga Wing bemerkte den starken Zusammenhalt der südasiatischen Gemeinschaft - "es ist fast so, als ob hundert Leute auf einen Aufruf reagieren". Die Südasiaten organisierten sich auch selbst zu Streikposten, um andere südasiatische Lebensmittelkuriere und -lieferanten davon zu überzeugen, sich am Streik zu beteiligen.

"Versucht am besten, euch in Vierergruppen zusammenzuschließen".

Im Zeitalter "ohne große Bühne" (zentralisierte Führung), so Ga Wing, "haben viele Leute Angst vor der Polizei, aber in den Nachrichtengruppen haben wir den Leuten gesagt, dass sie ihr Bestes tun sollen, um sich in Vierergruppen zu versammeln." Die Organisatoren betonten auch friedliche Aktionen. "Gestern, als wir zum Pandamart in To Kwa Wan gingen, erzählten uns die südasiatischen Organisatoren von der Tradition der Gewaltlosigkeit und des friedlichen Widerstands in Indien. Sie waren der Meinung, dass diese Tradition die Macht hat, Dinge zu verändern.

Rassismus gegen Südasiaten bekämpfen

In den zwei Monaten, in denen sie in der "Infanterie" diente, sagte Ga Wing, dass sie das ganze Ausmaß der Unterdrückung und des Betrugs in der Gig-Economy der Lebensmittellieferungen erlebt habe, die sie als ein System "harter Arbeit" beschrieb, das keine Rücksicht auf Menschenleben nehme.

Vor dem Streik verfolgte Ga Wing drei Fälle von arbeitsbedingten Verletzungen. Einer betraf den Tod eines indischen Deliveroo-Kuriers. (...)

Ga Wings Wut richtete sich auch gegen den Rassismus, dem südasiatische Lebensmittelkuriere ausgesetzt sind. Zum Beispiel, wenn Kunden in ihren Lieferscheinen angeben, dass sie keinen südasiatischen Kurier wünschen, oder wenn Kunden ihre Türen zuschlagen, um ihren Unmut darüber auszudrücken, dass sie von einem südasiatischen Kurier beliefert werden. Hinzu kommt, dass nicht wenige lokale Lebensmittelkuriere ihre südasiatischen Kollegen als illegale Arbeiter betrachten, die bereit sind, die härtesten Bedingungen zu akzeptieren, die von Foodpanda oder Deliveroo vorgegeben werden. Nach Ansicht von Ga Wing ist dieser Arbeitskampf ein leuchtendes Beispiel für die Einigkeit, den Mut und die Bereitschaft der südasiatischen Gemeinschaft, ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. (...)

Neben Ga Wing sprach sich Boxson, ein Motorradkurier, gegen Foodpanda aus und erklärte vor einer Schar von Reportern, dass "die Lohnkürzungen bereits unsere Untergrenze überschritten haben. Wir sind endlich aufgestanden mit Feuer im Herzen, um in den Streik zu treten!"

YouTuber Boxson, Kurierfahrerakivist

Boxson ist ein YouTuber mit einem Kanal, der sich der Chronik seines Lebens als Lieferfahrer widmet. Grinsend sagte er: "Ich liebe es, Motorrad zu fahren, also wurde ich Lieferfahrer. Außerdem drehe und produziere ich gerne Gruselfilme, also habe ich beschlossen, zu dokumentieren, was in meinem Leben vor sich geht, während ich dabei bin."

Boxson hatte viele Beschwerden, die für die Nöte der Lebensmittelkuriere stehen und ihn motivierten, sich dem Streik anzuschließen - Lohnkürzungen, ungenaue Entfernungsvorhersagen, "Geister"-Bestellungen und unfaire Behandlung durch Kunden und Foodpanda. Noch wichtiger ist, dass seine Teilnahme am Streik auf seinen Erfahrungen während der sozialen Bewegung von 2019 beruhte: "Jeder versteht, dass 2019 ein wichtiger Wendepunkt war. Ich hatte so etwas in der Vergangenheit noch nie erlebt - ich war ein normales, unauffälliges Kind, das in einem Glashaus aufgewachsen ist und noch nie in eine Schlägerei verwickelt war. Früher hätte ich Lohnkürzungen vielleicht resigniert hingenommen, aber seit 2019 haben wir alle gelernt, dass es einen neuen Weg gibt, sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren - nämlich zu streiken."

Heute, auf dem Tiefpunkt der Gewerkschaftsbewegung und des Arbeitskampfes in Hongkong, glaubt Boxson, dass der Grund, warum die Foodpanda-Beschäftigten erfolgreich einen Streik initiieren konnten, der Ausbruch kollektiver Wut gegen die unverschämten Lohnkürzungen des Unternehmens war. "Es braucht nur jemanden, der den ersten Schritt macht, der ruft: 'Hey, lasst uns für uns selbst eintreten!', und natürlich werden die Leute sich wehren. Wenn eine Person ruft, werden hundert darauf reagieren.

Im Gegensatz zu früheren Jahren sind im heutigen politischen Umfeld selbst kleine Versammlungen oder Unruhen gefährlich. Boxson sagte, er habe die Risiken bedacht. Nachdem er sich an die Öffentlichkeit gewandt hatte, sei er von Polizisten in Zivil verhört worden: "Ich weiß, dass Sie streiken, weil Sie für Ihre Rechte kämpfen wollen. Das ist in Ordnung, aber es gibt eine Grenze für Versammlungen. Sie müssen Ihren Kollegen sagen, dass sie sich nicht versammeln sollen." (...)

Boxson hatte jedoch keine Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Polizei. Vielmehr empfand er es einfach als "lästig". Seiner Meinung nach war dieser Streik nicht politisch motiviert, und deshalb habe die Polizei nur zugeschaut. In Bezug auf das Unternehmen sagte Boxson: "Wenn sie mich hätten feuern wollen, hätten sie es bereits getan". (...)

Lausan 1.12.2021

Update vom 29.12.2021

Die Nachrichtenagentur Stand News spielte eine wichtige Rolle für die Berichterstattung über diesen Arbeitskampf. In diesem Moment findet eine Polizeiaktion gegen sie statt:

6 Verhaftungen, über 200 Beamte der nationalen Sicherheitspolizei stürmen die Büros der gemeinnützigen Online-Nachrichtenagentur Stand News.

HKFP 29.12.2021