Hongkonger Arbeiter schließen sich als neue Protesttaktik den Gewerkschaften an
Wenig bekannte Entwicklungen in der Hongkonger Protestbewegung
Diese Meldung von Reuters ist bereits am 10. Januar 2020 erschienen, doch sie erschien uns so interessant, daß wir sie nun übersetzt hier veröffentlichen:
HONG KONG (Reuters) - Bevor die Proteste in Hongkong im Juni begannen, verbrachte Chris Ngai den größten Teil seiner Freizeit damit, World of Warcraft zu spielen und neue Cocktail-Rezepte zu finden. Jetzt gründet der 24-jährige Nachwuchsingenieur mit Brille eine Gewerkschaft.
Chris Ngai, der Vorsitzende der Hongkonger Construction and Engineering Employees General Union, spricht mit Menschen in der Nähe des Rekrutierungsstandes seiner Gewerkschaft, der entlang der Route des Neujahrsmarsches gegen die Regierung in Hongkong, China, am 1. Januar 2020 eingerichtet wurde. REUTERS/Sarah Wu
Sein Ziel ist es, den Druck auf die Regierung Hongkongs zu erhöhen, die bisher keine politischen Zugeständnisse an die Forderungen der Demonstranten nach mehr Demokratie in der von China regierten Stadt gemacht hat, obwohl Millionen von Menschen auf der Straße demonstrierten.
"Die anhaltende pro-demokratische Bewegung hat das Leben der Menschen grundlegend verändert", sagte Ngai gegenüber Reuters am Tag vor der Einrichtung eines Standes entlang der Route eines Marsches zum 1. Januar, um neue Mitglieder zu gewinnen. "Sie hat viele, die über die Gesellschaft nichts wussten, gezwungen aufzustehen."
Da gewalttätige Zusammenstöße mit der Polizei immer häufiger vorkommen, hat die pro-demokratische Bewegung einen Punkt der "Wut und Hoffnungslosigkeit" erreicht, sagte Ngai, und brauchte eine neue Taktik.
Ngai sagte, dass er und sein Team im vergangenen Monat etwa 90 Ingenieure, Architekten und Bauarbeiter dazu überreden konnten, seiner Hongkonger Gewerkschaft der Bau- und Ingenieursbeschäftigten (Hongkong Construction and Engineering Employees General Union) beizutreten.
Sein Stand war nur einer von Dutzenden entlang der 4 km (2,5 Meilen) langen Strecke des Neujahrsmarsches, jeder mit einer eigenen Flagge und einem eigenen Logo, die Schlangen von Hunderten von Menschen anlockten, um den neuen Gewerkschaften für Beamte, Hotelpersonal, Theaterfachleute und andere beizutreten.
Ngai und seine Mitorganisatoren stehen an der Spitze des größten Vorstoßes zur gewerkschaftlichen Organisierung im Laissez-faire des ultra-kapitalistischen Finanzmekka - wo nicht einmal Tarifrechte anerkannt werden - seit Großbritannien die Stadt 1997 an China zurückgab.
Sie stehen auch an der Spitze der ständig experimentierenden pro-demokratischen Bewegung in Hongkong, die nach wirksameren Formen des Protests sucht.
"Die Bewegung gedeiht aufgrund ihres Ad-hoc-Charakters", sagte Ma Ngok, Politologe an der chinesischen Universität Hongkong. "Jetzt denken mehr Menschen, dass die Bewegung eine lange Zeit brauchen dürfte, so dass sie eine besser organisierte Basis braucht, um sie zu tragen.
Etwa 40 pro-demokratische Gewerkschaften, darunter auch die von Ngai, haben sich in den letzten Monaten gebildet oder sind dabei, sich bei der Regierung registrieren zu lassen, und Dutzende weitere haben nach Angaben des Hongkonger Gewerkschaftsbundes HKCTU begonnen, sich zu organisieren.
Der Gewerkschaftsbund, der im vergangenen Monat mit Crash-Kursen zur Gründung von Gewerkschaften begann, sagte, dass in diesem Jahr bereits etwa 2.000 Menschen den Gewerkschaften beigetreten seien und Ende 2019 Tausende weitere beitreten würden. Die Stadt hat eine Bevölkerung von etwa 7,4 Millionen Menschen.
Die Angaben des Arbeitsministeriums zeigen, dass im vergangenen Jahr 25 neue Gewerkschaften registriert wurden, gegenüber 13 im Jahr 2018. Von diesen wurden 18 in der zweiten Jahreshälfte gegründet, als die Proteste eskalierten.
Wie viele neue Protesttaktiken verbreitete sich der Aufruf zur Gewerkschaftsbildung zunächst über die verschlüsselte Nachrichtenapp Telegram, bei der ein Kanal zur Förderung der Gewerkschaftsarbeit in weniger als drei Monaten auf mehr als 74.000 Mitglieder angewachsen ist.
'ZEIT ZU STREIKEN'
Die traditionellen Gewerkschaften in Hongkong werden von den Bürgern in erster Linie als Clubs für Hobbykurse, Bankette und Einzelhandelsrabatte angesehen. Die neuen Gewerkschaften sind eher motiviert, die Beschäftigten davor zu schützen, von den Arbeitgebern dafür bestraft zu werden, dass sie ihre Meinung geäußert haben.
Etwa zwei Monate nach Beginn der Proteste im Juni gegen einen inzwischen zurückgezogenen Gesetzentwurf, der die Auslieferung von mutmaßlichen Kriminellen nach China ermöglicht hätte, wurden die Protestierenden auf die Befugnisse Pekings aufmerksam gemacht. Die Luftfahrtaufsichtsbehörde des Festlandes forderte Hongkongs führende Fluggesellschaft Cathay Pacific auf, das an Demonstrationen beteiligte oder sie unterstützende Personal zu entlassen.
Viele neue Gewerkschafter sagen, das Problem sei weit verbreitet, vor allem dort, wo die Bosse Konflikte mit China vermeiden wollen, aus Angst, dem Geschäft zu schaden.
Eine 26-jährige Frau, die sich selbst als Cynthia vorstellte, erzählte Reuters, sie habe von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft gehört, die in aller Eile ein Mittagessen für alle Mitarbeiter organisiert habe, und zwar zur gleichen Zeit wie ein großer Protest, an dem viele ihrer Berufskollegen während ihrer Pause teilnehmen wollten. Sie beschrieb dies als " Druckmittel" und sagte, dass dies einer der Gründe sei, warum sie bei der Gründung der Gewerkschaft der Buchhalter Bro'Sis mitwirkt.
Einige Angestellte seien dafür getadelt worden, dass sie politische Ansichten auf ihren persönlichen Facebook-Konten zum Ausdruck gebracht hätten, sagte Gary Chan, Sekretär der Hong Kong Financial Industry Employees General Union, die seinen Aussagen nach seit Ende September 160 Mitglieder rekrutiert hat.
Der Programmierer Alex Tang sagte, dass seine neu gegründete, 280 Mitglieder zählende Hongkonger Gewerkschaft der Informationstechnologie-Arbeitnehmer eine Datenbank mit Arbeitgebern aufbaut, die keine Mitarbeiter wegen der Unterstützung von Protesten einschüchtern oder entlassen würden.
Viele glauben, dass die Gewerkschaften für Sicherheit in größerem Umfang beitragen werden.
"Wenn wir als Einzelpersonen streiken, werden wir möglicherweise von den Unternehmen bedrängt", sagte ein 23-jähriger Hilfsarchitekt mit dem Familiennamen Lam, der am 1. Januar am Stand von Ngai mit einer schwarzen Gesichtsmaske Schlange stand.
Der Drang zur gewerkschaftlichen Organisierung entsteht, da Hongkong mit einer Rezession zu kämpfen hat, da die Touristenzahlen und Einzelhandelsumsätze angesichts der gewalttätigen Proteste zurückgehen.
Die neuen Gewerkschaften können zwar nicht viel in Bezug auf unmittelbare wirtschaftliche Vorteile versprechen, aber sie könnten mit der Zeit in der Lage sein, effektivere Streiks zu organisieren und die großen Ungleichheiten in der Stadt zu beseitigen, sagte Eli Friedman, ein außerordentlicher Professor an der Cornell-Universität, der sich mit der Arbeitswelt in China beschäftigt.
"Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob sie die Organisationsstärke für Gewerkschaften erreichen werden, um diese Art von Macht auszuüben", sagte Friedman.
Viele neue Gewerkschaftsführer sagen, sie würden erkennen, dass es Zeit braucht, um Mitglieder zu gewinnen und die Einstellung zu Gewerkschaften zu ändern. Aber sie setzen sich für die Verbesserung der Arbeiterrechte ein, mit dem langfristigen Ziel, Massenstreiks zu organisieren, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen, damit jeder das Recht erhält, den Stadtvorsitzenden zu wählen.
"Es ist ein Zahlenspiel", sagte Lee Cheuk-yan, Generalsekretär des HKCTU und ehemaliger pro-demokratischer Politiker.
"Wir müssen langfristig organisiert bleiben und das Bewusstsein der Menschen in Hongkong, das im letzten halben Jahr entstanden ist, festigen", sagte Lee. "Alle Gewerkschaften werden gemeinsam entscheiden, wann es Zeit ist zu streiken."