Das ungelöste Rentnenproblem
Chinas Rentensystem steht unter wachsendem Druck. Zwischen Stadt und Land und zwischen informell- oder staatlich Beschäftigten sind die Unterschiede der Absicherung enorm
"Soll ich an meinem Arbeitsplatz sterben?"
(...) 1,4 Milliarden Chinesen waren nicht schlecht überrascht, als ihre Regierung vor Kurzem eine Reform des Renteneintrittsalters verkündete. (...) Rasch füllten sich die sozialen Medien Chinas mit heftigen Beschwerden. "Lebe ich überhaupt so lange? Soll ich an meinem Arbeitsplatz sterben?", so lautet die häufigste Klage des sich mühenden "Firmen-Viehs" – wie ein aus dem Japanischen geborgter Begriff für die überarbeiteten und ausgebeuteten Werktätigen lautet. Wie stets brachte die Zensur die Beschwerden schnell zum Verstummen.
Die Staatsmedien erklärten wieder und wieder, dass das aktuelle Renteneintrittsalter in China zu den niedrigsten in der Welt gehört. (...) Eine verärgerte Influencerin kommentierte anlässlich der jüngsten Anpassung der Arbeitstage während des Mondfests: "Immer lesen wir, dass Europäer und Amerikaner später in den Ruhestand gehen und dass wir es ihnen in dieser Hinsicht gleichtun sollten. Aber warum nicht auch dann, wenn es um den Urlaub geht? Sie haben einen ganzen Monat Urlaub im Jahr, und sie nehmen sich die freien Tage am Stück. Bei uns kommen die Pläne über Wochen durcheinander, wenn wir drei Tage freihaben wollen. Ständig sollen wir unsere Pflicht tun, aber wie steht es mit unseren Rechten?" Wie zum Beleg dafür kämpfen Rechtsexperten darum, die Regierung davon zu überzeugen, dass Tod durch Überarbeitung als arbeitsbezogene Schädigung anerkannt und dass die 40-Stunden-Woche mit Strafverfolgungsmaßnahmen durchgesetzt werden sollte. (...)
Tausende von Rentnern versammeln sich, um gegen die Streichung von staatlichen Beihilfen zu protestieren (4. Dezember)
Tausende pensionierte Forstarbeiter der Stadt Yichun in der Provinz Heilongjiang haben am Mittwoch eine kollektive Aktion zur Verteidigung ihrer Rechte gestartet. Sie versammelten sich vor der Stadtverwaltung, um gegen den von der lokalen Regierung vorgenommenen langfristigen Abzug von Beihilfen für Heizung, Wohnen usw. zu protestieren. Es wird berichtet, dass diesen pensionierten Arbeitern von Unternehmen der Yichun Forest Industry Group, die zu mehreren Forstwirtschaftsbüros gehören, seit vielen Jahren oder sogar Jahrzehnten verschiedene staatliche Subventionen abgezogen wurden, was ihr Leben ernsthaft beeinträchtigt hat. Auf dem Video vor Ort ist zu sehen, dass eine große Zahl von Arbeitern Karten mit den Namen ihrer Forstämter in der Hand halten und Slogans wie "Wir wollen den Bürgermeister sehen!" rufen und die Regierung auffordern, das Problem so schnell wie möglich zu lösen. Während des Protests kam es zu Schubsereien und körperlichen Auseinandersetzungen zwischen einigen Arbeitern und der Polizei, die für die Aufrechterhaltung der Ruhe zuständig war.
Unter dem heftigen Protest der Arbeiter kam schließlich ein stellvertretender Bürgermeister zu einem Treffen mit einigen Arbeitnehmervertretern und versprach, innerhalb von 15 Arbeitstagen eine schriftliche Antwort zu geben. Danach verließen die Arbeiter nach und nach den Ort des Geschehens.
Chinas junge Arbeiter steigen aus der staatlichen Rentenversicherung aus
Chinas Rentensystem steht unter wachsendem Druck, da Millionen junger Arbeiter ihre Beiträge zur staatlichen Rentenversicherung zurückziehen, berichtet Bloomberg. Der 22-jährige Social-Media-Influencer Gao Pengcheng sieht keinen Grund, Beiträge zu leisten. Gao lebt in Shenzhen und verkauft Backwaren und Kosmetika online. Er weigert sich, in die optionale Rentenversicherung einzuzahlen, da er glaubt, dass sie wenig Zukunftssicherheit bietet. Eine monatliche Zahlung von 200 Dollar würde fast 20 % seines Einkommens verschlingen – Geld, das er lieber woanders ausgibt.(...).
Pensionsfonds-Engpass befürchtet
Zehn Millionen junger Arbeiter teilen Gaos Skepsis und entziehen dem Rentensystem wichtige Mittel. Mehr als 20 Millionen Arbeitnehmer werden im nächsten Jahrzehnt voraussichtlich jährlich in Rente gehen, aber die schrumpfende Erwerbsbevölkerung Chinas kann mit den steigenden Zahlungen nicht Schritt halten. (...)
The Independent Singapore 11.1.2025
Hunderte von pensionierten Beschäftigten der Jiangsu Nantong Sijian Group Co., Ltd. versammelten sich am Samstag (25. Januar) vor dem Hauptsitz des Unternehmens, um gegen die Vorenthaltung der Daten der Betriebszugehörigkeit durch das Unternehmen zu protestieren. Nach Angaben der Beschäftigten sind sie alle alte Arbeiter, die seit Jahrzehnten gearbeitet haben, aber das Unternehmen zählte ihr Dienstalter erst ab 2007.
Rentenversicherung in China: Rentenalter erhöht. Aber Absicherung im Alter nur für eine Minderheit
Falls sie überhaupt davon Notiz genommen haben, dürften sich jetzige und künftige Rentner in Deutschland über die gerade in China verkündete Rentenreform gewundert haben. Dort hat die Regierung, der Staatsrat beschlossen, dass das gesetzliche Rentenalter ab 2025 von derzeit 55 Jahren für angestellte Frauen (50 für Arbeiterinnen) und 60 für Männer schrittweise auf 63 Jahre angehoben wird. Auch nach der Anhebung des Rentenalters, der ersten Reform seit fast 70 Jahren, ist China mit einer ähnlichen Lebenserwartung wie in Westeuropa in puncto Rentenalter immer noch ein Arbeitnehmerparadies. Das gilt zumindest für die meisten Beschäftigten in den Städten.
Aber es gibt krasse Unterschiede zwischen den Beschäftigten, die als Stadtbewohner registriert sind, und den etwa 300 Millionen Arbeitsmigranten oder Wanderarbeitern, die schon viele Jahre in den Städten arbeiten und leben, aber offiziell immer noch Landbewohner sind Schließlich lebt ein Drittel der Bevölkerung oder ca. 450 Millionen Menschen immer noch auf dem Land. (...)
Von Maos Barfußärzten und der “eisernen Reisschüssel” zur Marktwirtschaft
Zu Zeiten Maos bis Ende der 70er Jahre gab es für Arbeiter, Angestellte und Staatsbeamte in den Städten die sogenannte “eiserne Reisschüssel” mit lebenslanger Beschäftigung und garantierten Renten. Sie mussten keine Sozialabgaben zahlen und gingen mit Erreichung des Rentenalters in Rente, die auch die medizinische Versorgung umfasste.
Auf dem Land war nach der Kollektivierung der Landwirtschaft in den 50er Jahren die kooperative medizinische Versorgung ein Grundpfeiler der sozialen Sicherung: Sie kombinierte kollektive Ressourcen und Beiträge der Landbevölkerung für eine medizinische Grundversorgung und erreichte Ende der 1970er Jahre eine umfangreiche Abdeckung. Das System der »Fünf Garantien« leistete eine soziale Grundversorgung für alle Landbewohner, damit sie nicht durch das soziale Netz fielen. Die »Fünf Garantien« beinhalteten die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Kleidung, Unterkunft, die medizinische Versorgung und die Kosten für eine Beerdigung. Die kollektiven Strukturen der Landwirtschaft hatten eine wichtige Schutzfunktion und erleichterten die Bereitstellung von öffentlichen Gütern. Der Staat und die öffentliche Verwaltung spielten in diesem subsidiär organisierten System nur eine begrenzte Rolle.
Die Ende der 70er Jahre begonnenen Wirtschaftsreformen von Deng Xiaoping – die Einführung der Marktwirtschaft, die Zulassung von Privatunternehmen und die Öffnung für ausländisches Kapital, die Privatisierung der Landwirtschaft und die Lohnarbeit auf Basis von Arbeitsverträgen – erschütterten die Grundlagen der bisherigen Systeme der sozialen Sicherung. (...)
In den 1990er Jahren erfüllten auch immer weniger staatliche Unternehmen die zugesagten Versicherungsleistungen. Unter dem Diktat des Marktes und mit betriebswirtschaftlichen Kennzahlen wurde Chinas Staatssektor mit harter Hand saniert. Unzählige Staatsbetriebe wurden geschlossen, andere wurden fusioniert mit dem Ziel, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähige Konzerne zu entwickeln. Ca. 40 (!) Millionen Beschäftigte im Staatssektor wurden freigesetzt. Damals gab es in China keine Arbeitslosenversicherung und kein System der Sozialhilfe.
U.a. mit Anleihen bei europäischen Systemen der Sozialversicherung und mit verschiedenen regionalen Experimenten entwickelte die chinesische Regierung dann bis zur Jahrtausendwende ein von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziertes Sozialversicherungssystem, das in erster Linie Arbeiter und Angestellte mit Arbeitsverträgen in den Städten erfasste. (...)
Dieses System erreichte allerdings bei weitem nicht alle Einwohner, die als Städter registriert sind. Die Implementierung konzentrierte sich zunächst auf den öffentlichen Sektor, während private Unternehmen bei der Einführung zögerlicher waren. Die vielen Millionen Arbeitsmigranten, die nach der Privatisierung der Landwirtschaft und nach der Aufhebung der strikten Zuzugskontrollen in die Städte strömten, waren nur teilweise in die Sozialversicherung integriert. Sie hatten oft Schwierigkeiten, die ihnen zustehenden Leistungen auch wirklich zu bekommen. (...)
Die durchschnittliche Rente lag 2023 für Chinesen, die als Stadtbewohner registriert sind, bei monatlich 3.300 RMB. Das ist auskömmlich angesichts der Tatsache, dass die meisten Wohneigentum haben. Beschäftigte staatlicher Institutionen erhalten deutlich höhere Renten – über 7.000 RMB monatlich.
Auf dem Land nur geringe steuerfinanzierte Basisrente, aber Krankenversicherung
Auf dem Land wurde mit der Privatisierung, mit dem System der sogenannten Haushaltsverantwortung, die kollektive Landwirtschaft aufgegeben. Familien bewirtschaften heute die ihnen zugeteilten Parzellen, die formell weiter im Kollektivbesitz sind. Die Privatisierung verlieh der landwirtschaftlichen Produktion einen gewaltigen Schub, setzte gleichzeitig aber viele Millionen Arbeitskräfte frei. Die Privatisierung senkte auch die Fähigkeit ländlicher Regierungs- und Parteiorgane, für die soziale Sicherung zu sorgen. (...) Die Familie wurde wieder der Garant der sozialen Sicherung, was zunächst durch steigende ländliche Einkommen gestützt wurde.
Aber in den 1990er Jahren wurde immer deutlicher, dass die Familien damit überfordert waren. Viele Alte in den Dörfern waren vom Altersarmut bedroht. Krankheit war die häufigste Ursache der Verarmung ländlicher Haushalte. (...)
Das erste große Programm war die neue kooperative Krankenversicherung, deren Implementierung 2003 begann und bis 2008 in allen Landkreisen Chinas erfolgt war. Offizielles Ziel war die Bekämpfung krankheitsbedingter Armut. (...)
Der Aufbau einer ländlichen Rentenversicherung startete 2009. Die Rentenversicherung für die Landgebiete besteht zum einen aus einer Basisrente, die vor allem aus Steuern finanziert wird, und aus individuellen Rentensparkonten. (...) Das Mindestniveau der Basisrente wurde 2009 bei monatlich 55 RMB festgelegt, umgerechnet etwa 8 €, weit unter den Lebenshaltungskosten auch auf dem Land. 2023 lag die Durchschnittsrente auf dem Land bei 173 RMB monatlich. (...)
Es gibt also ein landesweites System einer sehr niedrigen Basisrente, das nicht nur die Menschen auf den Dörfern umfasst. Die Basisrente gilt auch für die Beschäftigten im informellen im privaten Sektor und auch für die Arbeitsmigranten, sofern sie keinen Anspruch auf die viel höhere städtische Rente haben.
Wanderarbeiter: ohne Arbeitsvertrag kein Anspruch auf gesetzliche Rente
Die meisten Arbeitsmigranten sind froh, wenn sie einen Arbeitsvertrag haben und in Betrieben arbeiten, die in das Sozialversicherungssystem einzahlen. Denn dann haben sie nach 15 Jahren Zahlungen in die Rentenkasse einen Rentenanspruch bei Erreichung des gesetzlichen Rentenalters. (...)
Denn die meisten Arbeitsmigranten haben keinen Arbeitsvertrag. Das bedeutet, dass die Arbeitgeber nicht zu ihrer Rentenversicherung beitragen müssen und dass ihre Arbeitsjahre nicht zählen für die mindestens 15 Jahre Beitragszahlung, damit ein Anspruch auf die gesetzliche Rente besteht. Nach Daten von 2017 des Nationalen Statistikbüros (seitdem gibt es keine Daten mehr) hatten überhaupt nur 35% der Arbeitsmigranten einen Arbeitsvertrag.
Im Bausektor ist das Problem besonders akut. Bis zur Immobilienkrise, die seit 2021 auf der Volkswirtschaft lastet, war der Bausektor ein wesentlicher Treiber für den Arbeitsmarkt, gerade auch für ungelernte und angelernte Arbeiter. Das ist jetzt vorbei. Informelle Arbeit ist weit verbreitet, die meisten Arbeiter haben keine Arbeitsverträge. Viele müssen sich als Tagelöhner verdienen, die morgens an den Ausfallstraßen auf die LKWs der Baufirmen warten und verzweifelt nach Arbeit suchen. Die Unternehmer können die Löhne drücken und sparen sich die Sozialabgaben. (...) 2020 lag der durchschnittliche Rentenanspruch bei 173 RMB pro Monat, während die Beschäftigten in den Städten durchschnittlich 3.300 RMB pro Monat als Rente kassierten.
Auch die Beschäftigten in Chinas wachsenden Dienstleistungssektor, besonders in der Plattform-Ökonomie, werden vom gegenwärtigen System der Sozialversicherung praktisch nicht erfasst. Nach Schätzungen soll es inzwischen bis zu 200 Millionen Arbeitnehmer in diesem Sektor geben. Vergleichbar den Wanderarbeitern arbeiten diese flexiblen Beschäftigten meist ohne Arbeitsvertrag. Sofern sie einen Arbeitsvertrag haben, zahlen die Arbeitgeber nicht in die Rentenkasse ein. Nach Daten der International Labour Organisation ILO halbierte sich von 2018 bis 2021 die Zahl der Beschäftigten der Lieferdienste mit Arbeitsvertrag auf nur noch 20%, während die Zahl der Lieferkuriere ohne jeden Vertrag auf 42% angestiegen war. (...)
Altersarmut programmiert?
Aufgrund der enormen Unterschiede bei den Rentenansprüchen ist klar, dass viele Arbeiter und Angestellte in den Städten weit über das Rentenalter von jetzt 60 Jahren (für Männer) hinaus arbeiten müssen. Sie erhalten zwar eine Rente, aber die ist minimal.
Aber weil sie über das Rentenalter hinaus arbeiten, können sie nach dem Gesetz keine Arbeitsverträge mehr abschließen. Diese Widersprüche in der Gesetzgebung sind gut für die Arbeitgeber: Ohne Arbeitsvertrag sind sie nicht verpflichtet, Sozialversicherungsabgaben zu zahlen. Die Betroffenen müssen mit Dienstleistungsverträgen auf Baustellen, als Sicherheitskräfte oder als Putzkräfte arbeiten. 2024 haben verschiedene chinesische Städte die Altersgrenze für Taxifahrer auf 65 angehoben. (...)
Erst bei einer Fabrikschließung und Verlagerung z.B. nach Indonesien kommt der massive Sozialbetrug heraus. Als die betroffenen Beschäftigten das lokale Arbeitsamt der Stadtregierung kontaktierten, mussten sie feststellen, dass die nationalen Gesetze zur Sozialversicherung auf der lokalen Ebene nicht umgesetzt werden. Bei einer anderen Fabrikschließung im Perlfluss-Delta wurden die Beschäftigten vor die Alternative gestellt, entweder auf die noch ausstehenden Löhne zu verzichten oder auf die Arbeitgeberbeiträge zur Rentenversicherung. (...)
Wirksame Alterssicherung derzeit nur für eine Minderheit
Eine effektive, staatlich garantierte Alterssicherung bleibt einer Minderheit in China vorbehalten. (...)
Derzeit wird von der chinesischen Regierung nach US-amerikanischen Modell auch eine staatlich geförderte kapitalgedeckte Rente als sogenannte dritte Säule der Rentenversicherung propagiert. (...) Der Markt ist so riesig, dass auch die Allianz dabei ist.