Resümee
Nach 3 Jahren und fast 500 Blogbeiträgen ist es Zeit für ein kleines Resümee.
Die Stimmung im Land ist so angespannt, daß nichtige Anlässe Zündfunke für Proteste und Unruhen sein können.
In diesem Blog gibt es Schlaglichter auf die unterschiedlichen Konflikte und Kämpfe in China. Eine repräsentative Abbildung der sozialen Spannungen und Auseinandersetzungen ist nicht möglich. Es gibt Zweifel an den von der chinesischen Regierung veröffentlichten Zahlen zu den wirtschaftlichen Entwicklungen. Bei größeren Problemen, wie gerade bei der Jugendarbeitslosigkeit, wird auf eine Veröffentlichung von Daten ganz verzichtet. Aber der starke Anstieg von Protesten, Streiks und Aufständen, ist unumstritten und Thema in internationalen Medien.
So berichtet der Economist:
In China kocht der Unmut zwischen den Klassen über
Wird das Land sozial immer gespannter?
Der Ausdruck „Drei-Generationen-im-Tabak“ ist in China zu einem gängigen Synonym geworden. In den sozialen Medien steht es für eine privilegierte Elite, deren Mitglieder die begehrten Jobs (z. B. Führungspositionen im staatlichen Tabakmonopol) an ihre eigenen Leute vergeben und das einfache Volk ausschließen. Anfang des Jahres rief ein Mikroblogger mit mehr als 850.000 Anhängern das Mem auf. „Das Ergebnis dieses erblichen Systems ist ein geschlossener Machtzirkel, der den Menschen am unteren Ende der Gesellschaft die Möglichkeit des Aufstiegs nimmt“, schrieb er. Hunderte stimmten ihm zu. „Die herrschende Klasse verfestigt sich“, antwortete einer. Ein anderer empörte sich: „Die Kinder der Elite kommen weiter, und die Kinder der Armen bleiben arm.“
Trotz der "Great Chinese Firewall", trotz "Jingjing und Chacha" (satirische Bezeichnung der Cyberpolizei) und massiver Repression, ist es heute leichter an Informationen über Proteste, Streiks und Aufstände zu kommen als zuvor. Wichtige Quellen für die Recherchen zu diesem Blog stellen die Blogger und Youtuber "Teacher Li" und "YesterdayBigcat", die seit den "White Paper Protesten" eine hohe Popularität haben. Sie veröffentlichen auf den westlichen Plattformen Youtube und twitter/X, erhalten aber zahlreiche Aufrufe via VPN vom chinesischen Festland. Teacher Li nennt sich inzwischen "Herr Li ist nicht dein Lehrer". Er befaßt sich mit Netzphänomen, Trends in der Popkultur, mit Gewaltausbrüchen und anderen Ausnahmesituationen in den Großstädten und mit Protesten und Arbeitskämpfen. Man merkt seine Nähe zur Jugendkultur und zur Studentenbewegung. YesterdayBigcat sieht seine Wurzeln in der Arbeiterbewegung.
Die hier veröffentlichten Berichte sind Momentaufnahmen aus der Vielfalt an Kämpfen in einem riesigen Land, das trotz einer hoch entwickelten Überwachung und Zensur und massiver Repression, nicht zur Ruhe kommt. Diese Beispiele sind als Aufruf zu verstehen, auf dem Gebiet weiter zu forschen und zu recherchieren.
Die chinesische Regierung hat es mit Konflikten an zahlreichen Fronten zu tun: mit einer unruhigen Jugend und protestierenden Rentnern, mit militanten Auseinandersetzungen auf dem Land und Protesten der städtischen Mittelschicht. Gewerbetreibende organisieren kollektive Aktionen und die Käufer von Wohneigentum sehen sich im Zusammenhang mit dem Platzen der Immobilienblase um ihre Ersparnisse betrogen und gehen auf die Barrikaden.
In der Gig Economy ist es chronisch unruhig, das gilt nicht nur für die Essenskuriere und die weiteren Liefedienste, sondern auch für Taxi- und LKW-Fahrer, die ihre Aufträge per App bekommen. Es wird von der Partei als zentrales Thema behandelt, doch die Gründung einer speziellen Aufsichtsbehörde und eine verbesserte gewerkschaftliche Vertretung, haben nicht zu einem Ende der Unruhe in der Branche geführt.
Die Zahl der Arbeitsniederlegungen in den Fabriken und auf den Baustellen ist groß. In der überwältigenden Mehrheit handelt es sich um Forderungen nach ausstehenden Löhnen oder um eine nicht angemessenen Abfindung bei der Verlagerung oder Schließung von Produktionsstätten. Weitaus kleiner ist die Zahl der Streiks, bei denen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen abgewehrt werden soll. Es gibt aber auch vereinzelte Arbeitskämpfe, die eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen zum Ziel haben.
Die Zahl der Proteste auf dem Land, die meist von Korruption und Enteignungen ohne angemessene Entschädigungen ausgelöst wurden, hat nicht nur zugenommen, es ist auch eine zunehmende Militanz zu beobachten. Auch Umweltthemen sind ein Thema bei der Landbevölkerung.
Die Chinesische Regierung hat zur Umstrukturierung ihrer Wirtschaft das größte Berufsausbildungsprogramm der Welt ins Leben gerufen. Die Berufsschulen bilden jedes Jahr rund 10 Millionen Fachkräfte aus. Nach Xi Jinpings Worten würden dem weltgrößten produzierende Land bis 2025 schätzungsweise 30 Millionen Fachkräfte fehlen.
Diese gewaltige Bildungsskampagne verläuft nicht so, wie von der Partei erhofft. Die nun besser gebildeten jungen Chinesen wollen keinesfalls das Leben ihrer Eltern führen und erwarten von einem Job andere Bedingungen, als sie den Wanderarbeitern aufgezwungen worden sind. Doch ihre Erwartungen decken sich nicht mit den Jobangeboten am Arbeitsmarkt.
Der Bildungssektor, angefangen bei den Kindergärten, über die Berufsschulen bis zu den Unis, ist selbst zu einem Feld von Konflikten und Kämpfen geworden. Die Unzufriedenheit ist derart massiv und die Proteste bisweilen so riesig, daß man sich mit der Thematik intensiver auseinandersetzen sollte.
Die Proteste und Kampfformen sind sehr heterogen. Das Wort "Verzweiflung" wird häufig bei der Beschreibung der Proteste genannt. Es gibt Unterwürfigkeit, wie das sich auf die Knie Werfen und es gibt Androhungen, sich das Leben zu nehmen. Es wird im großen Stil der juristische Weg eingeschlagen. Vor Büros, in denen man Petitionen oder Klagen einreichen kann, gibt es endlose Schlangen. Es gibt jedoch Angriffe auf die Wartenden, teiweise von Zivilpolizisten, aber auch durch angeheuerte Schläger. Einigen Protestierenden ist es wichtig zu signalisieren, daß es ihnen nur um die Lösung eines Problems geht und sie keineswegs die Partei oder das politische System kritisieren wollen und schwenken die Nationalfahne.
In anderen Protesten wagt man politische Kritik. Auf Flugblättern, die von einem Hochhaus geworfen worden sind, wurde dem Arbeitsgericht vorgeworfen, seine Neutralität nicht zu wahren, sondern die Interessen der Arbeitgeber in den Vordergrund stellen. Es wird bei Zusammenstößen mit der Polizei den Beamten zugerufen, sie sollten auf der Seite des Volkes stehen und nicht die Reichen und korrupte Funktionäre beschützen. Es gibt auch Belagerungen und gelegentlich Besetzungen von Behörden.
Die Häufigkeit der Zusammenstöße von Protestierenden mit der Polizei nimmt zu und viele Menschen zeigen sich unerschrocken in den Auseinandersetzungen mit den Beamten. Es kam zu Gefangenenbefreiungen und Belagerungen von Polizeiwachen mit der Forderung, die Inhaftierten freizulassen.
Der Staat reagiert auf die zahlreichen Auseinandersetzungen mit Repression und bemüht sich bisher wenig um eine Abfederung der Auswirkungen der Krise und zeigt keine Strategie einer Befriedung. Bei der Bewältigung der Folgen der weltweiten Krise 2008 waren noch große Geldsummen vorhanden, um das Land zu befrieden. Kurzfristig wurden Konsumgutscheine verteilt und es wurde in riesige Bauvorhaben investiert. Universitäten wurden aus dem Boden gestampft und neue Trassen für Autobahnen und Hochgeschwindigkeitszuüge durch das Land gezogen.
Heute wird ohne große Investitionen auf die Krisensituation reagiert. Man wollte die Streetfoodkultur und Straßenhändler als ein Relikt einer rückständigen Kultur abschaffen und vertrieb die Standbetreiber. Als Arbeitslosigkeit und Armut wieder anstiegen, nahm man diese Politik wieder zurück und war froh, wenn ehemalige Wanderarbeiter sich mit dem Kleingewerbe selbst versorgen konnten. Auch die zuvor noch reichlich geflossenen Subventionsströme sind versiegt. Man ließ dann die Unternehmen bei wirtschaftlichen Problemen ihre Last auf die Schultern ihrer Arbeiter abwälzen und signalisierte ihnen, man werde bei der Einhaltung des Arbeitsrechts nicht so genau hinsehen. Diese Politik führte jedoch zu den aktuellen Problemen, in denen Unternehmen in großem Stil Sozialabgaben nicht abführen, Löhne nicht vollständig auszahlen und sich vor den gesetzlich zu zahlenden Abfindungen bei Betriebsverlagerung oder -Schließung drücken. Das ist der Hauptgrund für die momentane Streikwelle.
Die "Kommunistische Partei" versucht das Entstehen von Verbindungen und Strukturen unter den Protestierenden im Keim zu ersticken. Man greift sich vermeintliche Rädelsführer heraus und reagiert empfindlich, wenn es nach einer Vernetzung von Kämpfen aussieht. Es gab gleichzeitig stattfindende Kämpfe an verschiedenen Orten von Kranführern, von LKW Fahrern und von Rentnern, was die Behörden sehr beunruhigte. Man vermutet unter Feministinnen ein Potential für überregionale Vernetzung und geht gegen sie besonders rabiat vor. Die All-Chinesische Frauenvereinigung wird als einzig notwendige Organisation für die Belange der Frau gesehen und hat daher wenig Verständnis für lokale feministische Treffpunkte.
Die Chinesische Regierung hat Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft angekündigt, Chinas Banken senken ihre Zinsen für Hypothekendarlehen und Finanzminister Lan Foan kündigt ein Konjunkturpaket an. All das wird aber die Probleme am Arbeitsmarkt und die der sich ausweitenden Immobilienkrise kaum lösen. Die Menschen haben den Aufstieg des Landes gesehen und wollen ihren Anteil daran. Sie sind nicht bereit zu ihren alten Arbeitsbedingungen zurückzukehren. Für das Versprechen ihrer eigenen vier Wände haben sie bereits gezahlt und wollen sich nicht mit Bauruinen zufriedengeben. Das bleibt Zündstoff für weitere Konflikte.