Unruhiges Hongkong
Die Ereignisse in Hongkong scheinen sich zu überschlagen. Die Meldungen und spektakulären Bilder sind eine gut verkäufliche Ware im medialen Gewerbe. Über die Hintergründe erfährt man wenig.

Schlimmer noch, es wird ein Süppchen auf den Unruhen gekocht, aus dessen Zutaten die politischen Interessen und Vorurteile deutlich herauszuschmecken sind. Hongkong wird als Ort beschrieben, der Freiheit und Demokratie erst durch die Kolonialmacht Groß Britannien kennengelernt hat. Und nun kämpfen die freiheitsliebenden Hongkonger gegen das kommunistische Regime in China, das ihnen ihre Freiheit wieder nehmen will.
Dieses Bild hat aber wenig mit der Geschichte und der momentanen Gemengelage Hongkongs zu tun.
Zur historischen Rolle Groß Britanniens: Das Einführen von Opium nach China durch Groß Britannien führte zum Ersten Opiumkrieg und 1841 zur Besetzung Hongkongs. 1843 erklärte Großbritannien Hongkong zu einer Kronkolonie. Für das britische Empire entwickelte sich Hongkong zu einem wichtigen Militärstützpunkt und Handelsplatz in Ostasien. Die Chinesen lehnten sich oft gegen die Besatzungsmacht in Hongkong auf. Die größten Unruhen brachen 1925 nach dem Massaker vom 30. Mai aus, als britische Polizeikräfte bei einer antikolonialen Demonstration in Shanghai Schusswaffen einsetzten und mehrere chinesische Studenten töteten. Das Massaker war der Auftakt zu einer der größten Massenbewegungen in China. Einem Flächenbrand gleich breiteten sich die Proteste über das gesamte Land aus und führten zum 16 monatigen Kanton-Hongkong-Streik. Dabei wurden alle Chinesen in Hongkong zur Arbeitsniederlegung, zum Boykott englischer Waren und zum Verlassen der Stadt aufgefordert. Der Streik schwächte den wirtschaftlichen und politischen Einfluss Großbritanniens in China nachhaltig. Anfang der 1960er Jahre wuchs infolge großer sozialer Ungleichheiten erneut Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft. Die Spannungen erreichten ihren Höhepunkt in den Unruhen in Hongkong 1967 mit vielen Toten und Verletzten. Die massiven Streiks führten dazu, daß sich die Verwaltung Hongkongs 1968 gezwungen sah, ein grundlegendes Arbeitsrecht und verbindliche Mindestlöhne einzuführen. Die Hafenarbeiter zeigten sich besonders militant und erkämpften eine passable gewerkschaftliche Vertretung.
Zur Wechselwirkung zwischen Festlandchina und Hongkong: Egal wie oft die Medien von einem "kommunistischen China" sprechen, haben wir es mit einem turbokapitalistischem Land mit einer autoritären Regierung zu tun. Die "Kommunistische" Partei versucht mit Gewalt Arbeitskämpfe, soziale Unruhen und Umweltproteste niederzuschlagen. Zensur, Überwachung und Repression sind wichtige Mittel der Machtausübung. Die Zentralregierung in Peking versucht die größeren Freiheiten (in den Medien, im Versammlungsrecht und in den Möglichkeiten sich zu organisieren) Hongkongs zu scheifen, da Hongkong eine Austrahlungskraft auf das Festland hat. In der südchinesischen Provinz Guandong ist das gesellschaftliche Klima liberaler und die Medien berichten freier, doch je mehr man sich in Richtung Peking bewegt, desto repressiver wird es. Der Zentralregierung sind die größeren Freiheiten und deren Auswirkungen auf Festlandchina ein Dorn im Auge. Die autoritäre Gangart soll auch in Hongkong eingeführt werden und die Verhältnisse sollen denen des Festlandes angepaßt werden.
Die Situation in Hongkong: Die Regierung Hongkongs liegt an der kurzen Leine Pekings. In Hongkong sind die Verhältnisse extrem. Es gibt einen enormen Migrationsdruck. Festlandchinesen werden von den weitaus höheren Löhnen angezogen. Die Grenzbefestigungen erinnern an die der DDR. Das "freie, demokratische" Hongkong gleicht viel mehr einem Polizeistaat, als das "kommunistische" Festlandchina. Allgegenwärtige Polizeistreifen versuchen mit spontanen Kontrollen illegale (chinesische) Einwanderer ausfindig zu machen. Es gibt dort einen Rassimus, auch gegen Festlandchinesen. Hongkong hat die höchsten Mieten weltweit, die sozialen Probleme sind enorm. Anders als in Festlandchina gehören dort Obdachlose und Flaschensammler zum Stadtbild.
Es ist auch erwähnenswert, daß Hongkong ein Rückzugsort für linke chinesische Aktivisten ist. Da die Regierung die Organisierung von Arbeitern versucht im Keim zu ersticken, reisen einige von Ihnen nach Hongkong, um dort zu diskutieren, ohne gleich mit einer Verhaftung rechnen zu müssen. Die Regierung in Peking versucht inzwischen die "Troublemaker" ins Visier zu nehmen und verweigert linken Aktivisten die Einreise nach Hongkong. In Hongkong gibt es eine ganze Reihe von Gruppen, die undercover durch das "Mainland" reisen, um Arbeiter zu beraten über ihre Rechte und Möglichkeiten sich zu wehren. Antikapitalistische Aktivitäten behagen der "kommunistischen" Regierung in Peking gar nicht. Sie läßt auch Studenten zusammenknüppeln, weil sie Marx lesen.
Die ungewöhnliche hohe Beteiligung an der Kundgebung zum Jahrestag des Tiananmen Massakers läßt sich als Vorzeichen der Massenbewegung in Hongkong deuten. Die Wucht und das Ausmaß der Protestbewegung hat keiner vorhergesehen. Selbst die Veranstalter hatten bestenfalls eine halb so große Beteiligung erwartet. Die erste Großdemo war mit rund einer Million Teilnehmer, die größte nach Übergabe der Britischen Kolonie an China und übertraf auch die Beteiligung an der "Regenschirmbewegung" 2014. Die darauf folgende Großdemo übertraf mit noch größerer Beteiligung die bisherige Rekorddemo und die Veranstaltuer sprachen von zwei Millionen Teilnehmern. Bei dieser Großdemo kam es auch zu den ersten gewalttägigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Westliche Medien begannen sich Sorgen zu machen.erklärten, es gäbe keine Chance gegen einen mächtigen Gegner wie China und empfahlen der Bewegung, sich von seinem militanten Flügel zu distanzieren. Die Unruhen sorgten auch für Nervosität unter investoren:
Eigentlich wollte der Hongkonger Immobilienentwickler Goldin Financial umgerechnet rund 1,4 Milliarden Dollar in ein neues Bauprojekt investieren. Doch einen Tag nach dem ersten Großprotest mit Hunderttausenden Teilnehmern in diesem Juni gegen Chinas wachsenden Einfluss in der früheren britischen Kolonie rief Geschäftsführer Abraham Shek eine Vorstandssitzung ein.
In letzter Minute fiel darin die Entscheidung, den Deal doch noch platzen zu lassen – und dafür eine 3,2-Millionen-Dollar-Strafe zu akzeptieren. Die Gründe für die Entscheidung waren laut Goldin Financial „soziale Widersprüche und wirtschaftliche Instabilität“ in Hongkong."
Als bei einer weiteren Großdemonstration das Parlament gestürmt wurde, änderte sich der Ton in den westlichen Medien, der von Sympathie für die "Verteidiger der Demokratie" geprägt war und man sprach von "Krawallen" und "Chaoten".
Die Protestbewegung ist alles andere als homogen. Wir konnten sehen, wie einige Demonstranten auf Schildern Trump um Hilfe baten und wie bei der Parlamentsbesetzung eine Fahne aus der Kolonialzeit über das Rednerpult gehängt wurde. Es gibt eindeutig rechte Kräfte in der Bewegung.
Die Regenschirmbewegung war auch ein kultureller Bruch mit der älteren Generation: Ihre Akteure haben sich eher als Hongkonger denn als Chinesen verstanden, sie haben einen emotionalen Bezug zu der Stadt, den die Alten nicht haben.
Die Sprecher von Youngspiration und Civil Passion stehen eher rechts oder sogar extrem rechts. Die Vertreter von Demosisto, ebenfalls eine Gruppe, die sich nach der Regenschirmbewegung gebildet hat, sind gemäßigt links. Erstere führen eine rassistische und fremdenfeindliche Sprache, nicht nur gegen die KP, sondern gegen Chinesen überhaupt. Youngspiration etwa fordert, Menschen, die nicht Kantonesisch oder Englisch sprechen, von der Staatsbürgerschaft auszuschließen.
Es ist jedoch bisher viel zu wenig thematisiert worden, daß es eben nicht allein um das Auslieferungsgesetz geht und auch nicht einfach eine Demokratie westlicher Prägung erkämpft werden soll. Der enorme Druck der Bewegung ist nur durch eine Vielzahl an politischen und sozialen Spannungen zu erklären, die sich zu diesem Anlaß ein Ventil suchen.
Die NZZ erwähnte die Probleme, die sich aus der Mietpreisexplosion in Hongkong ergeben hätten. Die Regierungscheffin Carry Lam sprach in einer Rede, in der sie die Protestbewegung beschwichtigen wollte, von den Fehlern, die es in der Wohnungsbau- und Bildungspolitik gegeben habe und die man nun beheben wolle.
Auf dem chinesischen Festland werden die Proteste als gewalttätig und von ausländischen Regierungen finanziert dargestellt.