March 4, 2021

Verhungert

Abschaffung der Armut? Trotz Arbeit nicht genug zu Essen...

Verhungert

[Muochas Avatarbild]

Der tragische Tod eines jungen linken Arbeiters führte zu einem Ausbruch von Trauer und Wut

Um den 21. Januar 2021 herum starb ein junger Arbeiter, der einen kleinen Kanal auf der beliebten chinesischen Video-Sharing-Plattform Bilibili betrieb. Er starb inmitten von familiärem Zwist, Krankheit und Konflikten mit seinem Arbeitgeber in schwerer Not. Er verhungerte in seiner Mietwohnung, und seine Leiche wurde erst Tage später von seinem Vermieter entdeckt.

Muochas Mietwohnung

Als sich die Nachricht verbreitete, kochten die Diskussionen über seinen Tod auf beliebten Plattformen wie Bilibili, Zhihu und Weibo (eine allgegenwärtige Messenger-App) hoch. Innerhalb eines Tages stiegen die Followerzahlen seines Bilibili-Kanals von 200 auf 500.000 und zwei Tage später auf 1,31 Millionen. Sein Name wurde zum am zweithäufigsten gesuchten Thema auf Zhihu, von Leuten, die ihre Trauer um den jungen Mann zum Ausdruck brachten. Einer von ihnen verglich sein tragisches Leben und seinen Tod mit dem des verstörten niederländischen Künstlers Vincent Van Gogh, der ebenfalls in Armut und Dunkelheit lebte, bevor er posthum zu Ruhm gelangte: "Die Wut von Van Gogh war wertlos, bis er sechs Fuß unter der Erde war."

Was war geschehen?

(...) Die sogenannte "energische Armutsbekämpfungskampagne" und die soziale Grundsicherung, die die chinesische Regierung seit langem propagiert, schienen für diesen unglücklichen Menschen nicht zu existieren.

Am 5. April 1998 wurde Muocha, sein richtiger Name lautete Chen Songyang (陈淞阳), in einer der ärmsten Regionen Chinas geboren: Liangshan, Sichuan. Seine Eltern ließen sich scheiden, als er drei Jahre alt war. Obwohl das Sorgerecht seiner Mutter zugesprochen wurde, lebte er die meiste Zeit seiner Kindheit bei seinen Großeltern. Seine Familie war weder verarmt noch wohlhabend, bis seine Großmutter krank wurde. Wie seine Freundeaus dem Internet berichten, hatten seine Eltern wegen der medizinischen Kosten für seine Großmutter große Schulden. Seitdem haben sich Muocha und seine Eltern auseinandergelebt und er lebte schließlich alleine. Einige haben spekuliert, dass seine Eltern sich vor Schuldnern versteckten.

Als er 2016 18 geworden war, musste die Berufsschule abbrechen. Nachdem er seine Mutter ohne Erfolg um Unterhalt gebeten hatte, begann er sich selbst zu versorgen.  Während dieser Zeit lebte er lange Zeit in einem Internetcafé und suchte ständig nach Jobs. Sein QQ-Messenger-Benutzername war damals Qingyu (清宇). Er lieh sich Geld von Freunden, die er im Internet kennengelernt hatte, welches er wohl nie zurückzahlte. Nachdem er ein ganzes Jahr strudelte war, ging er 2017 nach Chengdu, um dort zu arbeiten.

Die Arbeit in Chengdu hat ihn nur noch tiefer in die Armut getrieben. Unerfahren und ohne Schulabschluss war Muocha schwerer Ausbeutung ausgesetzt. Er bekam einen Job als Hafenarbeiter mit einem Monatslohn von 800 ¥ (etwa 120 USD), was nur die Hälfte des gesetzlichen Mindestlohns in Chengdu in diesem Jahr war. Die Miete einer erschwinglichen Wohnung betrug ¥500 (etwa 80 USD) pro Monat, so dass ihm ¥300 (etwa 45 USD) für alles andere blieb. Chengdu ist eine große Stadt, in der die Lebenshaltungskosten höher sind als auf dem Land. 300 Yuan waren nicht genug für drei Mahlzeiten am Tag. Genug zu essen zu bekommen, war für Muocha eine tägliche Herausforderung. Von Hunger und der harten Arbeit zermürbt, zog er sich Magenkrankheiten zu.

Im April und Mai 2018 stritt Muocha mit seinem Chef wegen länger nicht gezahlter Löhne. Er wurde gefeuert, und sein Chef zerstörte seinen Personalausweis. Kaum hatte er seinen Job verloren, wurde Muocha von Kriminellen weiter betrogen. Ein Unbekannter hat ihn mit Huabei (eine Anwendung von Alibaba, mit kreditkartenähnlicher Funktion) um 300 ¥ betrogen. Er verstand kaum, was Huabei war. Muochas Klassenbewusstsein wuchs als Reaktion auf seine Notlage schnell. Er begann, Inhalte online zu veröffentlichen, die linke Ideen zum Ausdruck brachten. Seine vielen Videos, Artikel und Kommentare sind noch heute online.

Als Muocha mit seiner Miete immer weiter in Rückstand geriet er keine körperliche Arbeit mehr verrichten konnte, beschloss er, nach Hause zurückzukehren, um Hilfe zu suchen. Allerdings konnte er sich die Reise nicht leisten und musste seine Freunde im Internet um Hilfe bitten. Schließlich gelang es ihm, etwas Geld zusammenzukratzen, um nach Hause zu fahren. Er betrachtete dieses Geld als ein Darlehen. Um seine Würde zu bewahren versprach er, es zurückzuzahlen, sobald er wieder etwas Geld zu verdienene. Die Schulden konnte er nie zurückgezahlen. Viele seiner Freunde wussten bereits, dass es keine Möglichkeit gab es zurückzubekommen und betrachteten es als finanzielle Unterstützung. Dennoch gab es andere, die ihre Freundschaft mit Muocha deshalb beendeten.

Muocha litt seit langem an Magenproblemen und entschied sich auf Anraten seines Freundeskreises, sich in einem örtlichen Krankenhaus behandeln zu lassen. Doch seine Schulden führten dazu, dass er keinen Anspruch auf die Kostenübernahme durch die Nationale Gesundheitsfürsorge hatte. So musste er seine einzigen Ersparnisse und die Hilfe von Freunden in Anspruch nehmen. Im örtlichen Krankenhaus wurde seine Magenerkrankung als Magengeschwür und Gastritis diagnostiziert. Da er sich die Kosten für einen langfristigen Krankenhausaufenthalt nicht leisten konnte, verließ der die Klink vorzeitig. Glücklicherweise verlangten die Dorfbewohner nicht von ihm, dass er seine Schulden zurückzahlt.

Eine Krankenhausrechnung von Muocha

Seine Freunde schlugen vor, dass er eine staatliche Unterstützung für Geringverdiener beantragen sollte. Daraufhin erklärte Muocha, was er selbst herausgefunden hatte: Als arbeitsfähiger junger Mensch, der rechtlich als einkommensfähig gilt, sei er nicht förderfähig. Er würde keine Hilfe bekommen, wenn er durch Krankheit in Armut geriete. Außerdem benötigt man für die Hilfe bei geringem Einkommen eine Bescheinigung des Dorfkomitees und der Polizeistation (wo die Haushaltsregistrierung stattfindet), wofür man einen Personalausweis benötigt, den sein letzter Chef vernichtet hat.

2019 erfuhr Muocha, dass das Haus, in dem er einst lebte, abgerissen werden sollte (nach chinesischem Recht hätte er das von seinen Großeltern hinterlassene Grundstück erben müssen), bzw. der Staat ihn mit 300.000 ¥ (etwa 46.000 USD) entschädigen müßte. Er dachte, er hätte seine härtesten Tage überstanden, aber seine Familienmitglieder kehrten nach Hause zurück und warfen ihn aus dem Haus, der einzigen Unterkunft, die er besaß. Seine Familie (einschließlich seines Vaters) ließ ihn verprügelten.
Unter diesen Umständen musste Muocha eine Wohnung in einer Stadt des Bezirks mieten. Er arbeitete tagsüber 10 Stunden lang und streamte abends zwei bis vier Stunden lang live auf seinem Bilibili-Kanal (zu dieser Zeit erstellte er hauptsächlich Videospiel-bezogene Inhalte). Das einzige Essen, das er zu sich nahm, waren Instant-Nudeln. Bevor er 2020 gesperrt wurde, erreichten er  10.000 Follower und seine Situation schien sich zu bessern. Während dieser Zeit begann er, seine Schulden zurückzuzahlen. Später wurde er jedoch wegen der Veröffentlichung eines Gedenkvideos für die russische Oktoberrevolution und anderer linksgerichteter Videos gesperrt und musste von vorne anfangen. Im Januar 2020 zog Muocha dann nach Xichang, Sichuan, um dort zu arbeiten.

Wegen dem Ausbruch der Pandemie konnte Muocha keine Arbeit finden. Auf Anraten seiner Freunde beschloss er, als Virtual Livestreamer (V-Tuber) seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nachdem er einige Computerkomponenten und ein virtuelles Charaktermodell von seinen Freunden geschenkt bekommen hatte, startete Muocha seine V-Tuber-Karriere auf Bilibili. Um zu überleben, hörte er auf, linke Inhalte in seine Videos einzubauen und machte stattdessen Videos, die auf beliebten Videospielvorlagen basierten. Die Likes und Follower, die er erhielt, waren viel geringer. Die einzige Nahrung, die er sich leisten konnte, waren Instant-Nudeln, Reis und Früchte; manchmal sammelte er Gemüse ein, das auf den Märkten weggeworfen wurde. Bald verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, und er konnte keine schwere Arbeit mehr verrichten. Er wurde immer ärmer, je mehr er arbeitete.

Im Juni wurde bei ihm ein Tumor in der Nase diagnostiziert. Im August begann der Tumor auf seine Sehnerven zu drücken und verursachte starke Beschwerden. Seine Freundin Misaka Ilyich bat in den sozialen Medien um Unterstützung für ihn. Von Oktober bis November wurde Muocha häufig ohnmächtig, hatte ständig Durst und musste aufgrund einer schweren Diabeteserkrankung viel Wasser trinken. Trotzdem suchte er weiter nach Jobs, bis er schließlich nicht mehr konnte und von seinen Freunden finanziell unterstützt werden musste. Dann wurde er im Krankenhaus von Sichuan in Panzhihua an seinem Nasentumor operiert, was seine gesamten Ersparnisse aufbrauchte. Er schuldete dem Krankenhaus noch ¥ 2000 und mußte seine Tabletten eizeln kaufen. Einige staatliche Medien behaupteten, dass sein Vater die Operationskosten bezahlt hat. Das erscheint unwahrscheinlich, dass derselbe Vater, der Schläger angeheuert hat, um Muocha zu verprügeln und ihn zu vertreiben, ihm aus der Patsche helfen würde.

Der letzte Winter in Muochas Leben war besonders kalt. Es fehlte ihm an warmer Kleidung und ausreichender Nahrung, und er konnte sich seine Medikamente nicht mehr leisten.

Das massive Echo, das Muochas Tod bei den chinesischen Internetnutzern auslöste, wurde vom Staat wahrscheinlich als Affront gegen seine viel gepriesene "Armutsbekämpfungspolitik" gesehen. Der Muocha-Vorfall stellte in Frage, dass es den Menschen unter dem Regime der Kommunistischen Partei Chinas jeden Tag besser geht. Vor Muochas Tod wurde er vom Regime mit Verboten und Löschungen zum Schweigen gebracht. Wenige Tage nachdem sein Tod bekannt wurde, war der öffentliche Aufschrei groß. Einige regierungsnahe Privatmedien versuchten Muochas Situation vor seinem Tod zu verdrehen und zu verleumden.

Auch einige staatliche Medien schalteten sich ein, um diese Tragödie zu beschönigen, indem sie behaupteten, dass die Politik zur Beseitigung der Armut noch im Gange sei und dass die Familie des Verstorbenen in Glück und guter Gesundheit lebe. Sie behaupteten, dass alles in China tendenziell herzerwärmend und positiv sei. Nur weil der Verstorbene eine zurückgezogene und rebellische Persönlichkeit hatte (und sogar "Verbrechen" beging, wie seinen Lohn einzufordern) und von zu Hause weglief, kam es zu dieser Tragödie. Einige andere Quellen lenkten die Aufmerksamkeit von den sozialen Umständen auf seine persönlichen Familienprobleme.

Einige Reportagen waren in ihrer Schönfärberei so grob (darunter die der Sichuan Observer News, 川观网 ), dass sie die Orte, an denen die Ereignisse stattfanden, völlig falsch wiedergaben. Andere, wie Edge News (界面新闻), hatten keine Spur von Sachlichkeit und präsentierten  Informationen, die den Berichten anderer lokaler und staatlicher Medien völlig widersprachen.

Diese Verleumdungen gegen Muocha sind unbegründet. Laut seinen Freunden und den von ihm erstellten Videos war Muocha weit davon entfernt, ein zurückgezogener oder rebellischer Mensch zu sein, er war nur unfähig, mit seiner Familie auszukommen. Als 20-jähriger junger Mann ohne Schulbildung hatte er mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Dennoch hielt er am Leben fest, ohne Unterstützung durch seine Familie.

Ein Zitat des französischen Schriftstellers Romain Rolland lautet: "Es gibt nur ein wahres Heldentum auf der Welt: die Welt zu sehen, wie sie ist, und sie zu lieben." Muochas Einstellung zum Leben spiegelt genau diese Einstellung Angesicht der Widrigkeiten wider. Darüber hinaus war er nicht nur ein Opfer des Kapitalismus, sondern auch ein Linker mit revolutionärem Geist. Er hatte insgesamt sieben Accounts auf Bilibili, von denen sechs gesperrt wurden. Ein Kanal trug den Namen: "Arbeiter der Föderation der Republik Roter Stern". Bis heute können wir die Entstehung seines Klassenbewusstseins und seine absolute Verachtung der kapitalistischen Gesellschaft auf seinem Hauptkonto Tea黑茶 (Tea-BlackTea) sehen. (...)

Einige Zitate von Muocha vor seinem Ableben. Tea黑茶 war sein Hauptkonto: "Glauben Sie wirklich, dass Sie für immer ein Sklave sein können? Haben Sie vergessen, dass der Kapitalismus in periodische Wirtschaftskrisen gerät? Wie können Sie sicher sein, dass Sie nicht wie ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung werden, das während der Großen Depression unter der Armutsgrenze lebte? Japan und Deutschland benutzten den Krieg als Mittel, um ihre Wirtschaftskrisen zu lindern, wie können Sie sicher sein, dass Sie nicht einer von denen werden, die wertlos auf dem Schlachtfeld sterben? Glauben Sie wirklich, dass ein Sklavendasein Stabilität bedeutet?"

Marxist.com 21.2.2021