Yabi und andere Subkulturen
Die chinesischen Subkulturen lassen sich international inspirieren, doch sie entwickeln sich in eine eigene Richtung.

Subkulturanalysen gab es im chinesischen Kontext vor dem Aufkommen des Internets nicht. Stattdessen wurden desillusionierte Jugendliche, die Mao Zedongs Herrschaft und die Misserfolge der Demokratiebewegung miterlebt hatten, durch die Linse der Populärkultur beschrieben. Dennoch gibt es zahlreiche Beispiele für subkulturelle Aktivitäten im maoistischen China – etwa in handkopierten „Underground“-Schundromanen während der Kulturrevolution und zu Beginn der Reformära 1979, als eine Gruppe von Malern, die sich Xingxing (星星, Sterne) nannten, inoffiziell Ölgemälde, die während der Mao-Jahre im Geheimen entstanden sind, vor dem Nationalen Kunstmuseum in Peking ausstellten, als Aufruf zur Meinungsfreiheit. Diese Einblicke in die rebellische Kulturproduktion verweisen auf die subversiven Impulse einer gegenhegemonialen subkulturellen „von unten“-Perspektive, die im Angesicht der Repression stets präsent ist. Sie deuten auch auf ein bestimmendes Element der Subkultur hin: den Wunsch der Ausgegrenzten, einen öffentlichen Aufschrei zu erreichen.
Während der Mao-Ära, als der revolutionäre sozialistische Realismus nur eine Kultur darstellte - das proletarische Subjekt unter Mao -, wurde jeder, der als Landstreicher, Konterrevolutionär oder Angehöriger der „gefährlichen Klassen“ galt, festgenommen und zu Zwangsarbeit und einem "Umdenken" gezwungen. So wurde die Subkultur bis in die 1990er Jahre stark unterdrückt, als Chinas Übergang zur Marktwirtschaft eine Verbraucherklasse hervorbrachte, die über ein zusätzliches Einkommen verfügte und über den internationalen Handel mit dem Rest der Welt in Kontakt treten konnte. Mit dem Internet ermöglichte dieser Kontakt nicht nur den Zugang zu einem globalen "kultureller Supermarkt" - oder dem „Supermarkt des Stils“.
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Während der frühen Reformära könnte man behaupten, dass sich im kosmopolitischen Untergrund von Peking und Shanghai eine liberale Proto-Gegenkultur entwickelte, als China zum Kapitalismus überging und Universitätsstudenten die Grenzen westlicher demokratischer Praktiken testeten. In dem Jahrzehnt der Markttransformation, das auf den Zwischenfall vom Vierten Juni [das Tianamen Massaker] folgte, hatten solche Experimente keine Chance zu gedeihen, denn es war eine Zeit, in der „Geld alles beherrschte, die Moral starb, die Korruption aufblühte [und] Bestechungsgelder getauscht wurden“. Trotz dieser Entwicklung gewann eine Vielzahl von Subkulturen mit der Verbreitung des Internets nach der Jahrtausendwende an Dynamik (...). Während offenkundig politische Aktivitäten wie Proteste, Demonstrationen und andere Versammlungen unter der Xi Jinping-Regierung streng verboten wurden, konnten chinesische Jugendliche - insbesondere die Generationen nach 1990 - online in Chatgruppen, Foren und anderen sozialen Medien Gleichgesinnte finden.
Offline reicht das Spektrum der Yawenhua (Subkulturen) von klassenbasierten ästhetischen Gemeinschaften wie den Shamate – einer lebendigen Subkultur (besonders beliebt im Nordosten Chinas) von jugendlichen Arbeitsmigranten (Wanderarbeitern), die sich wie Anime-Punk-Rockstars oder, wie die Amerikaner es nennen würden, „Emo-Teenager“ kleiden – bis hin zu trendbasierten Yawenhua (...), die sich auf die Stile Preppy, Lolita und Hanfu beziehen, sowie der Wertschätzung einheimischer Marken im Sinne einer „nationalen Flut“. Die höchst umstrittene Yabi-Subkultur (...) entstand 2019 in Chinas urbaner Club- und Underground-Musikszene.
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In Anlehnung an die klassische chinesische Literatur und Ästhetik, in der weibliche Figuren wie die schlangengestaltige Nüwa, ihre Vogeltochter Jingwei und die Xiwangmu (die einen menschlichen Körper, einen Leopardenschwanz und tigerähnliche Reißzähne hatte) gediehen, reaktiviert die Yabi die alte kosmografische Bedeutungsgebung in subtilem Widerstand gegen die autoritäre Hegemonie der KPCh. (...) Die Yabi können nicht einfach als junge Städter verstanden und abgetan werden, die aus spiritueller Langeweile heraus einkaufen und sich stylen. Wie funktioniert die schlüpfrige Yabi-Ästhetik in der zeitgenössischen chinesischen Gesellschaft, und was wollen die Yabi (...)?
„Statt kritisch über die Gesellschaft nachzudenken und sich eine eigene Meinung zu bilden, machen sich die Yabis in Shanghai nur Gedanken darüber, sich übertrieben und farbenfroh zu kleiden.“ (...) ist das ein weit verbreitetes Missverständnis.

(...) Dass Yabi aus der Hip-Hop- oder Techno-Szene stammt, ist bezeichnend, da beide kulturelle Importe mit ihrer weitreichenden Herkunft rund um den Globus und langen Zyklen der Anpassung, Aneignung und Transformation sind. (...)

Indem durch den persönlichen Stil kommuniziert wird, was in Worten nicht erlaubt ist, können Gefühle der Entfremdung, die online durch die „nach innen gekehrten“ (...) in Offline-Gemeinschaften (...) umgewandelt werden. In den mythischen Genealogien (...) beschwört die Yabi-Ästhetik eine „subkulturelle Enthusiastin“, eine weibliche Übernatur in ständigem Wandel - eine, die mit der Klassenpolitik des einfachen Volkes solidarisch ist, zu dem sie und die anderen Subkulturen gehören (...) im gegenwärtigen anthropogenen Kollaps, in dem Weltuntergangsrealitäten wie Klimakatastrophen und Kriege im selben Raum existieren [und] eine bessere materiellen Zukunft immer weiter außer Reichweite gerät.
Man mag diese Bewertungen und Einschätzungen der subkulturellen Entwicklungen nicht teilen, doch die junge Generation entwickelt ihre eigenen Ausdrucksformen, die Reaktionen auf ihre Lebensumstände sind und nicht automatisch soziologischen Erwartungen entsprechen.