September 27, 2020

Warum China kapitalistisch ist

Der Soziologe Eli Friedman liefert einen aktuellen Beitrag zur politischen Bewertung Chinas

Warum China kapitalistisch ist

Das Thema ist ein Dauerbrenner. Auf unserer Webseite ist die Frage "Ist China Sozialistisch oder Kapitalistisch?" die meistbesuchte Rubrik. Unter der von den Medien permanent wiederholten Behauptung eines kommunistischen Chinas, gibt es großes Interesse an einer fundierten politischen Einordnung des Landes. Selbst innerhalb der Linken zeigt man Orientierungsprobleme. Es sind nicht allein Alt-68er, die mit Mao-Plakaten auf Demos gegangen sind, sondern auch Menschen, die sich in China einen ernstzunehmenden Widersacher für den US Imperialismus erhoffen. Der Soziologe Eli Friedman, der zu den Arbeitsbeziehungen in China forscht, kam zu einem eindeutigen Ergebnis: China ist kapitalistisch. Aus seiner im Spectre Journal veröffentlichten Einschätzung, haben wir Ausschnitte übersetzt:

Das China des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist kapitalistisch. Dies stellt einen dramatischen Wandel für ein Land dar, das bis Ende der 1950er Jahre das Privateigentum an den Produktionsmitteln im Wesentlichen abgeschafft hatte, während es im folgenden Jahrzehnt einige der radikalsten politischen Experimente des zwanzigsten Jahrhunderts durchführte. Trotz der tiefgreifenden Neuordnung der Produktionsverhältnisse in den letzten vierzig Jahren behält die Kommunistische Partei (KPCh) ihr Machtmonopol und ist nach wie vor erklärtermaßen sozialistisch, wenn auch jetzt mit "chinesischen Zügen".
Chinas kommunistischer Weg zum Kapitalismus hat bei der Linken (sowohl innerhalb Chinas als auch weltweit) zu ernsthafter Verwirrung darüber geführt, wie der gegenwärtige Stand der Dinge zu charakterisieren ist. Die Klärung dieser Frage ist für die antikapitalistische Praxis von entscheidender Bedeutung, und sie wird durch Chinas zunehmende globale Macht noch verstärkt. Letztlich geht es hier um die Frage, ob wir glauben, dass der chinesische Staat und seine Opposition gegen die US-geführte Ordnung eine befreiende Politik verkörpert. Wenn wir China andererseits nicht als Versuch verstehen, den Kapitalismus zu transzendieren, sondern als im Wettbewerb mit den USA um die Kontrolle über das System eingeschlossen, führt dies zu einer ganz anderen politischen Schlussfolgerung: Wir müssen unseren eigenen Kurs der radikalen Befreiung festlegen, unabhängig von und gegen alle bestehenden Staatsgewalten.
Der Kapitalismus ist ein notorisch komplexes Konzept, und ich kann hier nur auf bestimmte Kernfragen eingehen. Im Grunde ist er ein System, in dem menschliche Bedürfnisse der Wertproduktion untergeordnet sind.(...) Diese Logik des Kapitals manifestiert sich nicht nur in der wirtschaftlichen Ausbeutung der Arbeit und den damit verbundenen sozialen Klassenbeziehungen, sondern auch in den Formen der politischen Herrschaft am Arbeitsplatz, im Staat und darüber hinaus. Trotz wichtiger Unterschiede zum liberalen anglo-amerikanischen Modell werden wir sehen, dass China in allen Bereichen kapitalistisch geworden ist.
Indikatoren für den chinesischen Kapitalismus gibt es im Überfluss. Die Metropolen des Landes sind mit Ferraris- und Gucci-Geschäften geschmückt, ausländische und einheimische Firmenlogos prangen in der Skyline, und luxuriöse Hochhauswohnungen sind in jedem größeren Stadtkern entstanden.
(...)
Chinas Wirtschaft ist nicht nur kapitalistisch, sondern der Staat regiert jetzt im Gesamtinteresse des Kapitals. Wie jedes andere kapitalistische Land hat der chinesische Staat seine eigene relative Autonomie, und man kann sich darüber streiten, welcher Staat mehr Autonomie hat. Aber es ist offensichtlich genug, dass der Staat seinen Wagen an den Stern des kapitalistischen Wertes gehängt hat, was einen tiefgreifenden Wandel in der Regierungsführung bewirkt hat.
Ein besonders prominentes Beispiel war die gewaltsame polizeiliche Unterdrückung des Streiks von 40.000 Arbeitern in der in taiwanesischem Besitz befindlichen Yue Yuen-Schuhfabrik - die historische Ironie der im Namen der taiwanesischen Kapitalisten eingreifenden Bereitschaftspolizei ging den Arbeitern nicht verloren.
(...)
Eine ganze Reihe drängender praktischer Fragen kann nicht allein auf der Grundlage einer Klassenanalyse gelöst werden, ganz zu schweigen von den vorherrschenden liberalen oder ethno-nationalistischen Rahmenbedingungen: Wie sollten wir die Bemühungen des chinesischen Staates interpretieren, den sozialen Widerstand in Hongkong politisch zu ersticken, seine Ankündigungen, Taiwan zu annektieren, und die Kolonialprojekte für Han-Siedler in Xinjiang und Tibet? Ist das enorme Wachstum der weltweiten Investitionen im Rahmen der Seidenstraßen-Initiative ein Hinweis auf ein aufstrebendes kapitalistisches Imperium? Was ist eine angemessen radikale, anti-nationalistische und antiimperialistische Antwort auf den sich verschärfenden Konflikt zwischen den USA und China?
Dies sind einige der dringendsten Fragen, mit denen die Linke heute konfrontiert ist, und es gibt keine einfachen Antworten. Aber soviel steht fest: Die falschen Versprechen des chinesischen Staates, die Welt im Alleingang in eine sozialistische Zukunft zu führen, müssen von den Antikapitalisten voll und ganz zurückgewiesen werden. Marx' Worte aus Die deutsche Ideologie klingen auch heute noch wahr: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden  soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird].  Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen  Zustand aufhebt.“  So tröstlich es auch wäre darauf zu vertrauen, dass eine aufstrebende Supermacht die Welt, die wir uns wünschen, erbauen wird, ist eine Illusion. Wir müssen sie selbst erschaffen.

Den vollständigen Artikel im englischen Original gibt es im Spectre Journal 15.7.2020

Eli Friedman, Doktorat in Soziologie an der Universität von Kalifornien, Berkeley, jetzt Professor an der Cornell University/ILR (New York State School of Industrial and Labor Relations). Seine Hauptinteressengebiete sind China, Entwicklung, Bildung, soziale Bewegungen, Urbanisierung sowie Arbeit und Arbeitskämpfe. Er hat derzeit zwei große Forschungsprojekte, von denen sich das erste mit staatlichen Reaktionen auf Arbeiterunruhen in China und der Entwicklung von Institutionen für Arbeitsbeziehungen befasst. Das zweite Projekt ist eine Studie über die chinesische Urbanisierung mit besonderem Schwerpunkt auf dem Zugang zu Bildung für Arbeitsmigranten. Er ist der Autor von "Insurgency Trap" (Falle für Aufständische): Labour Politics in Postsocialist China", veröffentlicht von Cornell University Press (2014).