Das Seminar in Hilchenbach im Oktober 2009

Aus Anlaß der Rundreise einer AktivistInnengruppe aus China fand im Oktober 2009 in Hilchenbach ein Wochenendseminar statt mit etwa 40 TeilnehmerInnen. Dabei stellten die diversen Gruppen aus China ihre Arbeit vor - und stellten den deutschen TeilnehmerInnen zwölf Fragen zum Verständnis deutscher Verhältnisse.

Zur Dokumentation der gesamten zweiwöchigen Rundreise werden wir noch einiges Material veröffentlichen, auch über das Seminar selbst - aber auch chinesische Auswertungen und Meinungen zu Gesprächen mit Betriebsräten und Belegschaften, mit Erwerbslosen und BasisaktivistInnen aus der BRD.

In der Nachbereitung der ersten Rundreisewoche - und Vorbereitung der zweiten Woche - erarbeiteten die chinesischen TeilnehmerInnen einen Katalog von 12 Fragen, die sie den deutschen TeilnehmerInnen vorlegten. Diese Antworten sollten dabei helfen, die gesellschaftliche Wirklichkeit in der BRD zu verstehen.

Die Antworten waren selbstverständlich subjektiv - wie sollte es auch anders sein. Sie wurden ausserdem nach dem Freiwilligkeitsmotto gegeben: Wer sich in der Lage fühlte zu antworten, konnte dies tun. Was andrerseits bereits bei der Beantwortung dazu führte, dass deutlich wurde, dass es zumindest zu den meisten gegebenen Antworten auch andere Auffassungen gab und gibt. Weswegen wir in diesem Zusammenhang darauf verweisen, dass auf dieser Webseite die Kommentarfunktion existiert: Wer möchte, ist eingeladen, sich zu Antworten zu melden und seine oder ihre eigene Variante - sei es als Ergänzung, sei es als Gegenposition - zu publizieren. Nach einiger Zeit werden wir die Antworten (deren Autoren die Gelegenheit hatten, sie redaktionell - möglichst aber nicht inhaltlich - zu überarbeiten) samt etwaigen Kommentaren per Übersetzung in die Diskussion der chinesischen Gruppen geben. Was es aber gab und auch dokumentiert wird, sind Nachfragen der chinesischen TeilnehmerInnen zu den Antworten, die wiederum mehrfach von anderen deutschen TeilnehmerInnen beantwortet wurden, als dem Erstbeantworter...

Was wir in Deutschland in der ersten Woche nicht verstanden haben

 

(Die 12 Fragen der chinesischen Teilnehmer werden einzeln von jeweils einem deutschen Teilnehmer beantwortet, der sich freiwillig dafür gemeldet hat.

Die Frage „Sollten Gewerkschaften Entlassungen zustimmen?“ wurde von allen deutschen Teilnehmern in Kurzform mit „Nein“ beantwortet.

Auf die Frage „Wie sehen deutsche Arbeiter chinesische Arbeiter?“ hat sich kein deutscher Teilnehmer für eine Antwort finden lassen. Ob dies aus Gründen der Höflichkeiten oder des uneinheitlichen Meinungsbilds unter den deutschen Teilnehmern so ist, sei dahin gestellt.

Nachfragen wurden nur von chinesischen Teilnehmern angenommen.)

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1 „Wie demokratisch sind deutsche Gewerkschaften und welche Möglichkeiten zur Einflussnahme haben die Mitglieder auf die Entscheidung der Organisation?

Antwort Hans Köbrich (AK Internationalismus IG Metall Berlin ehm. Betriebsrat bei BMW

1.1 Wie demokratisch sind deutsche Gewerkschaften?

Wir leben in einer Demokratie und von daher sind auch unsere Gewerkschaften demokratisch organisiert – zumindest was die Frage der Repräsentation betrifft. Es gibt formal-demokratische Wahlen und die Basis ist dazu in der Lage, ihre Delegierten zu wählen; die Delegierten der Gewerkschaften wählen die Führung und die Führung bestimmt die Politik. Das ist ein Charakteristikum der repräsentativen Demokratie und diese wird eben auch in der Gewerkschaftsorganisation nachvollzogen.

1.2 Beteiligungsmöglichkeiten der Mitglieder an Entscheidungen der Gewerkschaften?

Was dies anbelangt sind deutsche Gewerkschaften hingegen recht wenig demokratisch. Die Mitgliederversammlung soll zwar die Delegierten wählen, aber diese Versammlungen finden so gut wie nicht statt. Aufgrund der seltenen Versammlungen finden daher auch nur vereinzelt kontroverse Diskussionen an der Basis statt. Allerdings gilt doch: Je mehr Diskussion es innerhalb der Gewerkschaft gibt, desto demokratischer ist sie. Zudem kommt der Umstand, dass auf den Versammlungen zunächst die Delegierten gewählt werden, ehe es zu einer Debatte in der Versammlung kommt. Von den Gewerkschaftsmitgliedern wird die Einflussnahme auf Entscheidungen der Gewerkschaften als wenig demokratisch empfunden.

Dazu möchte ich ein Beispiel anführen: Nachdem es in einem deutschen Betrieb zu einem Arbeitsstreik gekommen war, gab es zwischen dem Arbeitgeber und der Arbeitnehmervertretung ein Verhandlungsergebnis, mit dem die streikenden Arbeitnehmer allerdings sehr unzufrieden waren - nur 30 Prozent haben das Verhandlungsergebnis akzeptiert. Das Verhandlungsergebnis wurde von der Gewerkschaft dennoch akzeptiert. Die Arbeiter waren an dieser Entscheidung der Gewerkschaft nicht beteiligt und konnten es deshalb auch nicht verstehen.

Ein weiteres Beispiel aus dem metallverarbeitenden Gewerbe: Bei der Wahl des Betriebsrates werden oftmals nur die Kandidaten und Vorschläge geduldet, die den Vorstellungen der IB Metall entsprechen. Allzu kritische Vorschläge werden sanktioniert und können sogar zum Rauswurf aus der Gewerkschaft führen.

Nachfrage: Sind Sie aus der Gewerkschaften entlassen worden?

Ja, ich wurde 1979 ausgeschlossen und 1983 wieder aufgenommen.

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2 Was sind die Gründe für die bürokratische Entwicklung deutscher Gewerkschaften?

Antwort von Joachim Kuhnke ehem. Betriebsrat bei Daimler in Düsseldorf

Der Zustand der deutschen Gewerkschaften hängt eng zusammen mit der Zeit, in der es zu ersten Zusammenschlüssen gekommen ist: im politischen Autoritarismus des 19. Jahrhunderts. Gewerkschaften fanden in einer Zeit von starken Hierarchien und Obrigkeitsgehorsam ihren Anfang. Die bildhafte Sprache der Gewerkschaften wurde zu großen Teilen aus dem Militärtischen entlehnt: Sie verstand sich als „Avantgarde“; es wurden „Tarifstrategien“ und „Taktische Forderungen“ erstellt; man sprach von „Strikes“ oder „Wir marschieren“ (im Sinne von „streiken“). In diesem Zusammenhang galt die vorherrschende Meinung, man müsse einheitlich und mit geeinter Stimme auftreten, um etwas zu erreichen. Viele humanistische Vorstellungen, wie zum Beispiel Meinungspluralismus, wurden in der Arbeiterbewegung weitestgehend unterdrückt und negativ betrachtet. Eine Vielfalt an Meinungen wurde nicht als Stärke, sondern als Schwäche angesehen. Die Gewerkschaften waren stark hierarchisch und wenig basisorientiert organisiert und das es ist auch bis heute noch so, dass die strategischen Entscheidungen der Gewerkschaften von oben nach unten getragen werden, die Ziele vorgegeben werden und sich die Basis dorthin zu bewegen hat statt umgekehrt. Kontrolle spielt bis heute eine ganz wichtige Rolle: Nicht die Entfaltung der Mitglieder und ihrer Interessen, sondern die Kontrolle des Apparates steht im Vordergrund, sodass jedes gewerkschaftliche Flugblatt von der jeweils höheren Ebene der Genehmigung bedarf und zensiert werden kann.

Diese Vorstellungen sind bis heute weitestgehend erhalten geblieben. Besonders nach den gesellschaftlichen Veränderungen durch die 1960er Jahre ist es heute kaum vorstellbar, dass sich junge Arbeitnehmer in derart organisierten Gewerkschaften wohl fühlen und sich dort aktiv beteiligen mögen.

Zur Beantwortung dieser Fragen müsste eigentlich das Betriebsrätegesetz von 1920 und Betriebsverfassungsgesetz untersucht werden.

Die beschriebene deutsche Fehlentwicklung der Mitbestimmungsideologie muss kritisch untersucht werden – man würde zu dem Ergebnis kommen, dass es dem Gegenmodell der Selbstbestimmung entspricht.

Viele deutsche Arbeitsaktivisten stellen in den letzten Jahren fest, dass die Initiativen nicht von den verantwortlichen Behörden oder Gewerkschaften ausgeht, sondern dass es oftmals die individuelle gesellschaftliche Verantwortung von Bürgern ist, die Skandale im Arbeitsbereich öffentlich machen. Solches autonomes Verhalten, das doch recht stark verbreitet ist, erfüllt eine große Zahl von „linken“ Gewerkschaftsmitgliedern mit rosigen Zukunftshoffnungen.

Der Antwort wird von vielen deutschen Teilnehmern zugestimmt und es wird applaudiert

Nachfrage: Warum sind Sie noch Mitglied in einer deutschen Gewerkschaft, wenn sie sie doch so kritisch betrachten?

Das möchte ich mit einem Zitat eines US-amerikanischen Gewerkschafters beantworten: Die Gewerkschaften bilden den Raum für seine Mitglieder, die dort gesellschaftliche, politische, soziale, kulturelle, gesundheitliche Themen diskutieren und in Austausch treten können.

Ergänzung aus der deutschen Gruppe

Es ist unzutreffend zu behaupten, die Bürokratisierung der Gewerkschaften sei ein deutsches Problem. Es ist ein internationales Phänomen, das in vielen Staaten der Welt auf verschiedenen Kontinenten auftritt.

Leider dominiert in der kommunistischen und sozialdemokratischen Vorstellung von „Organisation“ das Führungsprinzip das Selbstorganisationsprinzip. Es gibt nur wenig Erfahrung mit autonomen gewerkschaftlichen Aktionen. Von daher ist das beschriebene Problem ein Problem von vielen Arbeitnehmern und ein guter Ansatzpunkt für Austausch und Zusammenarbeit.

Nachfrage: Warum haben sich auch die Betriebsräte bürokratisch entwickelt?

Das grundsätzliche Prinzip eines Betriebsrates ist, aus der großen Menge an Arbeitnehmern eine Gruppe heraus zu brechen, die stellvertretend für alle Arbeitnehmer des Betriebs handeln.

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3 Wenn sich die Gewerkschaften nicht aktiv im Sinne der Arbeitnehmer einsetzen - was können diese dann tun?

Antwort von Rolf Euler ehm. Vertrauensmann der IG Bergbau einer Zeche in Recklinghausen

Ich schätze, dass 80 Prozent der deutschen Gewerkschaften eine adäquate Vertretung der Gesamtbelegschaft darstellen. Wenn sich die Gewerkschaft aber nicht im Sinne der Arbeitnehmer einsetzt, bleibt nur die individuelle Aktion. In solchen Fällen sind Verbindungen in den Betriebsrat, zur Gewerkschaf oder anderen Vernetzungen (Internet) sehr hilfreich. Über diese Netzwerke können selbstständig Informationen verbreitet und auch Demonstrationen und Streiks organisiert werden. Solche sogenannten „Wilden Streiks“ sind in Deutschland aber sehr selten - der letzte „Wilde Streik“ fand vor 40 Jahren statt.

Im Ruhrgebiet gibt es einige Beispiele der oppositionellen Aufstellung von Betriebsrätelisten, die gegen die offizielle Liste aufgestellt worden sind.

Wenn man die Frage kurz beantworten möchte, ist auf den Zugarbeitergewerkschaft in Frankreich zu verweisen. Beispiele dieser Art gibt es in Deutschland nicht.

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4 Haben die Gewerkschaften passende Strategien, neue, junge Gewerkschafter zu organisieren?

Antwort von Nonni Morisse, Auzbildender bei Mercedes in Bremen – IG Metall Jugend

Die Gewerkschaften haben in den letzten zehn bis 15 Jahren so viele Mitglieder verloren wie lange nicht mehr, da sich die Arbeitsverhältnisse verändert haben und sich die Anzahl der traditionellen Arbeitnehmerschaft verringert hat. Gerade deshalb ist es den Gewerkschaften sehr wichtig, an den jugendlichen Auszubildenden anzuknüpfen. Die Hauptstrategie der großen Gewerkschaften ist es, Auszubildende in den großen Betrieben mit langfristigen und unbefristeten Arbeitsverträgen auszustatten. Diese Strategie funktioniert in der letzten Zeit nicht mehr so gut, da diese Arbeit durch das Stellvertreter-Prinzip in den Unternehmen verwässert wird.

Dazu gibt es gerade von der IG Metall die Kampagne „Operation Übernahme“, durch dass junge Arbeitnehmer in Betrieben übernommen werden, damit sie nicht in andere Arbeitsverhältnisse abrutschen, auf die die Gewerkschaft keinen Einfluss hat.

Auch bei Daimler in Bremen wurden ähnliche Aktionen dazu gemacht, da das Unternehmen 20% der Auszubildenden nicht übernehmen wollte. Durch gewerkschaftliche Aktionen wurde erreicht, dass diese 20% einen befristeten Arbeitsvertrag für ein Jahr erhalten haben.

Diese Kampagnen sind eine gute Möglichkeit, Selbstorganisation basisorientiert durchzuführen.

Der Grund für den großen Mitgliederverlust der Gewerkschaften ist, dass den jungen Arbeitern nicht klar ist, warum sie sich gewerkschaftlich organisieren sollen. Daher verfolgen sie andere Interessen.

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6 Werden Gewerkschaften von Parteien manipuliert und missbraucht?

Antwort von Jochen Gester AK Internationalismus IG-Metall Berlin

Ich beziehe mich bei der Beantwortung dieser Frage auf die jüngste Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, die Zeit von 1945 bis 1990.Die Gewerkschaften wurden im Westen durch die Sozialdemokratie und im Osten durch die SED im Sinne der Staatsräson instrumentalisiert. Auf der Strecke blieben elementare Arbeiterrechte. Das betrifft insbesondere das Koalitions- und Streikrecht. Im Westbn gibt und gab es kein Recht auf politischen Streik und ein Recht der Arbeitenden, selbständig in den Streik zu treten, existiert nicht. Noch einflussloser war die Gewerkschaft im Osten. Hier existierte ein freies Koalitions- und Streikrecht überhaupt nicht. Das möchte ich als Missbrauch einer Arbeiterinteressenvertretung bezeichnen.

Ergänzung

Von Dieter Wegner,  Jour Fixe Hamburg

Zwischen 1866 bis 1914 bestand immer ein Spannungsverhältnis zwischen der SPD und den Gewerkschaften. Dies wurde zum Beispiel durch die „Massenstreikdebatte“ sehr deutlich, die durch Rosa Luxemburg in die Parteien getragen wurde. Sie wurde von Teilen der Arbeiterbewegung dafür gefeiert und unterstützt; von anderen Teilen wurde sie stark kritisiert und ausgeschlossen.

Das Grundproblem liegt darin, dass unterscheidet wird zwischen „politischen Parteien“ und „Gewerkschaften“. Dies stellt eine Spaltung der Arbeiterschaft und ihrer Bewegung dar. Gewerkschaften vertreten die ökonomischen Interessen der Arbeitnehmerschaft - die Parteien vertreten die politische Interessen. Dies ist eine sehr tiefgreifende Spaltung der Arbeitnehmerbewegung in homo oeconomicus und homo politicus. Wir müssen uns überlegen, wie wir diese Spaltung zusammen überwinden können.

Beifall für die Antwort.

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7 Wie wird in der deutschen Öffentlichkeit über die Beseitigung von Arbeitslosigkeit gedacht und was halten Sie davon?

Antwort von Klaus Kerner, Betriebsrat bei Klingenberg in Ettlingen, IG Metall

Weite Teile der deutschen Medien gehen davon aus, dass die globale Finanz- und Wirtschaftskrise zu einem Nachfragerückgang und daher zu einem Abbau von Arbeitsplätzen führt. Dieser Zusammenhang wird als ein Naturgesetz angesehen. Zur Zeit sind dutzende Millionen Menschen in den OECD Staaten arbeitslos – ein Teil davon ist in der Tat auf die globale Finanz- und Wirtschaftskrise zurückzuführen.

Wie hat sich die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren entwickelt?

Offiziell gelten 3,5 Millionen Menschen in Deutschland als arbeitslos. Dennoch wird viel zu wenig darüber diskutiert, wie diese Massenarbeitslosigkeit bekämpft werden kann.

Zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit müssen wir eine radikale Kürzung der Arbeitszeit in Deutschland, hin zu einer 30-Stunden Woche - durchsetzen. In einigen europäischen Staaten wird eine noch drastischere Kürzung der Wochenarbeitszeit diskutiert. In diesem Zusammenhang muss es auch darum gehen, ein Entgelt- und Personalausgleich zu realisieren. Von den Beschäftigten werden diese Maßnahmen bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit als zentral angesehen – auch vor dem Hintergrund, dass sie fürchten, nach einem 12-monatigen (respektive 24-monatigen) Bezug von Arbeitslosengeld mit Unterstützung durch Hartz IV sehr tief fallen würden.

Zusätzlich zur radikalen Arbeitszeitverkürzung ist es notwendig, dass eine Konversion in der Produktion vorzunehmen.

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9 Wie hat sich der deutsche Arbeitsmarkt in den letzten 20 Jahren verändert?

Antwort von Bodo Zeuner, emeritierter Prof. des Otto Suhr Institut, FU Berlin

9.1. Soziale Veränderungen

In den letzten 20 Jahren ist der deutsche Arbeitsmarkt gekennzeichnet von einer sogenannten „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“, d.h. es gibt immer weniger Menschen, die in gesicherten, unbefristeten, tarifvertraglich geregelten Vollzeitarbeitsverhältnissen arbeiten und davon genug zur Existenzsicherung verdienen. Dagegen gibt es nun mehr Menschen, die nur befristete Arbeit haben und nicht genug verdienen: Diese arbeiten in sogenannten „Prekären Arbeitsverhältnissen“.

Außerdem haben wir in sozialer Hinsicht eine stärkere Polarisierung zwischen „Armen“ und „Reichen“ in Deutschland, es wird in diesem Zusammenhang des Öfteren vom „Öffnen einer Schere“ gesprochen. Die deutsche Wirtschaft ist gekennzeichnet von einem Rückgang der Industrie, insbesondere in Ostdeutschland. Dort sind ganze Landstriche bertroffen von Industrieabbau und Arbeitslosigkeit.

Des weiteren ist in Deutschland eine verfestigte, dauerhafte Einwanderung festzustellen. Diese Menschen haben zum Teil auch die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und sind fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Bei der nächsten Bundestagswahl im September 2009 sind über vier Millionen Menschen wahlberechtigt, die nicht deutsch-ethnischer Herkunft sind.

Im Verhältnis zwischen den Geschlechtern in Deutschland ist zu bemerken, dass das traditionelle Bild des geldverdienenden Mannes und der Hausfrau nicht mehr der Norm entspricht – selbst bei den meisten Konservativen.

9.2. Ökonomische Veränderungen

Auf der ökonomischen Ebenen haben wir es aufgrund einer immer stärkeren globalen Verflechtung mit einer verstärkten Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland zu tun, obgleich im Endergebnis die deutsche Wirtschaft von der Globalisierung profitiert. Deutschland ist zwar sehr exportstark - wird allerdings, zur Unzufriedenheit vieler Deutscher, vom sehr viel größeren China in einem natürlichen Aufholprozess als „Export-Weltmeister“ abgelöst.

Durch die Globalisierung und den Zusammenbruch kommunistischer Staaten in Osteuropa vollzog sich in Deutschland eine Machtverschiebung zugunsten der Kapitalseite. Die Gewerkschaften sind erheblich schwächer geworden in den letzten 20 Jahren. Sie haben kaum noch tarifpolitische Erfolge zu verzeichnen und verhindern nur hin und wieder Entlassungen – nicht selten unterstützen sie sogar Entscheidungen zu Ungunsten der Arbeitnehmer. Sie stimmen Verschlechterungen zu und sagen ihren Mitgliedern, dass es ohne die Gewerkschaft noch schlimmer gekommen wäre. Diese Praxis macht sie unter ihren Mitgliedern nicht beliebt und daher ist der Mitgliederrückgang der Gewerkschaften auch nicht verwunderlich.

Des Weiteren kam es in Deutschland in den letzten 20 Jahren zu einem verschärften Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben. In diesem Wettkampf- und Konkurrenzverhältnis wird die Solidarität der Arbeitnehmer untergraben.

9.3 Politische Veränderungen

Auf der politischen Ebene hat es zwar in den letzten zwei Jahrzehnten zwei Regierungswechsel gegeben (1998 und 2005); allerdings hat sich inhaltlich eine neoliberale Wirtschaftspolitik und eine marktradikale Ideologie weitestgehend durchgesetzt. Kurz gesagt bedeutet dies: Was der Staat macht, gilt von vornherein als falsch – was durch Privatwirtschaft reguliert wurde ist von grundauf gut. Bei der Privatisierung, Deregulierung und dem Abbau von Sozialleistungen hat sich (ausgerechnet) die Sozialdemokratie als besonders unternehmerfreundlich und marktgläubig herausgestellt.

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10 Hat der Marxismus heute noch Einfluss auf die Arbeitnehmerbewegung?

Antwort von Winfried Fleischmann, Vertrauensmann (VK-Leitung) der IG Metall bei Siemens Medical, Erlangen:

Vor einigen Jahren hat das Zweite Deutsche Fernsehen eine Umfrage gestartet, wer als die größten Deutschen angesehen werden. Zur Überraschung vieler landete dabei Karl Marx auf dem dritten Platz.

Natürlich hat die negative Entwicklung in der DDR bei vielen Menschen zu Vorbehalten gegenüber dem Sozialismus geführt, da sich die DDR als sozialistischer Staat bezeichnet hatte.

Aber viele begreifen auch dass hier nicht der Sozialismus gescheitert ist sondern ein bürokratisches staatskapitalistisches System.

Der Einfluss des Marxismus in Deutschland drückt sich heute vor allem in einem Linkstrend aus.

Dieser zeigt sich in zahlreichen gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen wie beispielsweise gegen Hartz IV, für einen Mindestlohn, gegen schlechte Studienbedingungen und im antifaschistischen Kampf.

Auch die Stimmenergebnisse bei den Wahlen z.B. für die Linkspartei sind dafür ein Anzeichen.

In Deutschland ist der Organisationsgrad der Arbeiter verglichen mit anderen europäischen Ländern relativ hoch und hier wurde auch zuerst die 35 Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich durchgesetzt. Verkürzung der täglichen Arbeitszeit gegen die steigende Ausbeutung und zunehmende Arbeitslosigkeit ist ein Grundsatz des Marxismus.

Mit dem Ausbruch der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise 2008 ist das Vertrauen in den Kapitalismus weiter erschüttert worden. Die Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem ist sehr groß z.B. mit der ungleichen Verteilung des Reichtums.

Es gibt ein gesteigertes Interesse an den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels.

Wenn der Schauspieler Rolf Becker Lesungen mit dem ‘Kommunistischen Manifest’ veranstaltet kommen jedes Mal hunderte von Besuchern.

Es gibt immer mehr Menschen in Deutschland, vor allem in den Gewerkschaften, die sich für die Verbreitung des Marxismus einsetzen.

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11 Wie kann der Kapitalismus überwunden werden?

Antwort von Klaus Neuwirth, Publizist

Wenn man heute feststellt, dass sich der Kapitalismus in einer kritischen Situation befindet, dann gilt diese Aussage nur eingeschränkt. Der Kapitalismus steckt zwar in seiner schwersten ökonomischen Krise seit der Wirtschaftskrise von 1929; es sind allerdings weit und breit keine gesellschaftspolitischen Kräfte zu erkennen, die ernsthaft an der Überwindung des Kapitalismus interessiert wären. Schaut man also auf die subjektiven Voraussetzung für eine Überwindung des Kapitalismus, dann ist das Gesellschaftssystem in keiner kritischen Situation.

In den hochentwickelten Staaten ist die Anzahl der Menschen, die den Kapitalismus beibehalten
wollen gegenüber denen, die ihn überwinden wollen, deutlich in der Mehrzahl. Wenn dies nicht akzeptiert wird, dann macht man sich Illusionen über unser aktuellen Möglichkeiten.

Die Frage „Wie kann der Kapitalismus überwunden werden?“ provoziert eine weitere Frage, nämlich „Wodurch könnte der Kapitalismus ersetzt werden?“.Es ist hier festzuhalten, dass es keine mehrheitsfähige Antwort in der Arbeiterbewegung auf die zweite Frage gibt.

Ohne gemeinsame Vorstellungen über die Ziele sozialer Emanzipation kann es aber keine gemeinsame, verändernde Praxis geben. Diese Ziele können nur gefunden und formuliert werden, wenn auch der „real existierende Sozialismus“ vorbehaltlos kritisiert wird.

Ein weiterer wichtiger Schritt zur Beantwortung der zweiten Frage ist die Auseinandersetzung der Arbeiterbewegungen im internationalen Maßstab. Eine soziale Bewegung, die den Kapitalismus überwindet, kann nur eine internationale sein.

12  Wie hat sich die Arbeiterkulturbewegung verändert?

Antwort von Klaus Neuwirth, Publizist

Die Arbeiterkulturbewegung entstand im 19. Jahrhundert auf der Basis der Prinzipien „Solidarität“ und „Selbsthilfe“. Ausgangspunkt war eine soziale Situation, in der keine Interessenvertretung der Arbeiter durch Kapital und Staat anerkannt wurde:
Es gab keine Kranken-oder Arbeitslosenversicherung, keine Möglichkeit und Unterstützung zur Weiterbildung, etc..

Die Arbeiterkulturbewegung war ein Bestandteil der Sozialdemokratie und des Marxismus und fand ihren organisierten Ausdruck in verschiedenen Vereinen, wie z. Bsp. Arbeitersportvereinen, Selbsthilfeorganisationen, etc. Diese Kulturvereine dienten der Sozialdemokratie in der Zeit der der staatlichen Verfolgung (Sozialistengesetze) als legaler Rahmen für ihre politische Arbeit.

Mit der Spaltung der Arbeiterbewegung vor dem Hintergrund des ersten imperialistischen Weltkrieges (Sozialdemokratie, Kommunistische Bewegung) spaltete sich auch die
Arbeiterkulturbewegung. Der Faschismus in Deutschland bedeutete schließlich eine verheerende Niederlage der Arbeiterbewegung von der selbstverständlich auch die Arbeiterkulturbewegung betroffen war.. Nach dem zweiten Weltkrieg gelang keine Wiederherstellung der
Arbeiterkulturbewegung, wofür auch objektive Veränderungen in der Gesellschaft verantwortlich waren und sind. An die Stelle einer spezifischen Arbeiterkultur als Teil einer großen sozialen Bewegung trat die nahezug uneingeschränkte Dominanz der bürgerlichen Masenkultur.