Fragen zum Herbst 1989

Zwanzig Jahre danach - 15 Fragen zur DDR. Antworten dazu in den folgenden Artikeln von Silvia Müller: »Mein kurzer Herbst der Utopie« und Gert Sczepansky: »Klassen waren künstliche Gebilde«
  1. Die DDR war ihrem Anspruch nach der Versuch einer sozialistischen Alternative zur kapitalistischen BRD. Hat es Phasen in Deinem Leben gegeben, in denen Du von der Machbarkeit dieser Alternative überzeugt warst, bzw. wann hast Du den Glauben daran verloren?
  2. Was war die DDR – möglicherweise trotz und jenseits ihrer Selbst-Etikettierung als »Sozialismus« – für die Menschen, und welche Konsequenzen hatte die jeweilige Interpretation dieser Gesellschaft? Hat sich die DDR bezüglich ihrer regierungsoffiziellen Selbsteinschätzung und ihrer Wahrnehmung in der Bevölkerung seit ihrer Gründung verändert? Hat sich Deine Einschätzung der DDR nach 1989 geändert, wenn ja wie?
  3. Was waren die Gründe für den Zusammenbruch der DDR? War sie ökonomisch am Ende, wie immer behauptet wird, oder war sie eher politisch und/oder moralisch delegitimiert? Stimmt der Satz aus dem express 4/1990: »Die ›konkrete Utopie‹ der meisten DDR-Bürger ist die BRD«?
  4. War der Umbruch von 1989 Deiner Einschätzung nach eine Revolution?
  5. Während der »Wende« gab es einige bekannte Auseinandersetzungen (z.B. Bischofferode), in denen Belegschaften sich gegen ihre Abwicklung zur Wehr gesetzt haben. Doch im Normalfall schienen die Werktätigen eher darauf gesetzt zu haben, dass die Kapitalisten aus dem Westen die Betriebe modernisieren und ihnen eine Zukunft bieten. Kann man daraus schließen, dass das erklärte Volkseigentum den Produzenten wenig galt? Wie würdest Du das Verhältnis der Beschäftigten zu ›ihren‹ Betrieben beurteilen? Hat es 1989 innerhalb der Belegschaften noch oppositionelle Traditionen der Arbeiterbewegung gegeben, die die Möglichkeit eröffnet hätten, die DDR in einem sozial-emanzipatorischen Sinne zu verändern, oder waren diese Traditionen schon vorher zerstört worden?
  6. Welche Bedeutung hatten die Betriebe gesellschaftlich und für die Individuen in der DDR? Wirkt sich das noch heute aus? Was kann man über die Bewusstseinslage der Belegschaften in der DDR, 1989 und dann danach sagen? Was war die DDR für die Beschäftigten? Was hieß eigentlich Klasse in der DDR?
  7. Welche Rolle spielten die Betriebe in den Umbrüchen 1989? Gab es eine betriebliche Opposition? Welche betrieblichen Erfahrungen spielten in den Umbrüchen 1989 eine Rolle? Wieso gab es 1989 so wenige Streiks, wie kam es im Herbst 1989 dann doch zu der Forderung nach einem Generalstreik, und warum kam dieser nicht zustande? Was ist aus der Initiative für unabhängige Gewerkschaften (IUG) geworden?
  8. Wichtiger Akteur der Wende 1989 in der DDR war die Bürgerbewegung, die mit dem Slogan »Wir sind das Volk« zu großen Demonstrationen gegen die damaligen DDR-Autoritäten mobilisieren konnte. Wie hast Du an diesen Aktionen teilgenommen? Später wurde daraus dann die Parole »Wir sind ein Volk«. Wie bewertest du den Übergang von der ersten zur zweiten Losung? War dies nur folgerichtig, oder drückte es eine veränderte Orientierung aus?
  9. Was war die Rolle des FDGB in der DDR, und spielte er eine Rolle für die Opposition? Wie ist die Fusion der FDGB-Gewerkschaften mit den West-Gewerkschaften gelaufen? (Übernahme der Karteikästen? Fusion, Eintritt oder Beitritt? Umgang mit vorhandenem Personal, mit den Häusern und Geldern...?) Welche Strategie hatten die West-Gewerkschaften, und wie traten diese ihren KollegInnen im Osten gegenüber auf? Welche Überlegungen gab es zu etwas Neuem – jenseits von FDGB und DGB. Warum haben diese sich nicht durchsetzen können?
  10. Wenn man heute als Besucher durch die östlichen Bundesländer fährt und seine Eindrücke mit denen aus den 70er oder 80er Jahren vergleicht, ergibt sich ein gemischtes Bild. Man läuft durch aufgemotzte Innenstädte, gegen die die alten DDR-Fassaden trostlos und ärmlich wirken, und auf den ersten Blick erkennt man keine Unterschiede zu vergleichbaren Orten im Westen. Doch gleichzeitig liegt die Erwerbslosigkeit im Osten durchschnittlich fast doppelt so hoch wie in den westlichen Bundesländern, und der Exodus in die alte BRD hat zu ausgestorbenen Gebieten geführt. Auch sind Armutslöhne im sog. Beitrittsgebiet besonders vertreten. Wie beurteilst du Fortschritte und Rückschritte in der gesellschaftlichen Entwicklung? Gibt es letztere nur in Bezug auf die BRD oder auch in Bezug zur DDR?
  11. Empfindest du die Bundesrepublik nach wie vor als gespalten und wenn ja, woran machst du das fest?
  12. In der DDR gab es anders ausgeprägte gesellschaftliche Einrichtungen, die auch das zivile Leben mitgeprägt haben, z.B. im Bildungswesen, in der Gesundheitsbetreuung oder auch in der Organisation des nachbarschaftlichen Lebens. Sind diese Einrichtungen nach westdeutschen Standards geschliffen worden, oder haben sie auf bestimmte Weise bis heute überlebt? Wenn ja, was hat dies es für Auswirkungen auf das Gesellschaftsverständnis des Einzelnen in der Gegenwart?
  13. Durch die Politik der Treuhand und der Bundesregierung kam es zur Demontage eines wesentlichen Teils der industriellen Kapazitäten der DDR, die nicht durch vergleichbare industrielle Neuansiedlungen kompensiert wurde. Welche Auswirkung hat dies auf die Sozialstruktur in den neuen Ländern, insbesondere auf Klassenstrukturen und gewerkschaftliche Interessenvertretung der Arbeiterklasse im Osten?
  14. Die bereits in der DDR vorgefundenen neofaschistischen Strukturen sind mit Hilfe von Neonazi-Kadern der alten Bundesrepublik nach der Wende auf erschreckendeWeise stabilisiert und ausgeweitet worden. Welche Gefahren siehst du in dieser Entwicklung, und wie können hier erfolgreich Dämme gebaut werden?
  15. Die Linkspartei ist im Osten stärker vertreten als in den westlichen Bundesländern, doch neigen ihre Repräsentanten noch stärker zu einer Politik der Anpassung an die kapitalistischen Verhältnisse als die aus der WASG und linken Gruppen entstandenen Westverbände. Die Zahl derjenigen, die sich eine Rückkehr der DDR wünschen, hat in Umfragen nie die 20-Prozent-Marke überschritten. Auch sind nicht wenige der durch die Medien bekannt gewordenen Aktivisten der Bürgerrechtbewegung konservativ geworden. Wo siehst Du die noch vorhandenen oder neu entstehenden emanzipativen Kräfte in den neuen Ländern,  die sich heute gegen rechte Tendenzen zur Wehr setzen und über den kapitalistischen Status quo hinaus zu denken bereit sind?