Zur sozialen Situation in Deutschland

Ein Reader von deutschsprachigen Artikeln, die in den letzten Jahren im Rahmen des Forum Arbeitswelten ins Chinesische übersetzt wurden. Zusammengestellt (auf Chinesisch) für eine Begegnungsreise des Forums Arbeitswelten e.V. nach China im Mai-Juni 2013 ist er den Gesprächspartnern gedruckt bzw. als Datei überreicht worden

Vorwort:
Wird das deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem seinem weit verbreiteten
Ruf gerecht, ökonomische Leistungsstärke mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden?
Welche Rolle spielen heute Staat, Arbeitgeber, Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Kräfte, wenn es um die Gestaltung von Wirtschaft, Arbeits- und Lebensverhältnissen in Deutschland geht? In welcher Weise ist Deutschland von der weltweiten Krise des neoliberalen Kapitalismus betroffen? Wie hat sich die deutsche Vereinigung von 1990 auf die jüngsten Entwicklungen ausgewirkt?

Fragen wie diese standen im Zentrum von Besuchen chinesischer SozialaktivistInnen in Deutschland, die das „Forum Arbeitswelten China-Deutschland“ im Rahmen seines bilateralen Austauschprogramms der letzten Jahre organisiert hat. Den Hintergrund dafür bilden sowohl Grundsatzfragen und Widersprüche, die der tiefgreifende ökonomische Wandel in China seit der
Weltmarköffnung 1978 ausgelöst hat, als auch die Suche nach einer besseren Kenntnis des „Modells Deutschland“. Bei den vielfältigen Begegnungen mit deutschen SozialaktivistInnen aus Gewerkschaften, Betriebsräten, wissenschaftlichen Einrichtungen und Frauenorganisationen mussten naturgemäß viele Fragen offen bleiben.

Ein für Mai-Juni 2013 geplanter China-Besuch von sechs deutschen Mitgliedern des
Forums Arbeitswelten  verfolgt nun das Ziel, die angestoßenen Debatten über Hintergründe und Entwicklungen der sozialen Situation in Deutschland mit chinesischen PartnerInnen zu vertiefen. Dabei soll auch auf beiden Seiten nach Konsequenzen für das eigene Handeln gesucht sowie über die Fortsetzung des Austauschs und der Kooperation gesprochen werden.

Der vorliegende Reader mit dem Titel „Zur sozialen Situation in Deutschland“ greift
Themen aus zentralen Fragestellungen von chinesischen Deutschland-BesucherInnen der letzten Jahre auf und geht darüber hinaus auf zusätzliche Themen-Wünsche von GastgeberInnen während der geplanten China-Reise im Mai-Juni 2013 ein.

In diese Sammlung wurden Texte aufgenommen, die schon in chinesischer Sprache vorhanden waren. Viele stammen aus dem Bericht „Eine Reise durch Fabriken in Deutschland“, in dem eine Gruppe von GewerkschafterInnen und gewerkschaftsnahen WissenschaftlerInnen aus Beijing und Guangzhou ihre Erkenntnisse aus einem Deutschland-Besuch im Jahre 2008 schildert. Dieser Bericht ist in China als Buch erschienen, herausgegeben vom ACFTU. Einige Beiträge
stammen aus Dokumenten der Besuche anderer chinesischer Gruppen in Deutschland. Viele Texte sind bereits vom „Forum Arbeitswelten“ übersetzt und auf der website www.forumarbeitswelten.de veröffentlicht worden. Einige Texte wurden von den Mitgliedern unserer Gruppe für den Besuch im Jahre 2013 neu geschrieben. Sie sind von Lydia Willnhammer übersetzt worden. Dieser Reader liegt in deutscher und in chinesischer Fassung vor. Die Redaktion lag bei Bian Shuwen, Ingeborg Wick und Bodo Zeuner.

Das erste Kapitel des Readers gibt die Sichtweisen und Fragestellungen bisheriger chinesischer BesucherInnen wieder und liefert eine systematische, zusammenfassende Charakterisierung des deutschen Systems der Sozialpartnerschaft und seiner Erosion durch Globalisierung und Prekarisierung. Im zweiten Kapitel geht es um die Gründe für den Ausbruch und den Verlauf der Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa, deren Lasten auf die Bevölkerung und abhängig Beschäftigten abgewälzt werden. Im dritten und vierten Kapitel werden die zwei unterschiedlichen Interessenvertretungen der abhängig Beschäftigten in Deutschland, die Gewerkschaften und die Betriebsräte, mit ihren jeweiligen Entstehungsbedingungen, unterschiedlichen Funktionen und aktuellen Schwierigkeiten analysiert. Dabei werden die theoretischen Darlegungen durch Praxisbeispiele ergänzt. Das fünfte Kapitel behandelt die Frage der Geschlechterverhältnisse in der Arbeitswelt, für die der wachsende Trend eines
Aufstiegs einiger qualifizierter Frauen und der Marginalisierung prekär arbeitender Frauen einerseits und die ungerechte Verteilung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Hausarbeit andererseits charakteristisch ist. Das Thema des sechsten Kapitels ist die Arbeit von MigrantInnen in Deutschland, die großenteils im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, was in besonderer Weise auf die irregulär in Deutschland lebenden MigrantInnen zutrifft. Eine Industriebranche, für die ein hoher Anteil prekarisierter Arbeit und migrantischer Beschäftigung typisch ist, ist die Bauindustrie. Diesem Thema widmet sich das siebte Kapitel. Im achten Kapitel wird dargelegt, wie es multinationalen Unternehmen in den letzten Jahren gelang, mit
ihrer Politik der „Corporate Social Responsibility“ (CSR) die neoliberal forcierte Privatisierung von arbeitsrechtlichen Bestimmungen voran zu treiben. Im neunten Kapitel werden anhand eines Rückblicks zweier betroffener ostdeutscher Aktiver und der Beobachtungen der chinesischen Reisegruppe von 2008 die Fehlentwicklungen in der früheren Deutschen Demokratischen Republik und die widersprüchlichen Folgen der deutschen Vereinigung 1990 erläutert. Am Schicksal eines deutschen sozialversichert beschäftigten Arbeiters macht das zehnte abschließende Kapitel deutlich, wie sehr in den letzten Jahrzehnten das deutsche
Sozialversicherungssystem ausgehöhlt worden ist.

Anhand des vorliegenden Readers erhofft sich die deutsche Reisegruppe im Mai-Juni 2013 einen fruchtbaren Austausch mit ihren chinesischen PartnerInnen. Ihre Mitglieder freuen sich auf neue Erkenntnisse und die Weiterentwicklung von gemeinsamen Fragestellungen als Grundlage für weitere Begegnungen.

Bian Shuwen, Ingeborg Wick, Bodo Zeuner
Bielefeld/Bonn/Berlin, den 11. Mai 2013