ArbeiterInnen als verfügbare Masse — Chinesische Beschäftigung im wirtschaftlichen Abschwung

Der Artikel von Au Loong Yu ist vom Januar 2009, war Bestandteil des ersten "Übersetzungspakets" des Forum Arbeitswelten und versucht anhand einer damals aktuellen Analyse eine grundsätzliche Kritik der Entwicklung Chinas zu leisten.

ArbeiterInnen als verfügbare Masse — Chinesische Beschäftigung im
wirtschaftlichen Abschwung


Von Au Loong-yu


Die globale Finanzkrise fordert inzwischen auch in China ihren Tribut. Chinas Exporte
sind rapide gesunken. In der Provinz Guangdong, deren Exportproduktionszonen 20
Mio. ArbeiterInnen beherbergen, wurden Zehntausende WanderarbeiterInnen entlassen
und sind in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt. Die Zahl der heimkehrenden
Wanderarbeiter soll für ganz China laut unterschiedlicher Schätzungen bei vier bis
neun Mio. liegen. Ende Januar 2009, wenn die Feiertage um das chinesische Neujahr
beginnen, werden weitere Millionen nach Hause fahren. Viele von ihnen werden dort
bleiben müssen, denn die Welle der Fabrikschließungen wird sich bis dahin noch
verstärkt haben.


Die Lasten auf die ArbeiterInnen abwälzen


Tausende WanderarbeiterInnen haben erleben müssen, wie ihre Arbeitgeber
verschwinden, ohne ihnen die ausstehenden Löhne zu bezahlen. Sie müssen darum
kämpfen, wenigstens einen Teil der Löhne noch zu bekommen. Straßenblockaden und
Demonstrationen sind kein seltenes Bild. Wenn ihre Aktionen groß genug sind, gelingt
es den ArbeiterInnen häufig, die lokalen Behörden dazu zu zwingen, ihnen zumindest
genug für die Heimreise in ihre Dörfer zu bezahlen. Damit kommen die Behörden
allerdings nicht nur den Forderungen der Beschäftigten nach, sondern handeln auch
zum eigenen Vorteil: Schließlich ist es viel sicherer, die WanderarbeiterInnen nach
Hause zu schicken, als ganze Reservearmeen arbeitsloser und mittelloser Menschen in
den Städten zu behalten. Schon zu Beginn des ökonomischen Abschwungs hatten die
Zentralregierung sowie die Provinzregierungen hastig angekündigt, ökonomische
Anreize schaffen zu wollen, um die entlassenen WanderarbeiterInnen dazu zu
bewegen, nach Hause zurückzukehren und auf ihren kleinen Parzellen Landbau zu
betreiben oder kleine Unternehmen zu gründen. Obwohl auch davon gesprochen wird,
die Arbeitsplätze der Wanderarbeiter schützen zu wollen, beschränkt sich dieser Schutz
entweder auf bloße Appelle an die Unternehmen, bei den Entlassungen „umsichtig“
vorzugehen, oder auf aktive Unterstützung der Unternehmen im Hinblick auf Kredite,
um deren Liquidität aufrecht zu erhalten. Dabei kann die Verfügbarkeit von Krediten
zwar vielleicht die Folgen von Fabrikschließungen abmildern, sie hat aber keinen
direkten Einfluss auf die Beschäftigtenzahlen. Denn obwohl reihenweise
Fabrikschließungen zwangsläufig Massenarbeitslosigkeit verursachen, bedeuten
weniger Fabrikschließungen nicht unbedingt, dass die Arbeitslosigkeit sinkt. Das US Hilfsprogramm für die Banken hat weder dazu geführt, dass diese wieder bereitwilliger
Kredite geben, noch hat es ihre Neigung verringert, Beschäftigte zu entlassen. In China
steht ähnliches zu erwarten. Kurz: der aktuelle Rettungsplan kommt den Unternehmen
zu Gute, nicht den Beschäftigten.
Darüber hinaus helfen die Zentralregierung und die Provinzregierungen den
Arbeitgebern praktisch dabei, die Lasten der Wirtschaftskrise auf die ArbeiterInnen
abzuwälzen. Das Ministerium für Humanressourcen und Soziale Sicherheit hat am 17.
November 2008 ein Einfrieren des Mindestlohns verkündet, „um den Firmen zu helfen,
sich gegen den wirtschaftlichen Abschwung zu behaupten“.1 Prompt wies die All-
China Federation of Trade Unions (ACFTU) der Provinz Guangdong die
ArbeiterInnen an, mit den Bossen an einem Strang zu ziehen, um die Krise zu
überwinden, und kollektive Lohnverhandlungen bei angeschlagenen Unternehmen zu
unterlassen. Der Guangzhou Daily wandte sich mit dem Aufruf an die Beschäftigten, es
müssten „alle beteiligten Parteien dazu beitragen, die Schwierigkeiten gemeinsam zu
überwinden.“2
Die Regierung hat ein Konjunkturprogramm von vier Billionen Yuan (ca. 418 Mrd.
Euro) angekündigt, das die Wachstumsrate auf 8 Prozent halten soll. Die offiziellen
Medien versichern der einfachen Bevölkerung, dieses Ziel sei vorrangig: Es werde
helfen, Arbeitsplätze zu erhalten.
Der Economist vom 15. November 2008 stellt die Vermutung an, das Wachstum werde
in China nächstes Jahr ohne Regierungshilfe wohl auf unter 6 Prozent sinken. Nun
kann das Konjunkturprogramm dem Vertrauen der Unternehmen vielleicht wieder auf
die Beine helfen, aber kann es das Wachstum auch bei 8 Prozent halten? Optimisten
mögen darauf hinweisen, dass China im Gegensatz zu den USA keine Probleme mit
Subprime-Krediten und Schattenbanken hat. Chinas Banken sind gesünder geworden,
seit die Regierung um die Jahrhundertwende uneinholbare Außenstände im Wert von
Milliarden Yuan von ihnen übernommen hat. Heute bestehen nur noch 6 Prozent statt,
wie damals, 40 bis 50 Prozent ihrer Bestände aus faulen Krediten. Darüber hinaus sind
sowohl die individuelle Haushaltsverschuldung als auch die Staatsverschuldung im
Verhältnis zum BIP gering, jedenfalls viel geringer als in den meisten Ländern.3
Pessimisten andererseits beharren darauf, dass Chinas Ökonomie ein Wachstum von 8
Prozent trotz Konjunkturprogramm nicht wird halten können, da der Außenhandel 70
Prozent im Verhältnis zum BIP beträgt, was für ein großes Land ein ungewöhnlich
hoher Anteil ist, und da entsprechend ein riesiger Anteil des Investitionsvolumens an
der Exportproduktion hängt.


Rettungspaket für die Reichen, steigende Arbeitslosigkeit für die Bevölkerung


Auch wenn das Konjunkturprogramm die Wachstumsrate 2009 bei 8 Prozent halten
könnte, brächte das wenig für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Chinas Wachstum
findet nämlich schon seit langem ohne eine entsprechende Zunahme von
Arbeitsplätzen statt. 2005 hat die Internationale Arbeitsorganisation ILO eine Studie
über den Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum und der Schaffung von
Arbeitsplätzen erstellt. Dabei fand sie heraus, dass zwischen 1990 und 2002 ein
Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 9,3 Prozent jeweils nur zu einer
Arbeitsplatzzunahme von 0,8 Prozent geführt hat, während es im produzierenden
Gewerbe sogar zu einem Rückgang von Arbeitsplätzen kam. Nicht verwunderlich also,
dass die Arbeitslosenquote trotz bislang üppigen Wirtschaftswachstums hoch ist. Der
aktuellen offiziellen Arbeitslosenquote von 4 Prozent wird allgemein wenig
Realitätsgehalt beigemessen. Die Chinese Academy of Social Science sieht die Quote
vielmehr bei 9,4 Prozent.4 Auch dies ist aber eine zu niedrige Schätzung, denn sie
beinhaltet nicht die in ihre Dörfer zurückgekehrten WanderarbeiterInnen. Unter dem
hukou-System zur Registrierung von Haushalten werden WanderarbeiterInnen vom
Land selbst dann in den Städten noch als Fremde betrachtet, wenn sie dort seit einem
Dutzend Jahren arbeiten. Daher werden ihnen grundlegende soziale Rechte
vorenthalten, auf die Stadtbewohner einen Anspruch haben, z.B. formelle
Arbeitsverhältnisse mit sozialer Absicherung, Bildung für ihre Kinder, bezahlte
medizinische Versorgung etc.
Noch empörender ist aber: Während die Arbeitslosenversicherung inzwischen die
ungeheure Summe von 120 Mrd. Yuan angehäuft hat, besteht für die lokalen Behörden
nur wenig Anreiz, den Arbeitslosen nun auch Hilfen daraus auszuzahlen. Die Zahlen
sind nicht öffentlich zugänglich, aber in Guangzhou soll die Arbeitslosenversicherung
im September 2008 bei einem Bestand von 8,5 Mrd. Yuan lediglich 0,3 bis 0,5 Mrd.
Yuan an die Arbeitslosen ausgezahlt haben. Nach dem Grund gefragt, sagte ein
zuständiger Beamter: „Wir haben von der Zentralregierung keine Direktiven erhalten,
wie das zu handhaben ist.“5 Die meisten WanderarbeiterInnen vom Land sind von
Auszahlungen ausgeschlossen, da sie nicht als Stadtbewohner, sondern nur als
nongmingong gesehen werden, also wörtlich als „Landarbeiter“.
Wirtschaftswachstum hat aber nicht nur mit der Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern
auch mit Lohnzuwachs wenig zu tun. Nach einem Bericht der Weltbank ist in China
der Anteil der Löhne am BIP zwischen 1998 und 2005 von 53 auf 41,4 Prozent
gesunken (zum Vergleich: 57 Prozent in den USA).6 Das Mindestlohngesetz hat wenig
dazu beigetragen, diesen Lohnverfall aufzuhalten, weil er so niedrig ist, dass er kaum
mehr als 30 Prozent des Durchschnittslohns entspricht (zum Vergleich: 50 Prozent in
Thailand und den USA).
Für Arbeitsplätze und Löhne bedeutet das: Selbst wenn es mit Hilfe des
Rettungspaketes gelingt, das Wirtschaftswachstum in diesem Abschwung bei 8 Prozent
zu halten, wird dies auch weiterhin nicht dazu führen, genügend Arbeitsplätze zu
schaffen. Und wenn die Wachstumsrate unter 8 Prozent rutscht, werden trotz des
Konjunkturprogramms ein unmittelbarer, noch gravierenderer Anstieg der
Arbeitslosigkeit sowie sinkende Löhne die Folge sein. Das wird besonders deutlich,
wenn wir uns den Inhalt des Paketes ansehen. Trotz einer Rhetorik, die auf die
Schaffung von Arbeitsplätzen und auf die Sicherung des Lebensunterhalts der
Menschen abhebt, beinhaltet das Paket nur wenige Ressourcen, die direkt darauf
abzielen, den Anteil der Löhne und Sozialleistungen auf ein vernünftiges Niveau zu
heben. Nach wie vor wird dem Aufruf zu einer Reform der sozialen Absicherung nicht
nachgekommen, die eine kostenlose Gesundheitsversorgung und höhere Bildung
beinhalten müsste, ein wirksameres Arbeitslosen- und Rentenversicherungssystem mit
einem höheren Beitrag des Staates etc. In Missachtung des wichtigen Argumentes, dass
eine umfassendere soziale Sicherung den Menschen ein Gefühl von Sicherheit geben
und sie dazu motivieren würde, ihr Geld auszugeben, anstatt es zu sparen, ist laut
Newsweek lediglich ein Prozent des gesamten Paketes für Gesundheitsversorgung,
Kultur und Bildung vorgesehen. Huang Ming, Professor der US-amerikanischen
Cornell University, der in Beijing an der Cheung Kong Graduate School of Business
lehrt, sagt: “Es liegt im Interesse der Regierung, schnell ein Netz sozialer Absicherung
zu entwickeln. Das wird den Konsum ankurbeln. [Die Chinesen] sparen, weil sie Angst
haben, krank zu werden.“7 Die Sparquote liegt in China bei 46 Prozent (zum Vergleich:
in den USA bei Null). Das wirkt in einem wirtschaftlichen Abschwung
kontraproduktiv, da weniger Geld in den Konsum fließt. Dennoch gibt es wenig
Anzeichen dafür, dass die Regierung auf den Wohlfahrtsstaatsdiskurs einschwenkt. Ein
Großteil der vier Billionen Yuan wird für Infrastruktur ausgegeben. Das schafft zwar
Arbeitsplätze, kann aber aufgrund seines kapitalintensiven Charakters nicht so viele
ersetzen, wie in der Exportproduktionsbranche verloren gehen. Darüber hinaus wird
der Bau von Straßen und Eisenbahnen nicht unbedingt eine stotternde Wirtschaft
anschieben, solange Investoren nicht daran glauben, dass sie ihre Produkte auch
verkaufen können – und dieses Vertrauen können sie bei steigender Arbeitslosigkeit
nicht haben.
Da es weder Transparenz noch demokratische Kontrolle gibt, wird die Regierung das
Rettungsgeld wohl kaum gerecht verteilen. Selbst die zensierte Presse hält es für
notwendig, vor Korruption zu warnen. Der Legal Daily konstatiert, das Paket werde
„einen scharfen Konkurrenzkampf der Provinzregierungen um Projekte“ mit sich
bringen, und „hinter diesen großen Projekten steht immer die große Korruption.“8 Ein
Teil des Paketes ist für den Wiederaufbau in der Region Sichuan gedacht, wo ein
Erdbeben den Kreis Wenchuan zerstört hat. Seit Mai 2008 wurden 40 Mrd. Yuan
gespendet, aber zu Winteranfang gab es immer noch 100.000 Opfer, darunter viele
Kinder, die noch nicht einmal ein Paar Winterschuhe besaßen.9 Das erinnert uns wieder
einmal daran: Von dem Paket werden zuallererst die Machteliten profitieren.
Modell für wen?
Seltsamerweise gibt es Beobachter, die China als Modell für Entwicklungsländer sehen
– oder sogar für die ArbeiterInnen – und die dem Aufstieg von China Beifall zollen als
einem Entwicklungsmodell, das eine Alternative zum Neoliberalismus biete. Hier ist
kein Platz, um diesem Thema auf den Grund zu gehen. Ich möchte lediglich darauf
hinweisen, dass China in fast jedem Detail dem Kurs von Korea folgt: ein autoritäres
Regime, das aktiv schnelle Akkumulation und Exportorientierung auf Kosten der
Werktätigen unterstützt, indem es den letzteren grundlegende Bürger- und
Arbeitsrechte verweigert.10
Ich habe das anhaltende Sinken des Lohnanteils am BIP erwähnt. Nun würde ich gerne
die andere Seite derselben Medaille diskutieren: Der Anteil des Profits am BIP ist im
selben Zeitraum dramatisch angestiegen. Der chinesische Wissenschaftler Wang Lianli
schreibt, dass das Verhältnis zwischen Löhnen und Profit in der Produktion zwischen
1990 und 2005 von 1:3,1 auf 1:7,6 gestiegen ist.11 Neben extravaganten
Konsumausgaben investieren oder sparen die Neureichen ihr Geld, daher die extrem
hohe Sparquote und Investitionsrate. Jahrzehntelang betrug der Investitionsanteil an
Chinas BIP über 40 Prozent, ist damit doppelt so hoch wie in den USA und liegt an der
Spitze der größten asiatischen Länder, inklusive Korea zu seinen besten
Industrialisierungszeiten.12 Dennoch können die Kräfte der kapitalistischen
Entwicklung die Polarisierung zwischen Reich und Arm nicht verschärfen, ohne damit
der weiteren Entwicklung Steine in den Weg zu legen. Hohe Profite nehmen die Löhne
in die Zange und verursachen so eine langfristige Abnahme des privaten Konsums.
Zwischen 1992 und 2006 ist der Anteil des privaten Konsums am BIP von 47 auf 36
Prozent gesunken, während er in Südkorea, Indien, Großbritannien, Australien und
Japan über 50 Prozent beträgt.13 Die Weltbank stellt fest, dass ein Großteil des
Konsumrückgangs in China mit dem Sinken des Lohnanteils am BIP erklärt werden
kann. So erzeugt Chinas schnelle Akkumulation auf Basis der brutalen Ausbeutung von
ArbeiterInnen und BäuerInnen ihrerseits ein massives Ungleichgewicht zwischen
Konsum und Investitionen, bzw. präziser: Unterkonsumtion und Überinvestition.
Damit bleibt Produktionskapazität ungenutzt, was wiederum eine steigende
Abhängigkeit von Exporten zur Folge hat, wenn die Investitionen etwas abwerfen
sollen. Mit einem US-Markt in der Rezession ist dieses chinesische Modell am Ende.
Bereits vor dem Beginn der US-Krise war sich die Regierung der Schwäche ihres
Wachstumsmodells bewusst. Im April 2008 sprach Präsident Hu Jintao von der
Notwendigkeit, den Entwicklungsmodus vom exportgeleiteten Wachstum zu einer
stärkeren Betonung einheimischen Wachstums zu verschieben, indem man die
einheimische Nachfrage ausweitet. Kein Wachstumsmodell kann allerdings ohne
gewisse Restrukturierung geändert werden, und die Restrukturierung selbst wird nicht
wohlfeil zu haben sein. Die einzige Frage lautet: Wer muss dafür bezahlen? Wie immer
muss die Antwort auf diese Frage zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen
Gruppen ausgehandelt werden, entweder auf institutionellem Weg oder durch soziale
Aktionen. In einem Land, das keine grundlegenden Bürger- und Arbeitsrechte
garantiert, begünstigen die Kräfteverhältnisse zwangsläufig massiv die Starken
(Bürokratie und Unternehmer). Damit ist wohl unvermeidlich, dass die Beschäftigten,
vor allem die WanderarbeiterInnen die größte Last der Restrukturierung werden tragen
müssen. Die 150 Millionen MigrantInnen vom Land werden zur verfügbaren Masse:
Wenn die Geschäfte gut laufen, werden sie hergerufen, um zwölf Stunden am Tag in
den Sweatshops zu knechten. Dann wird ihnen sogar das Recht auf Kündigung
verweigert, wenn sie lieber wieder zurück in ihre Dörfer gehen wollen, anstatt weiter
sklavereiähnliche Arbeitsbedingungen zu ertragen.14 Wenn die Geschäfte schlecht
laufen, wird ihnen gesagt, sie sollen nach Hause gehen und ihr jämmerliches Stück
Land bestellen. In gewisser Weise ist der Status der WanderarbeiterInnen als
BürgerInnen zweiter Klasse mit dem der Frauen als zweitem Geschlecht unter
kapitalistischen Bedingungen vergleichbar: als letzte eingestellt und als erste gefeuert,
wenn die Krise kommt. Im Licht dieser neuen Erfahrungen in der Krise erscheint es
doppelt abwegig, China als alternatives Modell für die Werktätigen hochzuhalten.
Man muss verstehen, dass wir hier nicht wie schon seit zwanzig Jahren Zeugen eines
normalen Wirtschaftszyklus werden. Dies ist vielmehr eine Krise im Kern des
chinesischen Wachstumsmodells und damit nicht einfach eine wirtschaftliche, sondern
auch eine gesellschaftliche Krise. Ähnlich wie Korea wird auch China zwangsläufig
mit seiner eigenen Krise konfrontiert, wenn die US-geführte Globalisierung gegen die
Wand läuft. Damit will ich nicht sagen, dass China zwangsläufig eine genauso schwere
Krise wie den USA bevorsteht; das würde uns auf ein zu weites Feld führen. Unsere
Sorge gilt der Tatsache, dass selbst bei einem moderaten Abschwung die
Konsequenzen für die werktätigen Menschen gravierend sind, vor allem für die
WanderarbeiterInnen vom Land. Immerhin ist hier etwas Neues zu beachten: Die
ArbeiterInnen sind sich heute ihrer Rechte in einem viel höheren Maße bewusst als
noch vor zehn Jahren. Die größten Erfolge ihrer spontanen Streiks während der letzten
zehn Jahre sind nicht nur die ökonomischen Errungenschaften, sondern der faktische
Zusammenbruch des Streikverbots. Streiks sind so häufig geworden, dass das Verbot
praktisch nicht mehr gilt. Die lokalen Behörden müssen sich nun auf den wachsenden
Widerstand einstellen. Gewerkschaftliche Organisierung ist immer noch ausgesprochen
schwierig. Dennoch wird sich die immer gieriger und korrupter agierende Elite im
kommenden wirtschaftlichen Abschwung mit einer werktätigen Bevölkerung – oder
zumindest mit einem Teil davon – konfrontiert sehen, die zunehmend darauf gefasst ist,
den Attacken der Elite Widerstand entgegenzusetzen.

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1 Dies wurde etwas mehrdeutig als “temporäre Aussetzung der Anpassung der Mindestlöhne”
präsentiert. Schließlich kann „die Aussetzung der Anpassung“ sich auf eine Aufwärts- wie auf eine
Abwärts-Anpassung beziehen. Im Kontext der Verlautbarung gesehen, war aber wohl von ersterer die
Rede.
2 Guangzhou Daily, 19. November 2008
3 The Economist, 15. November 2008

4 http://www.21cbh.com/Content.asp?NewsId=58091
5 http://www.21cbh.com/Content.asp?NewsId=57844

6 China Economy Quarterly Update, Februar 2007, World Bank Beijing Office, S. 6
7 http://www.newsweek.com/id/174524

8 http://legaldaily.com.cn/2007shyf/2008-11/14/content_981205.htm
9 Ming Pao, 12. Dezember 2008
10 Mit einer Ausnahme: Korea hat im Gegensatz zur Erfahrung Chinas ausländische Kapitalinvestitionen
während seiner ganzen Industrialisierungsperiode abgelehnt.
11 „Tigao laodong baochou, zheli yu chuci fenpei“, von Wang Lianli, Xianggang Chuanzhen (HongKong Fax), hrsg. von Research Department of Citic Pacific, No. 2007-90, S. 8

12 “Rebalancing China’s Economy”, He and Kuijs, World Bank China Research Paper No. 7
13 “A Workers’ Manifesto for China”, The Economist, 11. Oktober 2007
14 Diejenigen, die sich eher zur Wehr setzen und die sich “Barfuß-Anwälte” (Autodidakten ohne formelle Anwaltskonzession) leisten können, werden sich von diesen Beschwerdebriefe schreiben lassen, um von den Arbeitgebern freigegeben zu werden und ihre Löhne ausgezahlt zu bekommen. Diejenigen, die sich nicht so leicht zur Wehr setzen, werden gezwungen sein zu bleiben. Die Gesetze erlauben den Arbeitgebern diese Praktiken zwar nicht, aber solange die Beschäftigten keine grundlegenden bürgerlichen Freiheiten genießen, werden Arbeitsrechte im Allgemeinen nicht durchgesetzt. Andersherum werden ArbeiterInnen im momentanen wirtschaftlichen Abschwung entlassen, bevor ihre Verträge auslaufen – ebenfalls in Verletzung ihrer Arbeitsrechte.

(Übersetzung A. Scheidhauer)