Arbeiterwiderstand in China heute 1989-2009

Gekürzte Fassung eines ausführlicheren Artikels der Autoren Au Loong Yu und Bai Ruixue, übersetzt im "sechsten Paket" von Texten aus China im Forum Arbeitswelten im Oktober 2010. (1)

Arbeiterwiderstand in China heute 1989-2009

von
Au Loong Yu, Bai Ruixue

(2)
Im heutigen China hat es keine kontinuierliche Arbeiterbewegung im engeren Wortsinne
gegeben, also keine organisierte soziale Bewegung von unten, die auf die Umverteilung
des nationalen Einkommens zum Wohle der Beschäftigten oder auf Teilhabe an der Macht
abzielt. Dennoch ziehen sich bedeutende spontane Arbeitskämpfe durch die ganze
Geschichte der Volksrepublik China, wobei 1989 herauszuheben ist: Damals nahmen
Bemühungen, unabhängige Arbeiterorganisationen aufzubauen, ihren Anfang, wurden
aber auch schnell wieder unterdrückt. Die Gründe für den Mangel an Organisation sind in
den unterschiedlichen Perioden allerdings nicht völlig identisch. Der Autoritarismus des
Einparteienstaates war durchgängig der wichtigste Grund, aber zwischen der Mao-Periode
(1949-1976) und der Deng- bzw. Nach-Deng-Periode (1979-2009) gab es auch
signifikante Unterschiede. In der früheren Periode kamen spontane Arbeitskämpfe zwar
ebenfalls vor, aber insgesamt war die Arbeiterschaft damals weniger unzufrieden als in
der späteren Periode, da die Arbeitsplätze und das soziale Netz einigermaßen verlässlich
waren.


Nach Abschluss der „sozialistischen Transformation“ von 1956 wurde den Arbeitern der
Titel „zhurenweng“ (Herren des Hauses) verliehen. Als „die führende Klasse“ im
„sozialistischen China“ verkörperten sie für die Partei die „sozialistische Industrialisierung“.
Die Arbeiterklasse war es, auf die sich die Partei im Kampf gegen „Revisionismus“ und
„kapitalistische Restauration“ stützen musste. Diese Titel waren hart erkauft durch die
Tatsache, dass weder ArbeiterInnen noch LandarbeiterInnen grundlegende politische
Freiheiten genossen, geschweige denn echte demokratische Rechte zur Wahl der Manager
an den Arbeitsplätzen, der Gewerkschaftsführer oder der politischen Führer. Im täglichen
Leben brachte der Ehrentitel „zhurenweng“ den Beschäftigten wenig: Tagein, tagaus
mussten sie die Befehle der Kader – ihrer angeblichen „öffentlichen Diener“ – befolgen.
Der offizielle Gewerkschaftsverband ACFTU (All China Federation of Trade Unions) war
lediglich ein Teil des Staatsapparates, weder frei von den Beschäftigten gewählt noch
ihnen Rechenschaft schuldig. Das Staff and Workers Representative Council (SWRC,
Zhigong daibiao dahui) sollte ähnlich den deutschen Betriebsräten eigentlich die Macht
haben, die strategischen Entscheidungen der Unternehmen zu überprüfen, die Einstellung
neuer Manager abzulehnen oder vorhandene zu entlassen sowie bei Entscheidungen über
Löhne und Sozialleistungen mitzureden. Allerdings wurde es so eingerichtet, dass der
Vorsitzende der Betriebsgewerkschaft automatisch auch der Vorsitzende des SWRC ist.
Dadurch erhielt die Partei die Kontrolle über das SWRC, wodurch dieses wie die gesamte
ACFTU eher zum Feigenblatt wurde als zu einer echten Beschäftigtenvertretung. Beide
Institutionen wurden von 1957 an weitgehend kaltgestellt und hörten während und nach
der Kulturrevolution völlig auf zu funktionieren. Politisch existierte und existiert noch
massive Ungleichheit.


Wirtschaftlich jedoch waren die ArbeiterInnen gegenüber den BäuerInnen privilegiert
(während die Klasse der Grundbesitzer und Geschäftsleute überhaupt nicht als Klasse
existieren durfte). Es ging Ihnen nicht so gut wie den Kadern an ihrem Arbeitsplatz, aber
im Vergleich zur Periode nach Deng war die Ungleichheit zwischen den beiden sozialen
Gruppen unbedeutend. Den Beschäftigten ging es viel schlechter als den höchsten
Funktionären der Provinzregierungen und der Zentralregierung, aber mit diesen verglichen
sie sich niemals direkt. Sie arbeiteten und blieben in ihren Betrieben oft ein Leben lang.
Sie waren es gewohnt, der Parteilinie folgen zu müssen und keine Fragen stellen zu
dürfen. Dafür hatten sie ein Recht auf Beschäftigung und soziale Absicherung sowie einen
höheren Lebensstandard. Der Ehrentitel „führende Klasse“ brachte außerdem einen relativ
privilegierten sozialen Status mit sich (so waren Arbeiter z.B. in politischen Bewegungen
am wenigsten Repressionen ausgesetzt; und im Bezug auf Heirat war es ganz
offensichtlich von Vorteil, Arbeiter zu sein), wovon sie vor dem Sturz des Kuomintang-
Regimes nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Sie verfügten zwar weder auf Betriebsnoch
auf nationaler Ebene über echte Macht, aber Chinas Arbeiter hatten sichere
Arbeitsplätze: Sie konnten also nicht entlassen werden. Das setzte der Macht der
Parteikader Grenzen. Den ArbeiterInnen war außerdem voll bewusst, dass nur sie allein
diejenigen waren, die mit Schweiß und Tränen praktisch den kompletten industriellen
Reichtum des Landes schufen. Daher waren sie eng mit ihren Betrieben verbunden, hatten
sie mit aufgebaut oder hielten sie am Laufen. Sie nahmen ihren Anspruch auf einen fairen
Anteil am staatlichen Kollektiveigentum auf Fabrikebene sehr ernst. Kurz: In der Mao-
Periode waren die Arbeiter die am wenigsten unzufriedene Klasse, und daraus erklärt sich
zu einem großen Teil das Fehlen signifikanter Arbeitskämpfe sowie vor allem das Fehlen
von Bestrebungen, autonome Arbeiterorganisationen zu gründen. In den ersten Jahren
nach der Gründung der Volksrepublik China gab es lokale ökonomische Streiks, ebenso
während der „Kulturrevolution“. Diese waren aber nur klein. Selbst wenn sie politisch
wurden, gelang es ihnen nicht, politische Unabhängigkeit vom Parteiführer Mao Zedong
oder von der Partei als Ganzes zu erlangen, wie es später 1989 der Fall war.
Im Kontrast dazu nahm die Unzufriedenheit der Beschäftigten in der Periode nach Mao seit
Beginn der kapitalistischen Marktreform zu, denn die Arbeiter fühlten sich betrogen und
um ihre ökonomischen Ansprüche gebracht. Diese Unzufriedenheit mündete in massive
politische Kämpfe und unabhängige Organisierung zum Höhepunkt der
Demokratiebewegung von 1989. Die Bewegung wurde prompt durch staatliche Repression
zerschlagen. In den zwanzig Jahren, die seitdem vergangen sind, wurden Chinas
ArbeiterInnen in noch schwerere Fesseln gelegt. Das erleichterte die Privatisierung der
staatseigene Betriebe (State Owned Enterprises, SOE) durch die Kommunistische Partei
Chinas. Trotz massiver Repression gab es immer noch zahlreiche lokale Kämpfe der
Arbeiter in den Staatsbetrieben gegen die Privatisierung. Ihnen folgten spontane
Streikwellen bei den zahlreicher werdenden WanderarbeiterInnen vom Land.


Die Demokratiebewegung von 1989


Die Machtübernahme von Deng Xiaoping 1979 war für die Beschäftigten ein Wendepunkt.
Seitdem haben die Marktreformen Bürokratie und Privatunternehmen auf Kosten von
ArbeiterInnen und einfachen BürgerInnen bereichert. Zur selben Zeit unternahm Deng den
ersten Schritt, die Arbeiter als soziale Basis der Kommunistischen Partei Chinas (KPC)
durch die neugeborenen Unternehmer zu ersetzen. Die KPC startete ihren Kampf gegen
die Beschäftigtenrechte damit, dass sie 1982 das verfassungsmäßige Streikrecht
abschaffte. Gleichzeitig nahm sie Verfassungsänderungen vor, um private Unternehmen
und deren Eigentum zu unterstützen. Seitdem war klar, dass die Harmonisierung mit dem
globalen Kapitalismus auf Deng Xiaopings Agenda ganz oben stand. Seinen Weg bereitete
Deng schon 1984 vor, als China mit England vereinbarte, den Laissez-faire-Kapitalismus
Hongkongs noch fünfzig Jahre über die chinesische Übernahme hinaus unangetastet zu
lassen. (In privaten Gesprächen fügte Deng hinzu, der Hongkong-Kapitalismus könne auch
gut noch länger weiterlaufen.) Er plädierte auch stark dafür, die Nation müsse „von
Hongkong lernen“, womit nur die kommerziellen Kapazitäten gemeint waren, nicht die
Respektierung der bürgerlichen Freiheiten. 1987 riet er einer afrikanischen Delegation:
„Folgen Sie nicht dem Sozialismus. Tun Sie, was sie können, um das Wirtschaftswachstum
anzukurbeln.”3 Auf der betrieblichen Ebene begann die Unternehmensreform seit den
1980er Jahren, die Manager auf Kosten der Arbeiter mit Macht auszustatten: Die
Arbeitsintensität nahm zu, die Einkommensunterschiede stiegen massiv, Zeitverträge
wurden eingeführt, Löhne an die wirtschaftliche Lage der Unternehmen gekoppelt etc. In
den späten 1980er Jahren ließ die überstürzte Marktreform, begleitet von einem steilen
Anstieg des Konsums bei den Bürokraten, die Wirtschaft überhitzen und führte zur
Inflation. Die Marktreform enthielt eine Preisreform, die zwei Preissysteme hervorbrachte:
die „geplanten Preise“ und die „Marktpreise“. Das gab Funktionären, die als guandao
(wörtlich: Funktionär-Spekulanten) bezeichnet werden, die Gelegenheit, wertvolle
Produkte zu günstigen „geplanten Preisen“ zu kaufen und zu höheren „Marktpreisen“
wieder zu verkaufen. Inzwischen gründen staatliche Behörden auf fast allen Ebenen
unterschiedliche Arten von Unternehmen, um auch Geld zu machen. Die Bürokraten
begannen, sich selbst in Kapitalisten zu verwandeln. Das empörte die Menschen, die 1989
in Protest gegen die Regierung aufstanden.4


Die Beteiligung der ArbeiterInnen an der Demokratiebewegung von 1989


“Die Demokratiebewegung von Beijing hat nicht nur das Land erschüttert, sondern die
ganze Welt. Neben extremer Frustration und großer Trauer um die Kämpfer und die
Unschuldigen, die ihr Leben verloren haben, fühlten wir auch, dass das chinesische Volk
wieder einmal aufgestanden war.”5
So beschrieb ein ACFTU-Gewerkschafter, der die Bewegung unterstützt hatte, die
Demokratiebewegung von 1989 nach ihrer Unterdrückung. Der Kommentar suggeriert die
potenzielle Stärke der Bewegung. Auf ihrem Höhepunkt wurde die Demokratiebewegung
zur ernsthaften Herausforderung für die Legitimität und Autorität der KPC als Regierung
im Hinblick auf deren Fähigkeit, auf die Interessen der Arbeiterklasse zu reagieren und sie
zu repräsentieren. Solch eine Herausforderung wurde erst durch die Beteiligung von
Hunderttausenden Arbeitern möglich.
Die Bewegung ist allgemein als Studentenbewegung bekannt. Dabei wird häufig
übersehen, dass die Beteiligung von Beschäftigten in einem späteren Stadium sehr zentral
wurde und auch zu einer unabhängigen Organisierung von ArbeiterInnen führte. Diese
neue Entwicklung beunruhigte die KPC, was einer der Gründe für die Zerschlagung der
Bewegung am 4. Juni war. Die Unterdrückung und Zerstörung der Arbeiterbewegung
sorgte dafür, dass die Arbeiterklasse in der nachfolgenden Periode atomisiert und
demoralisiert war. Das erleichterte den großen Sprung der KP nach vorn in die
Harmonisierung mit dem globalen Kapitalismus seit 1992. Die Folgen dieser
Harmonisierung sind Privatisierungen, Entlassungen von ArbeiterInnen der Staatsbetriebe
und die Transformation von 150 Millionen „Bauern“ in billige Arbeitskräfte.
Die Demokratiebewegung begann nach dem Tod von Hu Yaobang am 15. April, als
StudentInnen in Beijing gegen Korruption und profitgierige Funktionäre zu protestieren
und Demokratie zu fordern begannen. Viele ArbeiterInnen kamen auf den Platz des
Himmlischen Friedens, den Tiananmen, um den Reden der Studenten zuzuhören. Anfangs
kamen die Beschäftigten spontan zur Unterstützung auf den Platz. Da sie sich mit dem,
was die Studenten sagten, identifizieren konnten, wollten sie ihrer Unterstützung für die
Studenten und deren Forderungen Ausdruck verleihen. So sagt ein Arbeiter auf die Frage,
warum er bei der Demokratiebewegung aktiv wurde: “Die Studenten kritisierten die
korrupte Regierung. Sie sprachen aus, was wir Arbeiter sagen wollten.”6 Besonders
wütend wurden viele, als einige Studenten, die einen Sitzstreik veranstalteten, am 19.
April von der Polizei verprügelt wurden.
ArbeiterInnen schalteten sich bald in die von den StudentInnen initiierte Debatte ein. Mit
Hilfe ihrer Dazibao (große Poster mit Parolen), ihrer Flugblätter und öffentlichen Reden
brachten sie eine Klassenperspektive in die Bewegung. Die Studenten hatten sich
weitgehend darauf beschränkt, bürgerliche Freiheiten zu fordern. Vor allem forderten sie
Redefreiheit, ein Ende der Korruption, den Dialog mit den Behörden und schließlich eine
faire Würdigung von Hu Yaobang. Schon am 18. April schrieb ein Arbeiter einen offenen
Brief an die Studenten:
“Ihr müsst die Unterstützung der breiten Masse der Arbeiter, Bauern, Soldaten und
Straßenverkäufer gewinnen. Wie? Zunächst darf man nicht nur über die Löhne der
Intellektuellen und die Aufstockung des Bildungsetats reden. Man sollte sich auch hüten,
lediglich leere demokratische Slogans zu fordern. Das würde die Beziehung zwischen
Studenten und Arbeitern/Bauern beeinträchtigen und ihrer Solidarität schaden.
Wir müssen Arbeitern, Bauern und Soldaten sagen, dass das ‚Eigentum des ganzen
Volkes’ in der Praxis das Eigentum einer Minderheit von Oberherren bedeutet. Der von
Arbeitern und Bauern geschaffene Reichtum wurde von diesen Leuten konsumiert. Sie
haben uns ‘guojia zhurenweng’ (Herren des Landes) genannt, aber die Herren leben mit
ihren Eltern und Kindern in kleinen Wohnungen, während die ‘öffentlichen Diener’ sich
selbst Villen bauen … Gibt es irgendeinen Unterschied zwischen diesen Leuten und den
Feudalherren?
Wir müssen eine stabile demokratische Regierung errichten mit Redefreiheit,
unabhängiger Rechtsprechung und freien Wahlen.”7
Am 17. April hatten einige Arbeiter, u.a. Liu Qiang (Drucker), Han Dongfang
(Eisenbahner), He Lili (Dozent an der Beijing Workers University), eine Initiative gestartet,
sich selbst zu organisieren. Sie hatten ein vorbereitendes Komitee für die Gründung eines
Verbandes mit dem Namen BWAF (Beijing Workers’ Autonomous Federation) gebildet. Mit
der Organisierung wollten sie die Studenten schützen sowie auch die Perspektive der
Beschäftigten zur Sprache bringen. Sie hielten öffentliche Reden, in denen sie den Angriff
auf die StudentInnen verurteilten und die ArbeiterInnen dazu aufriefen, sich zu
organisieren. Sie besuchten auch Fabriken und Bergwerke, um ihre Ziele bekannt zu
machen und die ArbeiterInnen dazu zu ermutigen, sich der BWAF anzuschließen. Zu deren
Forderungen gehörten Lohnerhöhungen, stabile Preise sowie die Offenlegung der
Einkommen und Besitztümer der Regierungsbeamten und ihrer Familien.8
Das Komitee hatte entschieden, dass die Organisation eine Arbeiterorganisation sein und
nur ArbeiterInnen die Mitgliedschaft erlaubt sein sollte. BWAF-Aktivist Liang Hong erzählt:
“Wir beschlossen, dass nur Arbeiter eintreten durften, und wir kontrollierten ihre
Identitätskarten und ihre Arbeitskarten. Wir gaben unsere eigenen BWAFMitgliedsausweise
heraus, um die Integrität des Verbandes sicherzustellen.”9 Mitglieder
mussten auch Beiträge bezahlen und erklären, die Verfassung und die Gesetze des
Staates anzuerkennen, sich an die Regeln der Organisation zu halten und im Interesse der
gesamten Arbeiterklasse zu handeln.10 Insofern sollte die Organisation gesetzestreu sein
und zum Ziel haben, der Arbeiterklasse zu dienen. Das Komitee entwarf ein Regelwerk für
die Mitglieder und bildete weitere Komitees, die das Funktionieren der Organisation
unterstützen sollten.
Am 26. April veröffentlichte die People’s Daily in Reaktion auf die Forderungen der
Studenten nach Dialog ein Editorial, worin die Demokratiebewegung der Aufstachelung
von Unruhen bezichtigt wurde. Das löste bei den Studenten, aber auch bei den Bürgern
Beijings Empörung aus. Am nächsten Tag demonstrierten 200.000 Studenten. Eine Million
Beijinger BürgerInnen standen an den Straßenrändern und applaudierten. Aber erst am
13. Mai, als die Studenten einen Hungerstreik beschlossen, schlossen sich größere Zahlen
von ArbeiterInnen dem Kampf an. Am 15. Mai gingen 600.000 auf die Straße. Am
nächsten Tag demonstrierten noch einmal 200.000 Studenten und Arbeiter. Zwischen dem
17. und 19. Mai demonstrierten Millionen, um die Studenten zu unterstützen. Teams von
ArbeiterInnen trugen Transparente, auf denen die Namen ihrer Arbeitsplätze standen. 200
Arbeiter von des Capital-Stahlwerks trugen Transparente mit den Aufschriften:
„Unterstützt die Studenten!“ und „Warum redet der Premier nicht mit den Studenten?“.
Die Transparente der Eastwind-Fernsehgerätefabrik taten kund: „Wir werden keine
Fernseher mehr bauen, bis die guandao fallen!”11 Einer der Arbeiter sagte in einem
Presseinterview, Günstlinge nähmen die von ihnen gebauten Fernseher und verkauften sie
weiter; die Profite steckten sie in die eigenen Taschen. Auch folgende Slogans waren zu
lesen: „Nieder mit Li Peng!“, „Nieder mit Xiaoping!“, „Unsere Studenten hungern. Was esst
Ihr und Eure Kinder?“
Viele hatten realisiert, dass die offizielle Gewerkschaft ACFTU so mit der KP verbunden
war, dass sie nicht die Macht hatte, die Beschäftigten zu vertreten. Einem früheren BWAFMitglied
zufolge war die einzige Aktivität, die die ACFTU organisierte, die Verteilung von
Kinokarten.12 Daher beschlossen die ArbeiterInnen zum ersten Mal seit 1949, ihre eigenen,
unabhängigen Arbeiterorganisationen zu gründen, die ihre Interessen vertreten und für
ihre Rechte kämpfen sollten. Unter dem massiven Druck ihrer eigenen Mitglieder spendete
die ACFTU den Studenten 100.000 RMB. Kader der offiziellen Gewerkschaften nahmen an
Demonstrationen teil, um Solidarität mit den Studenten kundzutun. Eine Petition, die von
einer Reihe ACFTU-Kader, ACFTU-Basiskader sowie Dozenten und Studenten des Labor
Movement College unterzeichnet war, stellte Forderungen auf:
„Wir fordern, dass die Regierung:
1. zugibt, dass die Studentenbewegung eine demokratische und patriotische Bewegung
ist. Dialog jetzt!
2. Presse- und Vereinigungsfreiheit zulässt, das Informationsrecht garantiert, das Recht
auf Überwachung der Funktionäre und das Recht auf Beteiligung an politischen
Entscheidungen;
3. korrupte Funktionäre bestraft und politische Reformen unterstützt;
4. die offizielle Gewerkschaft reformiert; eigenständige Verwaltung der Gewerkschaft
realisiert“ (leicht gekürzt).13
Im Verlauf der Radikalisierung der arbeitenden Bevölkerung wurde thematisiert, wie diese
von der Bürokratie ausgebeutet wurde. In einem Brief an die gesamte Nation brachte die
BWAF am 17. Mai ihre Kritik zum Ausdruck sowie ihr Verständnis davon, wie die
chinesische Arbeiterklasse von der Bürokratie der Kommunistischen Partei ausgebeutet
wurde.
“Wir haben die Ausbeutung der Arbeiter vorsichtig kalkuliert. Marx’ Kapital hat uns eine
Methode zur Verfügung gestellt, wie wir den Charakter unserer Unterdrückung verstehen
können. Vom Gesamtwert der Produktion haben wir die Lohnkosten, Lohnersatz- und
Gesundheitskosten, die notwendigen Sozialversicherungskosten, Maschinenverschleißund
Reinvestitionskosten abgezogen. Zu unserer Überraschung mussten wir feststellen,
dass die ‘öffentlichen Diener’ all den übrigen Wert dessen, was mit dem Blut und Schweiß
der Menschen hergestellt wurde, verschlingen!”14
In einem weiteren Brief, den die BWAF Mitte Mai verteilte, stellte sie fest, dass „das Volk
die Mehrheit konstituiert. Die Autokraten sind nur eine Handvoll. Wenn wir, die Arbeiter,
uns trauen, aufzustehen und einen Schritt voranzugehen, kann allein der Staub, den wir
aufwirbeln, die Autokraten in die Hölle befördern.”15 Sie forderte ihre Landsleute auf:
“Vereinigt Euch und errichtet ein System, das von einer ehrlichen und nicht
korrumpierbaren chinesischen kommunistischen Partei geführt wird – eine, deren
tragende Säule das chinesische Proletariat ist, – eine, die bei allen Patrioten zu Hause und
in Übersee verankert ist.”16
Den ganzen Mai hindurch organisierte die BWAF viele Treffen zu zentralen Themen, so der
Produktivität der Nation, Förderung der Exporterlöse, dem Wohlergehen der Arbeiter,
Menschenrechten, Demokratie und Freiheit. Im Laufe der folgenden Wochen wuchs die
Organisation. Sie entwickelte sich zu einer Arbeiterorganisation mit 100 zentralen
AktivistInnen und zählte 2.000 eigene Mitglieder. Später hatte sie eigenen Verlautbaren
zufolge 10.000 Mitglieder. Als die Studenten ihren Hungerstreik begannen, versorgte die
BWAF den autonomen Studentenverband mit Medikamenten, Nahrung und Wasser. Sie
organisierte auch Arbeiterdemonstrationen in Unterstützung der Studenten.
Viele Arbeiter engagierten sich immer intensiver, je länger die Bewegung andauerte.
Exemplarisch ist die Geschichte einer Arbeiterin, die später im selben Jahr zu ihrer
Beteiligung an der Bewegung interviewt wurde. Sie war einige Male zum Tiananmen
gegangen und hatte sich die Reden der Studenten angehört. Diese hatten sie zum
Nachdenken angeregt. Daher schloss sie sich der Demonstration vom 16. Mai an. Sie
erzählt, sie sei während der Demo dem Transparent der Capital-Stahlarbeiter gefolgt, da
diese Arbeiter waren und daher “die Meinungen der Arbeiter aussprechen würden.” An den
folgenden Tagen schloss sie sich ebenfalls den Demonstrationszügen an. In der Nacht des
19. blieben sie und ihre Freunde, nachdem sie gehört hatten, dass das Kriegsrecht
verhängt werden sollte, gemeinsam mit vielen anderen Menschen, die die Nachrichten
ebenfalls gehört hatten, auf dem Platz, um die Studenten zu unterstützen: “Wir blieben
alle dort, um uns gegenseitig zu unterstützen. Die Macht des Volkes würde größer sein als
diejenige der Studenten allein. Das würde schließlich ausreichen, um den Tiananmen zu
verteidigen.” Am 26. Mai trat sie der BWAF bei, auf die sie das erste Mal getroffen war, als
sie die hungerstreikenden Studenten unterstützte. Sie war dann bis zur Niederschlagung
der Bewegung am 4. Juni an der Ausstrahlung von deren Ankündigungen am Tiananmen
beteiligt.17
Nicht nur in Beijing waren ArbeiterInnen an der Demokratiebewegung beteiligt. Riesige
Demonstrationen unter Beteiligung von Beschäftigten brachen bald in den meisten
anderen großen Städten, u.a. Shanghai, Guangzhou, Hangzhou, Nanjing, Xian und
Changsha aus. Autonome Arbeiterverbände (Workers’ Autonomous Federations, WAFs)
wurden in unterschiedlichen Städten gebildet, wenn auch spontan und ohne große
Bemühungen, die Organisationen zu vereinigen. Ein Beispiel kommt aus Guangzhou. Ein
früherer BWAF-Aktivist erzählt, dass die Leute dort in den lokalen Medien, in Radiosendern
aus Hongkong sowie dem amerikanischen Auslandssender Voice of America über die
Studentenproteste gehört hatten. Sie bildeten eine Arbeitergruppe, mit der sie
Unterstützung für die Studenten in Beijing und Widerstand gegen die vom Militär
verhängte Ausgangssperre organisieren wollten. Die Verhängung des Kriegsrechts machte
die Leute so wütend, dass sie spontan auf die Straße gingen. Schließlich dachten sie auch
über die Notwendigkeit der Organisierung nach und beschlossen, eine WAF zu gründen.
Der Aktivist erinnert sich:
“Wir wollten etwas für die Arbeiter und das Land tun, die Demokratie voranbringen etc. In
der Gesellschaft existiert keine Organisation, die einen Dialog mit der Kommunistischen
Partei führen oder ihr auch nur einen Vorschlag machen kann. Also wollten wir so eine
Organisation gründen, die sich der Diktatur widersetzt und alternative Sichtweisen auf
unterschiedliche Aspekte unserer Gesellschaft anspricht.”
“Ich hatte das Gefühl, wenn ähnliche autonome Gewerkschaften überall im Land
gegründet würden, könnten sie eine beträchtliche politische Kraft entwickeln, wenn sie
sich zusammenschlössen – eine Kraft, die das diktatorische und autokratische System
zerstören könnte.”18

Am 19. Mai verkündete die BWAF ihre offizielle Gründung und drohte mit einem eintägigen
Generalstreik, falls das Politbüro die Forderungen der Studenten nicht innerhalb von 24
Stunden akzeptieren würde. Das Politbüro tat nichts dergleichen. Stattdessen verhängte
die Regierung das Kriegsrecht und verlegte Truppen und Panzer in die Stadt. Diese
Maßnahme hatte eine quasi-revolutionäre Situation in Beijing zur Folge. In den nächsten
Tagen gingen wieder eine Million Menschen auf die Straße, um gegen das Kriegsrecht zu
protestieren. Die BWAF bildete Kampfteams, die zum Letzten entschlossen waren, und rief
ihre Mitglieder auf, Militärlaster und bewaffnete Truppen am Betreten der Stadt zu
hindern.
Die Verschärfung des Konflikts zwischen der KPC und den Demonstranten bewirkte eine
schnelle Politisierung der Arbeiter und der BWAF. Am 21. Mai gab die BWAF ein
„Arbeitermanifest“ heraus, worin erklärt wurde:
“Das Proletariat ist die progressivste Klasse in der Gesellschaft. Wir müssen unsere Stärke
als zentrale Kraft innerhalb der Demokratiebewegung demonstrieren. Die Arbeiterklasse
ist die Avantgarde der Volksrepublik China. Wir haben jedes Recht, Diktatoren zu
vertreiben. Arbeiter sind sich des Wertes von Wissen und Fertigkeiten in der Produktion
wohl bewusst. Daher dürfen wir nicht zulassen, dass den Studenten, die von unserer
Gesellschaft genährt werden, ein Leid geschieht.”19
Während die Arbeiter immer radikaler wurden, blieben die Studenten ihnen gegenüber
misstrauisch. Sie fürchteten, die Interventionen der Arbeiter könne die vermeintliche
Lauterkeit der studentischen Aktion beschädigen. Als sich das Vorbereitungskomitee der
BWAF am 17. April formiert hatte, wiesen die Studenten dessen Anfrage zurück, innerhalb
des Areals auf dem Tiananmen, das die Studenten besetzt hatten, Stellung zu beziehen.
Sie begegneten ihm mit Misstrauen. Als die BWAF am 19. Mai mit Streik drohte, gab die
Beijing College Students Autonomous Association eine Stellungnahme heraus, in der sie
an die Arbeiter appellierte, nicht zu streiken. Erst gegen Ende Mai, als die Gewalt der
Regierung zu eskalieren begann, erlaubten die Studenten der BWAF, sich innerhalb des
besetzten Geländes auf dem Tiananmen zu stationieren. Die Angst vor Repressionen
bewirkte bei den Studenten allmählich einen Gesinnungswandel, und nun begann der
gemeinsame Widerstand von Studentenorganisationen und der BWAF. Generell jedoch
waren diese zwei sozialen Gruppen aufgrund des Widerstrebens der Studenten nicht in der
Lage, ein festes Bündnis zu schmieden.
Inzwischen gab es aber, obwohl die BWAF in Streikvorbereitungen steckte, auch einige
Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Organisation. In der Presse wurde berichtet, die
Capital-Stahlarbeiter hätten ihre eigene WAF gegründet und seien für den Fall, dass die
Armee das Feuer auf die Studenten eröffnete, streikbereit. Obwohl also dauernd über
Streikvorbereitungen geredet wurde, wurde ein Generalstreik niemals Realität. Falls es
doch Streiks gab, waren diese kein Ergebnis koordinierter Aktionen. Dennoch hatten viele
Fabriken die Erfahrung von Produktionsstopps gemacht, oder zumindest von sehr
gedrosselter Produktion, da so viele Arbeiter demonstrieren gegangen waren. Und
diejenigen, die überhaupt noch zur Arbeit kamen, wollten lieber miteinander diskutieren.
Die Regierung versuchte mit aller Macht, die Arbeiter von der Teilnahme an
Demonstrationen abzuhalten. Ende Mai wies die Beijinger Regierung alle Unternehmen an,
die Löhne derjenigen einzubehalten, die an Demonstrationen teilnahmen. Das erklärt,
warum vorübergehend weniger Arbeiter teilnahmen.
Seit dem Entlassungsbegehren des Parteisekretärs Zhao Ziyang (das von der Partei
abgelehnt wurde) begannen die Hardliner unter Führung von Deng Xiaoping und Li Peng
am 19. Mai die Zerschlagung der Bewegung für Ende Mai vorzubereiten. Am 3. Juni gab
die Beijinger ACFTU eine Stellungnahme heraus, in der sie die WAFs als konterrevolutionär
bezeichnete und an die Regierung appellierte, sie zu verbieten. Am selben Tag, nachdem
die BWAF alle Arbeiter der Hauptstadt für den folgenden Tag zum Streik aufgerufen hatte,
begannen Truppen in die Stadt einzumarschieren. Hunderttausende ArbeiterInnen und
StudentInnen versuchten dies zu verhindern, indem sie die 100.000 vorrückenden
Soldaten durch den Einsatz der eigenen Körper zu blockieren versuchten. Als die
ArbeiterInnen aufstanden, um die StudentInnen zu unterstützen, als sie drohten, im
Rahmen eines Generalstreiks massenweise die Arbeit zu verweigern, fürchtete der Staat,
die Kontrolle zu verlieren und reagierte mit einem Massaker.
Die Zerschlagung am 4. Juni beendete jeglichen Widerstand. Es folgten massive
Repressionen; dabei gerieten die ArbeiteraktivistInnen viel massiver unter Druck als die
StudentInnen. Während Studenten Gefängnisstrafen bekamen, wurden allein im Juni 27
Arbeiteraktivisten hingerichtet, 14 von ihnen Mitglieder der BWAF. Dem folgte eine
nationale Säuberung unter Anleitung der herrschenden Partei. Sie zielte nicht nur auf die
Kader in den politischen Institutionen, sondern umfasste auch diejenigen in den
„Massenorganisationen“, einschließlich ACFTU.
Die Bewegung war vernichtend geschlagen, denn mit der gewaltsamen Antwort der
Regierung auf ihre Aktionen hatte sie nicht gerechnet und war darauf nicht vorbereitet
gewesen. Der Anteil der ArbeiterInnen an der Demokratiebewegung war erst gegen Ende
so zentral geworden. Es war eine junge Bewegung gewesen, weitgehend spontan und
ohne genügend Erfahrung. Dennoch hatten die sozialen und politischen Forderungen der
Arbeiter eine ernsthafte Bedrohung für die Legitimität eines Regimes dargestellt, das
angeblich die Arbeiterklasse repräsentierte. Die Arbeiterklasse hatte begonnen, die KPC
als ihre Unterdrückerin zu identifizieren. Nie war die Arbeiterbewegung die prokapitalistische,
konterrevolutionäre Bewegung gewesen, als die sie von der KPC
angeprangert wurde. Diese Bewegung – oder zumindest ihr fortschrittlicher Teil – wollte
das Staatseigentum unangetastet lassen, die Bürokratie aber loswerden:
“Dieses Land wurde von uns Arbeitern aufgebaut, durch die Anstrengungen und die Arbeit
aller geistigen und körperlichen Arbeiter. Wir sind der Herr im Haus, das steht außer
Frage. Welchen Kurs dieses Land einschlagen soll, muss man zuerst uns fragen. Wir
würden niemals zulassen, dass die Diktatur des Proletariats in eine Diktatur über das
Proletariat verwandelt wird! Wir würden niemals zulassen, dass eine Handvoll Abschaum
unserer Nation oder Abschaum unserer Klasse in unserem Namen die Studenten
unterdrückt, die Demokratie zerstört und die Menschenrechte mit Füßen tritt!... Zum
Wohle des Laufs der sozialistischen Reform, zum Wohle unserer demokratischen
patriotischen Bewegung und zum Wohle der nächsten Generation, damit sie frei atmen
kann, nachdem der Despotismus des Stalinismus ausgelöscht ist, ...appellieren wir an
unsere in Übersee befindlichen Landsleute, sofort zu handeln... die demokratische
patriotische Bewegung zu unterstützen.”
(“To Overseas Fellow Country People”, 26th May)20
Seit 1989 gab es keine solchen politischen Aktionen der Arbeiter mehr. Erst nach der
Zerschlagung machte sich bei einzelnen Mitgliedern der WAFs (und zentralen
Studentenführern), die aus China geflohen waren, Desillusionierung im Bezug auf den
Sozialismus breit, und sie wünschten sich eine Wende zum Kapitalismus. Eine Ironie liegt
darin, dass es die KPC selbst war, die nach den ganzen Anschuldigungen gegen die
aufständischen Arbeiter und die BWAF, sie seien anti-sozialistisch und konterrevolutionär,
ihrerseits eine Harmonisierung mit dem globalen Kapitalismus orchestriert und China in
einen Mega-Sweatshop verwandelt hat. Die brutale Unterdrückung im Stil der
Zerschlagung ist in der folgenden Periode selbst wiederum zum „Modell“ für die
Unterdrückung jeglichen Widerstands geworden. Daher ist es keine Überraschung, dass
die Behörden während der Arbeiterproteste auf dem Ölfeld von Daqing im Jahre 2002
Panzer in die Gegend geschickt haben, um die Arbeiter gefügig zu machen. In ähnlicher
Weise ließen die Behörden während der Proteste im Dorf Shawei das Feuer auf die
Protestierenden eröffnen. Zwischen drei und zwanzig Dorfbewohner wurden dabei getötet.
Der Kampf gegen die Privatisierung
Die KPC war besonders beunruhigt über die Tatsache, dass große Massen von
ArbeiterInnen sich hinauswagten, um die Forderungen der Studenten nach
demokratischen Grundrechten zu unterstützen. Nach der Zerschlagung konnte sich die
Partei nicht mehr auf die stillschweigende Zustimmung der Arbeiter für die Parteiführung
verlassen. Die soziale Basis der KPC verschob sich entscheidend: von den Arbeitern auf
die Unternehmer. Sie beschloss, eine beträchtliche Anzahl staatseigener Betriebe (State-
Owned Enterprises, SOE) zu privatisieren, einerseits um die Bürokratie und die neue
Unternehmerklasse zu bereichern, andererseits um den Arbeitern im staatlichen Sektor
einen zweiten vernichtenden Schlag zu versetzen.
1992 führte der 14. Kongress der KPC die Konstruktion „sozialistische Marktwirtschaft“
ein, die darauf hinauslief, der Privatisierung bzw. Kommerzialisierung der SOE grünes Licht
zu geben. 1996 startete die KPC die Strategie: „Die großen (SOE) behalten, die kleinen
gehen lassen.“ Tatsächlich wurden auch viele mittelgroße SOE „gehen gelassen“ (im
Klartext: privatisiert). Eine große Entlassungswelle nahm ihren Anfang. Große SOE
wurden, selbst wenn sie in staatlicher Hand blieben, zu kommerziellen Einheiten
umstrukturiert, deren letztes Ziel es ist, Profit zu machen. Also haben auch sie massiven
Stellenabbau erlebt. In vielen Fällen wurden die SOE absichtlich schlecht gemanagt und in
den Ruin getrieben, damit man die Arbeiter loswurde und das Management die Bestände
plündern konnte. Zwischen 1996 und 2005 traf eine große Privatisierungswelle die
Arbeiter hart, sowohl in Staats- als auch in städtischen Kollektivbetrieben (die als quasistaatseigen
betrachtet wurden).
Über 60 Millionen ArbeiterInnen in den staatseigenen und kollektiven Sektoren wurden
gefeuert, so viele wie nie zuvor. 2003 war die aktive Arbeitsbevölkerung in den Städten
auf 200 Millionen angestiegen, und ihre Zusammensetzung hatte sich stark verändert. Die
Anzahl der ArbeiterInnen in den SOE sank zwischen 1995 und 2003 von 112 auf 69 Mio.
Im selben Zeitraum sank die Anzahl der Beschäftigten in städtischen Kollektivbetrieben
von 35,5 auf 9,5 Mio.21 Gleichzeitig verleitete der aufblühende private Sektor 120 Mio.
arme Landbewohner dazu, ihr Land zu verlassen und als Wanderarbeiter auf Arbeitssuche
durchs Land zu fahren. Die überwältigende Mehrheit von ihnen fand sich schließlich als
Beschäftigte von Privatunternehmen wieder – mit Löhnen, die so niedrig sind, dass sie
davon kaum ihr Leben fristen können, und kaum sozialer Absicherung. Die große soziale
Transformation besteht darin, dass gute Jobs vernichtet und schlechte Jobs geschaffen
wurden, und bedeutet einen riesigen sozialen Rückschritt. Inzwischen wurde die alte
Arbeiterklasse „restrukturiert“, d.h. sie ist heute zur Minderheit geschrumpft und sieht sich
neben einer neuen Arbeiterklasse, die aus Wanderarbeitern vom Land besteht. Die
chinesische Arbeiterklasse besteht nun aus zwei Hauptsektoren: dem staatlichen und dem
privaten Sektor. Obwohl der Abwärts-Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen
weitgehend in beiden Sektoren zu konstatieren ist, ist der private Sektor schlimmer als
der staatliche Sektor.
Hinfällig waren die Ehrentitel „zhurenweng” und “herrschende Klasse“. Arbeiter sind nun
Bürger zweiter Klasse. Noch weiter hinten kommen die Wanderarbeiter vom Land. Trotz
alledem hat es praktisch keine politische Opposition von Seiten der Arbeiter gegeben. Die
Niederlage von 1989 steckt ihnen noch in den Knochen. Aber auch Widerstand, der auf die
Privatisierung einer einzelne Fabrik begrenzt ist, wird häufig noch mit harscher Repression
beantwortet. Auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen die Privatisierung der Zhengzhou-
Papierfabrik (siehe unten) schrie die Polizei den protestierenden Arbeitern durch
Megaphone entgegen:
“Wir haben die Bewegung in Beijing am 4. Juni 1989 unterdrückt! Es war eine große
Bewegung, aber wir haben es geschafft. Ihr, ihr seid nur eine Handvoll Leute!“
Gab es doch einmal Widerstand gegen die Privatisierung, so kam er meist zu spät. Das
liegt daran, dass die Arbeiter gegenüber dem Parteistaat eine Mischung aus Vertrauen und
Abhängigkeit entwickelt hatten: ein Ergebnis des „sozialistischen“ korporativen Staates,
der ihnen Arbeitsplatzsicherheit und Sozialleistungen geboten hatte. Selbst wenn ihnen
bewusst wurde, dass ihren Fabriken die Privatisierung drohte, waren sie im allgemeinen
lediglich in der Lage, sich auf einzelbetrieblicher Ebene zu widersetzen. Sie waren kaum in
der Lage, auf der Ebene nationaler Strategien Widerstand zu leisten (das machte die
Besonderheit des Falls der Zhengzhou-Papierfabrik aus). Sicherlich hatte die Niederlage
von 1989 die politische Imagination und Artikulation aller ArbeiterInnen in den
Hintergrund gedrängt. Sie entwickelten keine Idee, der offiziellen Linie des
„Marktsozialimus“ und der „Reform“ (die in der Praxis Privatisierung oder Kapitalismus
bedeutete) eine Alternative entgegenzusetzen. Sie waren also so verwirrt, dass sie ihre
Fähigkeit verloren, rechtzeitig zu denken und zu handeln. Außerdem waren sie von einer
Mentalität beherrscht, die davon ausging, dass eher die lokalen Kader als die
Zentralregierung zu beschuldigen sei: Könnte die Zentralregierung bloß alarmiert werden
und intervenieren, würden die Dinge anders laufen. Diese Mentalität war teilweise ein
Resultat von Demoralisierung, teilweise aber auch ein Erbe der chinesischen Kultur, der
zufolge die Herrscher immer wohlwollend sind und nur böse Minister im Weg stehen.
Erster Schritt des Widerstands war also stets, eine Petition an Beijing zu stellen. Das war
aber für ArbeiterInnen von außerhalb sowohl zeitraubend als auch teuer. Aber auch wenn
die Arbeiter aktiv wurden, sorgte die staatliche Repression dafür, dass der Widerstand auf
einzelne Fabriken beschränkt blieb. Nicht immer, aber meist mit Erfolg haben die Arbeiter
daher die Strategie verfolgt, ihre Aktionen zu begrenzen, um solche Repression zu
vermeiden.
Der riesige soziale Rückschritt trifft weibliche Beschäftigte besonders hart. Schon 1987,
als die erste Entlassungswelle im staatlichen Sektor begann, waren 67 Prozent der
Entlassenen Frauen. Die Entlassungen waren von einer heftigen Propagandakampagne
begleitet, die Frauen aufforderte, nach Hause zu gehen und dort zu bleiben. Die Elite
behauptete, ihre Gebärfähigkeit mache die Beschäftigung von Frauen unrentabel. Es
wurden aber nicht nur Arbeiterinnen entlassen, sondern viele junge Frauen, einschließlich
frischgebackener Schulabsolventinnen, gar nicht erst zu Bewerbungsgesprächen
zugelassen – einfach aufgrund ihres Geschlechts. Fanden sie doch noch eine
Beschäftigung, waren ihre Löhne niedriger als die der Männer. Eine landesweite Umfrage
zeigte, dass die Löhne der Stadtbewohnerinnen 1988 nur 84 Prozent von denen ihrer
männlichen Kollegen betrugen; 1990 waren es 77,5 und 2000 sogar nur noch 70,1
Prozent.22 Im Nordosten, einst großes industrielles Zentrum, aber dann aufgrund der
großen Umstrukturierung im Griff der Depression, wurden Arbeiterinnen häufig
Sexarbeiterinnen, um ihre Familien durchzubringen. Pro Transaktion erhalten sie aufgrund
des erbitterten Wettbewerbs oft nur 50 RMB. Im Oktober 2002 marschierten 200 von
einer Stahlfabrik in Long Yan, Provinz Fujian entlassene Frauen unter einem Transparent,
auf dem stand: „Zu jung für die Rente, zu alt für den Strich!“23
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre leisteten ArbeiterInnen dem Ansturm der
Privatisierung durch unüberhörbare Proteste Widerstand. 1998 wurde der Präsident der
Nationalen Politischen Beratungskonferenz mit der Aussage zitiert, er vermeide auf seinen
Touren durch die Provinzen, die Gebäude der Bezirksregierungen durch die Vordertür zu
betreten, weil sie von protestierenden Arbeitern blockiert würden.24 Obwohl diese Arten
von Protest vermutlich weit verbreitet waren, leistete eine größere Anzahl entlassener
Arbeiter der SOE keinen ernstlichen Widerstand. Aufgrund der Zensur kennt niemand die
tatsächliche Situation im ganzen Land. Nur einige kleinere Nachrichten schafften den Weg
hinaus und wurden in Hongkong oder Übersee veröffentlicht. Erst um die
Jahrhundertwende, als der Internetzugang erschwinglicher wurde, wurden die
Abwehrkämpfe der SOE-Arbeiter öffentlich. Seitdem ist es nicht ungewöhnlich, dass
protestierende Arbeiter über ihre Fälle im Internet berichten. Gleichzeitig war die
Jahrhundertwende eine Periode, in der die Abwehrkämpfe im Hinblick auf
Beteiligungszahlen und Organisierung zu eskalieren begannen. Manchmal führten sie
sogar zur Besetzung der Betriebe und der Durchsetzung von Selbstverwaltung durch die
Arbeiter, so wie im Fall der Luoyang-Zementfabrik von November 1998 und dem Fall der
Chongqing 3403-Fabrik von 2004. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts sind die
Arbeiterproteste der Tendenz nach organisierter geworden, bleiben aber nach wie vor lokal
und auf einzelne Betriebe begrenzt. Die meisten von ihnen sind abgewehrt worden oder
haben bestenfalls Teilsiege erzielt.
(…..)


Geschrumpft, aber immer noch mächtig


Zwischen 2004 und 2008 sank die Zahl der Arbeiter bei den SOE weiter von 64,4 auf 61,3
Mio. und bei den Unternehmen in Kollektivbesitz von 8,5 auf 6,23 Mio.25 Obwohl die
Arbeiter der Staatsbetriebe abgewehrt, ihre Anzahl massiv gesunken und die meisten von
ihnen demoralisiert waren, sieht es so aus, als sei die große Welle der Privatisierung von
SOE beendet, weil die verbleibenden Betriebe meist zu groß und strategisch zu bedeutend
sind, als dass die Regierung die Kontrolle über sie aufgeben könnte. Selbst dort, wo sie
privatisiert wurden, waren das weitgehend Teilprivatisierungen, bei denen der Staat die
zur Kontrolle notwendige Zahl von Anteilen behielt. Auch wenn es immer noch einen Druck
zu Stellenabbau oder gar Privatisierung gibt, geschieht das heute in einem geringeren
Ausmaß als in der vorangegangenen Periode. Auch wenn es jetzt nur noch halb so viel
Arbeiter in den SOE gibt wie früher, besetzen sie immer noch die wichtigsten
Industriezweige in China. Ihr Machtpotenzial als wichtigste produzierende Klasse ist also
noch intakt. Zweitens haben sie eine starke Klassenidentität und pflegen in der Kommune
und am Arbeitsplatz starke Bindungen, die ihnen ein starkes Organising-Potenzial
verleihen – ein Vorteil, der den Wanderarbeitern vom Land weitgehend fehlt. Das Ende der
ersten großen Privatisierungswelle; das Nachlassen der durch die Zerschlagung von 1989
angefachten Furcht; die Tatsache, dass sie Erfahrungen mit Widerstandaktionen
gesammelt haben, etc. – all diese Faktoren haben zu einem Wandel der Moral der
ArbeiterInnen beigetragen. Die fortschrittlicheren Teile der Arbeiter der SOE schließen sich
zusammen und werden entschlossener, für ihre Rechte aufzustehen. Der Kampf beim
Tonghua-Stahlwerk 2009 könnte hier ein Referenzpunkt sein.26 Das staatseigene
Tonggang-Stahlwerk wird von der Provinzregierung durch die Jilin Tonghua Iron & Steel
Group kontrolliert. Im Juli 2008 opponierten und widersetzten sich die Arbeiter und sogar
die Manager des Werks erbittert der vorgeschlagenen Übernahme durch Jianlong, einen
privaten Stahlkonzern aus der Provinz Hebei. Es war der zweite Versuch von Jianlong,
Tonggang zu übernehmen. 2005 hatte Jianlong Tonggang schon einmal für einen
Schleuderpreis übernommen und die Belegschaft abgebaut. 2006 zog sich das
Unternehmen aus unterschiedlichen Gründen aus Tonggang zurück. Dadurch wurde es
Tonggang möglich, ohne das Unternehmen Profit zu machen. 2008 wollte Jianlong
Tonggang zum zweiten Mal übernehmen. Dieses Mal widersetzten sich die Arbeiter, die die
Lektion gelernt hatten, der Übernahme durch Jianlong erbittert. Auf dem Höhepunkt des
Widerstandes gegen die Polizei riegelten sie die Fabrik ab und nahmen zwanzig
hochrangige Manager als Geiseln. Sie verprügelten sie und ließen sie dann wieder laufen.
Chen Guojin, ein Manager von Tonggang, beschimpfte die Arbeiter und drohte, sie alle zu
entlassen. In ihrer Empörung prügelten die Arbeiter Chen tot. Die Provinzregierung zog
bald ihre Unterstützung für den Übernahmedeal zurück. Dieser Erfolg ermutigte die
Arbeiter des staatseigenen Linzhou-Stahlunternehmens in der Provinz Henan, sich ihrer
Privatisierung im März 2009 erfolgreich zu widersetzen. Auf der Höhe des Widerstands
hielten 3.000 Arbeiter einen Regierungsfunktionär vier Tage lang als Geisel in der Fabrik
fest.


Die Wanderarbeiter vom Land schlagen zurück


Während die Regierung über 60 Mio. gute Arbeitsplätze im staatlichen Sektor zerstörte,
trieb sie die Schaffung neuer Jobs im privaten Sektor voran, insgesamt fast doppelt so
viele wie im staatlichen Sektor verloren gingen. Das hat sie getan, indem sie China zu
einem Sweatshop für die produzierende Industrie der ganzen Welt machte. China wurde
bevorzugtes Investitionsziel für multinationale Unternehmen (Transnational Corporations,
TNC), die ihren Nutzen zogen aus den niedrigen Löhnen, aus der hoch disziplinierten
Arbeiterschaft unter einem Regime barackenartiger Fabriken27, schwer bewacht vom
Seit den frühen 1990er Jahren sind ländliche Gegenden durch Steuern und Abgaben
bankrott gegangen, und 120 Mio. Wanderarbeiter mussten ihre Heimatdörfer verlassen
und Arbeitsplätze in städtischen Gegenden suchen. Diese Wanderarbeiter konstituieren
eine neue Arbeiterklasse, die sich neben der alten gebildet hat. Viele der neuen
Wanderarbeiter sind Frauen. WanderarbeiterInnen sind doppelt verletzlich, weil sie als
weniger gut gebildet bzw. ausgebildet gelten als die städtischen ArbeiterInnen. Daher ist
der Marktwert ihrer Arbeit bedeutend niedriger.
1995 verabschiedete die chinesische Regierung das erste Arbeitsgesetz. Es bot Schutz im
Bezug auf Löhne und Arbeitszeiten, Beschäftigungs- und Urlaubsregelungen etc. Das
Gesetz sollte vor allem den WanderarbeiterInnen von Land zu Gute kommen, da der
private Sektor, in dem sie arbeiteten, im Bezug auf Arbeitsbedingungen und
Sozialleistungen schlechter war als der staatliche Sektor. Dem Gesetz wird allerdings kaum
Geltung verschafft. Die Beschwerden der ArbeiterInnen stoßen in den meisten Fällen bei
den lokalen Arbeitsbehörden auf taube Ohren. Oft gehen diese sogar so weit, Druck auf
die Arbeiter auszuüben, ihre gerechtfertigten Ansprüche aufzugeben. Das hilft den TNC
und ihren Zulieferern dabei, die Arbeiter skrupellos auszubeuten. In
Exportproduktionszonen (EPZ) arbeiten die Beschäftigten zwischen 12 und 14 Stunden am
Tag. Wenn eilige Aufträge vorliegen, sind Arbeitstage von 8 bis 22 Uhr nicht ungewöhnlich,
oder manchmal gar bis 2 Uhr morgens. Viele Beschäftigte haben im Monat nur ein bis zwei
Tage frei, und manche gar keinen. Das geht über die gesetzlich erlaubte Arbeitszeit weit
hinaus. Die Beschäftigten kommen mit solch schwerer Arbeit kaum klar. Wenn sie sich
aber weigern, Überstunden zu arbeiten, werden sie gefeuert.
In den EPZ übersteigt die Anzahl der Frauen diejenige der Männer bei weitem. Das macht
es für die weiblichen Beschäftigten schwer, einen Partner zu finden. Darüber hinaus gilt in
einigen Fabriken die Regel, dass Frauen die Arbeit aufgeben müssen, wenn sie heiraten.
Verheiratete Paare, die gemeinsam in dieselbe EPZ kommen, leben oft getrennt, weil jeder
im Wohnheim der eigenen Fabrik wohnt. Selbst wenn die Paare in derselben Fabrik
arbeiten, müssen sie in getrennten Wohnheimen wohnen, wodurch es unmöglich ist, ein
normales Sexualleben zu haben. Wenn weibliche Beschäftigte schwanger werden, ist
Kündigung oft ihre einzige Wahl, da sie einfach nicht weiter so harte Arbeit machen
können. Die Managements versetzen schwangere Arbeiterinnen nur selten in leichtere
Jobs.
Trotz der repressiven Kapazität von Regierung und Fabrikbesitzern haben die
ArbeiterInnen begonnen, Widerstand zu leisten. Für 2004 wird von über 30 Streiks mit
über 1.000 Beteiligten im Perlfluss-Delta berichtet (es gibt keine offiziellen Statistiken
über die Anzahl der Streiks). Streiks mit weniger als 1.000 ArbeiterInnen waren
zahlreicher; und laut den von uns geführten Interviews sind Streiks, von denen man gar
nichts erfährt, weit verbreitet. Ein Arbeiter aus Guangzhou erzählte uns: „In unserer
Fabrik sind Streiks sehr nützlich und wirksam. Jedes Mal wenn Löhne noch ausstehen oder
das Management schlechte Maßnahmen einführt, streiken wir, und es funktioniert.“
In der Vergangenheit waren staatliche Repression und barackenartige Fabrikregimes sehr
effektiv darin, die Proteste der Arbeiter zu in Zaum zu halten. Heute beginnen jedoch
dieselben Mechanismen die gegenteilige Wirkung zu zeigen. Wir könnten argumentieren,
dass es genau die Schärfe der repressiven Maßnahmen ist, die die ArbeiterInnen dazu
treibt, sich zu wehren. In den uns bekannten Fällen waren Streiks der Beschäftigten
immer eine Folge von extremer Ausbeutung, welche die physischen und psychischen
Grenzen der ArbeiterInnen weit überschritten hatte. Im Fall Computime streikten die
Beschäftigten, weil ihnen zehn Jahre lang lediglich 40 Prozent des Mindestlohns gezahlt
worden waren. Im Fall GP streikten die Beschäftigten, weil sie im Bezug auf ihre
Wohnheimregime bezeichnet wird und sich darauf bezieht, dass ein Großteil der
WanderarbeiterInnen in Wohngebäuden mit (geschlechtergetrennten) Schlafsälen direkt auf
dem Fabrikgelände untergebracht sind und daher im Prinzip 24 Stunden am Tag unter
Aufsicht stehen und den Regeln des Unternehmens unterworfen sind, für das sie arbeiten.
(Anmerkung der Übersetzerin)
Kadmiumvergiftung wiederholt belogen worden waren. 2008 brachen zwei gewaltsame
Streiks gegen das barackenartige Fabrikregime in der Maersk-Containerfabrik in Dongguan
in der Provinz Guangdong aus.28 Maersk Dongguan hat die Beschäftigten rechtswidrig zu
Überstunden gezwungen. Die Arbeiter mussten 73 Regeln folgen, die im
„Beschäftigtenhandbuch“ niedergelegt waren. Verboten bei Strafe der sofortigen
Entlassung sind die Verteilung von Flugblättern, sind Petitionen und Streiks. Die Regeln
beinhalten außerdem:
Paragraph 18: Verletzung von Kantinenregeln, Beschädigung von Kantineneinrichtung und
Störung der Ordnung, einschließlich unter anderem: Zerstörung von Utensilien, sich nicht
in die Schlange zur Essensausgabe einreihen, Utensilien auf dem Tisch zurücklassen oder
sie nach dem Essen nicht an den dafür vorgesehenen Ort zurückbringen, Essensreste und
Müll nicht an die dafür vorgesehenen Orte bringen oder Essen, Suppe, Obstschalen,
Getränke etc. auf dem Tisch oder Fußboden liegen lassen. 1. und 2. Verstoß:
Registrierung des Verstoßes; 3. Verstoß: Entlassung
Mit Hilfe der lokalen Regierung wurden die Streiks unterdrückt. Allerdings war nach den
Vorfällen eine gewisse Besserung erreicht worden.
Weibliche Wanderarbeiter werden stets als gefügiger gesehen. Darum stellen Arbeitgeber
in den EPZ lieber mehr Frauen als Männer ein. Wenn aber weibliche Beschäftigte ihre
Ausbeutung nicht mehr aushalten können, beginnen sie ebenfalls Widerstand zu leisten
und sind darin manchmal sogar tapferer als Männer.
Im Fall GP von 2004/05 waren es nicht männliche, sondern weibliche Beschäftigte, die den
Kern eines Aktivistinnennetzwerks bildeten und gegen das Unternehmen aufstanden.
Mehr ArbeiterInnen lernen nun, dass es nur einen Weg gibt, ihre Bedingungen zu
verändern: Widerstand – und Teilsiege werden häufiger. Die meisten dieser Streiks haben
allerdings spontan und ohne vorherige Planung stattgefunden. Selbst wenn die
Beschäftigten Konzessionen erkämpft haben, gibt es kaum Anreize für langfristige
Organisierung. Die meisten der bekannten Fälle sind Streiks ohne Anführer. Und selbst
wenn hinter den Kulissen Organisierung stattgefunden hat, dann wahrscheinlich auf einer
niedrigeren Ebene als bei den Arbeitern der Staatsbetriebe. Der Fall Uniden von 2004/0529
ist eine der wenigen Ausnahmen. Dort haben die Arbeiter fünfmal gestreikt. Auf dem
Höhepunkt des Kampfes versuchten die Anführer eine Betriebsgewerkschaft zu
organisieren. Erst schwere Repressionen ließen sie scheitern.
Gut geplante Streiks setzen vorangegangene Organisierung voraus, aber
Arbeiterorganisationen sind zu schwer am Leben zu halten angesichts der Repressivität
des Regimes – von der Zentralregierung bis in die Nachbarschaftskomitees, von der
lokalen Polizei bis zu gemeindebasierten „Teams für öffentliche Ordnung“ und
Fabrikwachleuten.
Ein weiterer Faktor, der die WanderarbeiterInnen von der Organisierung abhält, ist das
Hukou-System, das Haushaltsregistrierungssystem. Obwohl den Wanderarbeitern vom
Land keine so verheerende Niederlage zugefügt wurde wie den SOE-Arbeitern, besitzen sie
kein kollektives Gedächtnis als Klasse. Sie sind nongmingong, wörtlich: Landarbeiter, mehr
Bauern als Arbeiter, nicht weil sie wirklich das Land bestellen würden – tatsächlich tun das
die meisten von ihnen selten –, sondern weil das Hukou-System wie eine Art soziale
Apartheid funktioniert, das den WanderarbeiterInnen vom Land das Recht verwehrt, in den
Genuss der Rechte von ständigen Bewohnern der städtischen Gegenden zu kommen –
also anständiger Jobs und der Bereitstellung öffentlicher Dienste wie Bildung und
Gesundheitsversorgung etc. Sie sind also davon ausgeschlossen, in den Städten ihre
Familien versorgen und Wurzeln schlagen zu können. Egal wie lang sie dort bleiben – es
ist ihnen stets bewusst, dass ihr Aufenthalt zeitlich begrenzt ist. Daher ist ein Bewusstsein
von Klassenidentität schwer aufzubauen.

Allmählich gerät das Hukou-System immer stärker mit einem neuen Kapitalismus in
Konflikt, der zunehmend nach der freien Beweglichkeit der Arbeit verlangt anstatt nach
ihrer Eingrenzung. In den letzten Jahren haben WanderarbeiterInnen die Erfahrung
gemacht, dass die schrittweise Lockerung des Hukou-Systems ihnen den verlängerten
Aufenthalt in den städtischen Bezirken erleichtert hat. Möglicherweise kann bei Teilen, vor
allem den relativ gut ausgebildeten Teilen dieser Generation eine Klassenidentität
entstehen. Dies könnte wiederum eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber der Idee
der dauerhaften Organisierung bewirken. Das Motto der älteren Wanderarbeiter-
Generation war „ershi ding chushan, sishi ding shoushan”, was wörtlich bedeutet: Mit
zwanzig muss man das Land verlassen, um Arbeit zu suchen, und mit vierzig muss man
zurückkehren. Für die Generation der nach 1980 Geborenen ist das weniger klar, da die
meisten von ihnen niemals das Land bestellt haben und städtisches Leben gewohnt sind.
Nach über dreißig Jahren rapiden Wachstums beginnt nun in China vielleicht eine neue
Periode, einfach deshalb, weil dieses Wachstum mit furchtbaren menschlichen, sozialen
und ökologischen Kosten erkauft ist. Nach einem Bericht der Weltbank ist der Lohnanteil
am chinesischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 1998 und 2005 von 53 auf 41,4
Prozent gesunken, gegenüber 57 Prozent in den USA.30 Auf der anderen Seite derselben
Medaille ist der Anteil des Profits am BIP im selben Zeitraum dramatisch gestiegen ist. Der
chinesische Wissenschaftler Wang Lianli schreibt, dass das Verhältnis zwischen Löhnen
und Profit in der Produktion zwischen 1990 und 2005 von 1:3,1 auf 1:7,6 gestiegen ist.31
Die zunehmende Anzahl spontaner Streiks, Straßenblockaden und gelegentlicher Unruhen
sprechen dafür, dass die Bedingungen für die knechtenden Massen zunehmend
inakzeptabel geworden sind. Es wird berichtet, dass es in China 1993 8.709 Fälle
„kollektiver Vorkommnisse“ (inklusive öffentlicher Proteste oder Streiks) gegeben hat,
1990 32.000 Fälle, 2003 60.000, 2004 74.000 und 2005 87.000 Fälle. Das entspricht
einer Verzehnfachung innerhalb einer Dekade. An 35 Prozent dieser Fälle waren Bauern
beteiligt, an 30 Prozent Arbeiter.32 Selbst die offiziellen Medien haben zugegeben, dass die
Spannung zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen einen neuen Höhepunkt
erreicht hat. Die globale Finanzkrise von 2008 mag Chinas kontinuierliches Wachstum in
Frage stellen. Die KPC wird ihre Schwierigkeiten haben, all diese Probleme in den Griff zu
bekommen. Andererseits erfordert es starke Organisierungsbemühungen und Solidarität
zwischen den beiden Teilen der Arbeiterklasse, um ihre Verarmung umzudrehen. Die
Kämpfe zwischen 1989 und 2009 konnten keinen substanziellen Sieg erringen. Sie waren
auch weit davon entfernt, sich zu politischen Kämpfen zu entwickeln. Dennoch haben die
errungenen Teilsiege den widerständigen ArbeiterInnen geholfen, allmählich mit
wachsendem Selbstbewusstsein ihre Rechte zu beanspruchen.
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Publikationsdatum: 24. Januar 2010
Übersetzung: Anne Scheidhauer

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Anmerkungen

 

1 Dieser Artikel wurde verfasst für The International Encyclopedia of Revolution and Protest
1500 to the present, edited by Immanuel Ness, Wiley Blackwell, 2nd edition 2010.
2 Au gehört zu den Herausgebern des China Labor Net, Bai ist dort Autor.

3 Diese Rede wird unter Verschluss gehalten. Der frühere Chef der General Administration of
Press and Publication, Dao Daozheng, hat aber letztes Jahr in Hong Kong darüber berichtet.
Vgl. Ming Pao, October 14, 2008.

4 Für eine detailliertere Darstellung des Reform-Hintergrundes der Demokratiebewegung von
1989 kann man Teil 4 des folgenden Buches lesen: The Deng Xiaopeng Era: An Inquiry into
the Fate of Chinese Socialism 1978-1994, by Maurice Meisner, Hill and Wang, 1996.
5 A Moment of Truth, Workers participation in China’s 1989 Democracy Movement and the
Emergence of Independent Unions, Hong Kong Trade Union Education Centre, Hong Kong,
1990, p94.
6 A Moment of Truth: Workers’ Participation in China’s 1989 Democracy Movement and the
Emergence of Independent Unions, Hong Kong Trade Union Education Centre, Hong Kong,
1990, p25.

7 Zhongguo minyun yuanziliao jingxuan (Selected Original Documents of China Democratic
Movement), vol. 1, October Review, June 25, 1989, p33.
8 A Moment of Truth: Workers’ Participation in China’s 1989 Democracy Movement and the
Emergence of Independent Unions, Hong Kong Trade Union Education Centre, Hong Kong,
1990, p183.
9 A Moment of Truth: Workers’ Participation in China’s 1989 Democracy Movement and the
Emergence of Independent Unions, Hong Kong Trade Union Education Centre, Hong Kong,
1990, p2.
10 A Moment of Truth: Workers’ Participation in China’s 1989 Democracy Movement and the
Emergence of Independent Unions, Hong Kong Trade Union Education Centre, Hong Kong,
1990, pp202-204.

11 Newspaper Front Pages on the Democratic Movement of China, China Democratic
Movement Resource Centre, June 1989, p209.
12 A Moment of Truth: Workers’ Participation in China’s 1989 Democracy Movement and the
Emergence of Independent Unions, Hong Kong Trade Union Education Centre, Hong Kong,
1990, p54.
13 Newspaper Front Pages on the Democratic Movement of China, China Democratic
Movement Resource Centre, June 1989, p192.
14 A Moment of Truth: Workers’ Participation in China’s 1989 Democracy Movement and the
Emergence of Independent Unions, Hong Kong Trade Union Education Centre, Hong Kong,
1990, p185.
15 Ibidem, p191.

16 Ibidem, p192.
17 Ibidem, pp41-61.
18 Ibidem, pp75-86

19 Ibidem, p188.
20 Zhongguo minyun yuanziliao jingxuan (Selected Original Documents of China Democratic
Movement), vol. 2, October Review, November 1989, p44.

21 China Statistical Abstract, 2004, China Statistics Press, p41

22 Jingji zhuangui zhong de zhongguo nüxing jiuye yu shehui baozhang, (China Women
Employment and Social Security under Economic Transition), Pan Jintang, China People’s
University, Management World, Issue 7, 2002.
23 Ming Pao, Hong Kong, 25th October, 2002.
24 Ming Pao, Hong Kong, 29th April, 1998.

25 China Statistical Yearbook, 2009, China Statistics Press, p111.
26 Blood on the Hands at a Bleeding Steel Mill, 21st August, 2008, Caijing,
http://english.caijing.com.cn/templates/inc/webcontentens.jsp?
id=110228012&time=2009-08-21&cl=104&page=all
27 Das „Regime barackenartiger Fabriken“ ist ein Kontrollregime, das auch als Schlafsaal- bzw.
Einparteienstaat.

28 Details über diese drei Fälle auf der Webseite von Globalization Monitor:
http://www.globalmon.org.hk/en/
29 http://bbs.chinaunix.net/viewthread.php?tid=468440

30 China Economy Quarterly Update, Feb 2007, World Bank Beijing Office, p6.
31 Tigao laodong baochou, zheli yu chuci fenpei (Raise the compensation of labour, focus on
initial distribution), by Wang Lianli, Xianggang Chuanzhen (Hong Kong Fax), published by
research department of Citic Pacific, No. 2007-90, p8.
32 Zhongguo de saoluan shijian yu guanzhi weiji (China’s riots and its Management Crisis), Yu
Jianrong, Method First Journal, November 2007, Issue 7,
http://www.chinaelections.org/newsinfo.asp?newsid=118361