Auswirkungen der Finanzkrise auf Arbeitsbedingungen in China

Von Staphany Wong 5. März 2009


Inzwischen ist es keine Frage mehr, ob China von der Finanzkrise betroffen ist oder nicht.
Neu lässt sich vielmehr formulieren, wie China mit der Krise fertig werden kann. Optimisten
glauben, China sei von der Finanzkrise nicht so stark betroffen, befände sich in einer
besseren Lage als andere Länder und/oder werde die Krise nutzen können, um seine Macht
auszudehnen2 oder zu zeigen, dass staatliche Eingriffe in die Wirtschaft schließlich doch
keine so schlechte Idee sind.3 Während es Monate oder sogar Jahre dauern könnte, diese
Theorien zu verifizieren, steht die Existenz Hunderter Millionen ArbeiterInnen auf dem Spiel.
Arbeitslosigkeit, furchtbare Arbeitsbedingungen und gesellschaftliche Instabilität werden
immer drängender, und so wird die Regierung an ihrer Bearbeitung dieser Probleme messen
lassen müssen, wie es um ihre Fähigkeit zum Krisenmanagement bestellt ist und ob die
eingeschlagene Richtung für die langfristige Entwicklung die richtige ist. Mit diesem Artikel
möchte ich die Auswirkungen der Krise skizzieren. Mein Augenmerk richtet sich vor allem auf
Arbeitsplatzverluste und sinkende Löhne, auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse sowie
auf die Versuche der Regierung, für Stabilität zu sorgen.


Ursachen von Fabrikschließungen


Der Begriff 'Fabrikschließung' ist in chinesischen Zeitungen dieser Tage häufig zu lesen, vor
allem im Zusammenhang mit Beschreibungen der Situation im Perlflussdelta seit Oktober
2008. Er wird benutzt, als seien Fabrikschließungen eine logische Folge der Finanzkrise, mit
der die Zahl der Aufträge aus dem Westen sinkt: bei Schuhen, Spielzeug, Bekleidung und
sogar elektronischen Produkten. Wenn die Exporte abnehmen, leiden die arbeitsintensiven
Industrien.
Wenn man den Arbeitsmarkt längere Zeit beobachtet, stellt man fest, dass ‘Fabrikschließung’
eine von vielen Folgen der Finanzkrise ist. Dabei ist das Verhältnis zwischen
Fabrikschließung und Finanzkrise aber nicht als eines von Ursache und Wirkung zu
beschreiben, sondern als Katalysator, Ausrede, zeitliche Koinzidenz oder sogar Medien-
Hype.
Die Welle der Fabrikschließungen begann in China noch bevor der Begriff ‚Kreditkrise’ gegen
Ende 2007 aufkam und vor der globalen Finanzkrise in der zweiten Hälfte von 2008. Schon
im Dezember 2007 hatte das chinesische Staatsfernsehen eine Dokumentation ausgestrahlt:
„Untersuchung der Schließung von Tausenden Fabriken im Perlflussdelta: Steigende
Produktionskosten führen zu Fabrikverlagerungen“.
Ende 2007 machte die Federation of Hong Kong Industries in einem Interview die steigenden
Arbeits- und Materialkosten sowie die Verteuerung des Yuan – und nicht die Finanzkrise –
für Pläne des Hongkonger Kapitals verantwortlich, sich 2008 und 2009 aus Südchina
zurückzuziehen.4
Gründe für Fabrikschließungen und Verlagerungen sind eine Verknappung von
Arbeitskräften,5 höhere Arbeitskosten (um die ArbeiterInnen zu halten), begrenzte
Stromkontingente, Ölverknappung, gestiegene Steuern für Industrien mit einem niedrigen
Technologisierungsgrad,6 strengere Gesetze bezüglich Arbeits- und Umweltstandards (z.B.
das Arbeitsvertragsgesetz) sowie trotz des verteuerten Yuan anhaltend niedrige US-Dollar-
Einkaufspreise, was die Profitrate schmälert.
Auch wenn Fabrikbesitzer und Handelslobbyisten es nur äußerst selten zugeben, sind die
Beschäftigten davon überzeugt, dass viele Fabrikschließungen vor allem eines zum Ziel
hatten: Arbeitsverhältnisse zu beenden, bevor am 1. Januar 2008 das neue
Arbeitsvertragsgesetz eingeführt wurde, welches Entlassungen inzwischen komplizierter und
teuerer macht. Große Unternehmen wie Wal-Mart China und Huawei Technologies haben,
auch ohne ihre Niederlassungen vor Ort zu schließen, viele Arbeitsverträge vor der
Einführung des neuen Gesetzes gekündigt und dieselben Beschäftigten danach wieder neu
eingestellt.7
Faktisch aber treten Finanzkrise und Fabrikschließungen Hand in Hand auf. Chinas
Nationale Entwicklungs- und Reformkommission hat bestätigt, dass landesweit 67.000 kleine
und mittelgroße Unternehmen in der ersten Jahreshälfte von 2008 geschlossen haben.8 Neben
sinkenden Exporten lässt sich dieser Umstand auch damit erklären, dass die Kreditkrise die Banken nervös macht, so dass sie Kreditlinien kürzen, und zwar im
Fall mancher kleinerer Unternehmen um bis zu 50 Prozent.9
Tatsächlich haben viele chinesische Unternehmen nicht mehr nur in einer einzigen Branche
investiert. Wenn, wie zuvor erwähnt, die Profitrate im Laufe der Jahre sinkt, neigen sie dazu,
in anderen Feldern zu investieren. Möglicherweise gehen sie aber mit ihren neuen
Investitionen aufgrund der Finanzkrise oder aus anderen Gründen pleite. Als im Oktober in
Dongguan 6.000 ArbeiterInnen bei Smart Union, dem weltgrößten Spielzeughersteller, ihre
Arbeitsplätze verloren, waren an der Pleite des Unternehmens, so wurde berichtet,
Fehlinvestitionen und Kreditprobleme schuld.10

Wie ernst ist die Arbeitslosigkeit? Gäbe es nur Zahlen...


Eine der am breitesten diskutierten Fragen ist in diesen Tagen: Wie viele ArbeiterInnen sind
ohne Beschäftigung? Was bedeutet eine so hohe Arbeitslosigkeit für China?
Es gibt unterschiedliche offizielle und halboffizielle Quellen und Schätzungen zum
Arbeitsmarkt. Leider sind deren Zahlen ziemlich chaotisch und nicht recht miteinander
vereinbar.
Am 2. Februar 2009 gab Chen Xiwen, Vizepräsident der ZK-Führungsgruppe Finanzen und
Wirtschaft, die Zahl der WanderarbeiterInnen, die bislang ihre Arbeitsplätze aufgrund der
Finanzkrise verloren haben, mit 20 Millionen an. Diese Zahl leitet sich aus einer
Untersuchung des Landwirtschaftsministeriums ab, für die 150 nach dem Zufallsprinzip
ausgewählte Dörfer in 15 Provinzen vor dem chinesischen Neujahr (am 26. Januar 2009)
befragt wurden. Dabei kam heraus, dass 38,5 Prozent ihrer WanderarbeiterInnen nach
Hause zurückgekehrt waren. 39,6 Prozent der Zurückgekehrten hatten ihre Arbeitsplätze
verloren oder keine feste Beschäftigungszusage. Auf der Basis seiner Schätzung, es gebe
insgesamt 130 Mio. WanderarbeiterInnen in China, ermittelte das Ministerium aus dieser
Umfrage die Zahl von 20 Mio. WanderarbeiterInnen, die ihre Arbeitsplätze aufgrund der
Finanzkrise verloren hätten.
Diese Zahl ist seitdem in allen Medien herumgereicht worden. Ob sie zutrifft, bleibt allerdings
fraglich. Denn erstens gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Gesamtzahl der
chinesischen WanderarbeiterInnen. So stellte der offizielle chinesische
Gewerkschaftsverband All-China Federation of Trade Unions (ACFTU) am 17. Februar 2009
fest, Ende 2008 habe es insgesamt 230 Mio. WanderarbeiterInnen gegeben. Schon am 6.
März 2008 hatten die Xinhua News berichtet, 210 Mio. WanderarbeiterInnen bräuchten
soziale Absicherung. Auf der Basis dieser Gesamtzahlen ergibt die Anwendung der durch die
Umfrage ermittelten Prozentsätze natürlich auch eine sehr viel höhere Arbeitslosenzahl.
Zweitens hat das Ministerium die Tatsache ignoriert, dass viele WanderarbeiterInnen, die ihre
Jobs verloren haben, während des Neujahrsfestes in den Städten geblieben waren, da die
Fahrt nach Hause teuer ist und sie lieber Arbeit suchen wollten, solange die anderen noch
weg waren. Drittens ist es eine durchaus übliche Praxis bei WanderarbeiterInnen, den
Arbeitsplatz vor dem Neujahrsfest zu kündigen und danach einen neuen zu suchen. Bleibt
nur die Frage, wie schwierig sich letzteres im Jahre 2009 gestalten würde. Auch andere
Variablen wurden von Chen nicht mitbedacht: ob arbeitslose WanderarbeiterInnen lieber auf
dem Land bleiben würden, ob sie andere Pläne haben, wie viele der aus den Städten
stammenden ArbeiterInnen ebenfalls ihre Arbeitsplätze verloren haben etc.
Neben den WanderarbeiterInnen muss Chinas Arbeitsmarkt 2009 6,1 Mio. neue
UniversitätsabsolventInnen aufnehmen, plus weitere 1,7 Mio., die ihr Studium 2008
abgeschlossen und bisher keinen Arbeitsplatz gefunden haben.
In der Tat ist es fast unmöglich, für China eine konkrete Arbeitslosenquote anzugeben. Am
20. Januar 2009 gab das Ministerium für Humanressourcen und Soziale Sicherheit
(MoHRSS) die Arbeitslosenquote für Ende 2008 mit 4,2 Prozent (bzw. 8,86 Mio. Menschen)
an, also 0,2 Prozent mehr als 2007. Allerdings berücksichtigt Chinas Arbeitslosenquote
ausschließlich registrierte Stadtbewohner. WanderarbeiterInnen, UniversitätsabsolventInnen
ohne Job sowie ArbeiterInnen, die von den ehemaligen Staatsunternehmen entlassen
wurden, bleiben außen vor. Ein chinesischer Blogger hat eine Liste jährlicher Geburten,
neuer Arbeitskräfte, neu eingestellter und offiziell arbeitsloser Menschen der letzten zwei
Jahrzehnte zusammengestellt und schließt daraus, dass die tatsächliche Arbeitslosigkeit in
China bei 100 Millionen Menschen und damit 12-mal höher liegt als die offizielle Zahl.11 Die
Chinese Academy of Social Sciences sieht die städtische Arbeitslosenquote im 4. Quartal
von 2008 bei 9,4 Prozent (Xinhua Net, 1. Februar 2009).
Liquidität ein und das Unternehmen meldete Bankrott an (Sina Finance, 3. Dezember 2008,
http://finance.sina.com.cn/review/observe/20081203/22585587182.shtml) (chinesisch)

Für die, die noch Arbeit haben


In Shanghai, wo die “high-end”-Produktion stattfindet und viele multinationale Unternehmen
ihre eigenen Fabriken haben, haben die Schließungen von Fabriken mit ausländischem
Kapital wie Intel und Motorola eben begonnen. Eine weitere Sorge bereitet den
Beschäftigten, dass Lohnkürzungen immer häufiger werden. Die Sany Group beispielsweise,
die kürzlich 100 Mio. Euro in Nordrhein-Westfalen investiert hat,12 kündigte an, ihr Direktor
werde 2009 ein Gehalt von 1 Yuan erhalten und die Gehälter des gesamten Vorstandes
würden um 90 Prozent, diejenigen im leitenden Management um 50 Prozent gekürzt. Das
führt zu heftigen Diskussionen im Internet-Forum, da viele glauben, dass Sany nicht etwa
selbst in finanziellen Problemen steckt, sondern vielmehr die Idee der Solidarität mit anderen
in Schwierigkeiten geratenen Firmen befördern will. Außerdem sorgen sich die Beschäftigten
in Verwaltung und Produktion, ob die Welle der Lohnkürzungen auch sie erreichen wird.
Beschäftigte kommentieren: “Bei den hochrangigen Managern reflektieren die Gehälter
lediglich den Rang. Sie bilden aber nicht das Haupteinkommen. Die Manager haben Aktien,
Dividenden und Bonusse. Ich weiß nicht, ob das einfach nur eine Show ist, wenn da
Lohnkürzungen angekündigt werden, aber es wird ein dringendes Thema, wie die Gehälter
dieser hochrangigen Manager reguliert werden.“ „Wird der nächste Schritt dieser
‚Lohnkürzungswelle’ das hart verdiente Einkommen der Beschäftigten gefährden? Ich habe
gehört, dass die Abschaffung des Systems gesetzlicher Mindestlöhne diskutiert wird.“13
Die für die Beschäftigten lebensnotwendige soziale Sicherung ist bereits geopfert worden.
Um den Fabriken überleben zu helfen und eine Verschärfung der Arbeitslosigkeit zu
vermeiden, kündigte das MoHRSS im Dezember 2008 an, dass eine zeitliche Verschiebung
der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen bei Unternehmen mit finanziellen Problemen
akzeptiert werde. Seitdem haben unterschiedliche Provinzregierungen ständig Erlaubnisse
an Firmen erteilt, zeitweise niedrigere Zahlungen für Kranken-, Unfall- und
Arbeitslosenversicherungen sowie für den Mutterschutz zu leisten. Auch eine Erhöhung des
gesetzlichen Mindestlohns bleibt in diesem Jahr in vielen Städten aus. Dies spüren die
Beschäftigten massiv, denn die allgemeine Inflationsrate lag im Jahr 2008 bei 5,9 Prozent
und die Preise für Nahrungsmittel sind sogar um 14,3 Prozent gestiegen.14 Darüber hinaus
könnten die neuen Maßnahmen die Behörden dazu verleiten, die sich ständig ausweitenden
Arbeitskonflikte nicht zur Kenntnis zu nehmen, da es den Regierungen der unterschiedlichen
Verwaltungsebenen zur Zeit hauptsächlich darum geht, die Unternehmen zu erhalten.
Regierungsinterventionen
Die chinesische Regierung hat klargemacht, dass sie das Wachstum des BIP auf hohem
Niveau halten will. Beim 11. Landeskomitee der Politischen Konsultativkonferenz des
Chinesischen Volkes wurde erklärt, dass das Ziel von 8 Prozent Wachstum durch
entsprechende Anstrengungen erreicht werden könne, auch wenn die Zahlen für das vierte
Quartal 2008 mit 6,8 Prozent das niedrigste Wachstum seit sieben Jahren zeigten.
Ein Artikel der Asia Times15 gibt an, mit jedem Prozent BIP-Wachstum könnten 0,11 Prozent
Beschäftigungswachstum erzeugt werden. Auf diesen Zusammenhang stützt sich wohl auch
die Hoffnung der chinesischen Regierung, die daher an ihrem ehrgeizigen Ziel festhält,
obwohl viele Wissenschaftler Zweifel daran bekundet haben.
Schon im November 2008 hat die chinesische Regierung angekündigt, einen Plan zur
Wachstumsstimulation, zur Senkung der Arbeitslosigkeit und zur gesellschaftlichen
Stabilisierung entwerfen zu wollen. Bislang wurden ein Investitionspaket von 4 Billionen Yuan
für 2009 und 2010, Kredite für kleine und mittlere Unternehmen sowie Steuererleichterungen
für die Exportproduktion angekündigt und teilweise umgesetzt.
Insofern allerdings massive Investitionen auf die Infrastruktur abzielen, um die heimische
Nachfrage anzukurbeln und das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen, beurteilen einige
chinesische Wissenschaftler die Erfolgsaussichten skeptisch.16 Der Großteil der riesigen
Investitionen von 4 Billionen Yuan, befürchten sie, wird großen und staatlichen Unternehmen
zu Gute kommen und von diesen dazu verwendet werden, Ausstattung, Technologie und
Infrastruktur auf einen neueren Stand zu bringen oder neu zu erwerben, ohne dadurch
allerdings genügend dringend benötigte Arbeitsplätze zu schaffen. Es könnte für die
Infrastrukturprojekte auch eine Herausforderung darstellen, vormals im Produktionssektor
Erwerbstätige und nun arbeitslose Beschäftigte– in der Mehrzahl Frauen – einzubinden.
Geplant ist außerdem eine Ausdehnung der Subventionen auf ländliche Haushalte in ganz
China, damit diese Haushaltsgeräte wie Fernseher, Kühlschränke oder Motorräder
anschaffen können.17 Und Exporteure elektrischer Haushaltsgeräte sollen in den Genuss
einer Steuersenkung von 13 Prozent kommen, sagt Zeng Xiaoan vom Finanzministerium.
Auf der Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses, Chinas höchster legislativer Instanz,
kündigte Premierminister Wen Jiabao an, die Zentralregierung werde 331,8 und die
Lokalregierungen 518,2 Mrd. Yuan investieren, um mit den insgesamt 850 Mrd. Yuan im
Laufe der kommenden drei Jahre eine allgemeine medizinische Versorgung zu realisieren.
Dies geschieht einerseits in Reaktion auf die zunehmende Unzufriedenheit im Land mit der
Tatsache, dass die meisten Chinesen nicht krankenversichert sind, und soll andererseits
vermutlich den heimischen Konsum anschieben und die Exportabhängigkeit verringern. Die
Auswirkungen der medizinischen Reform wird man im Laufe der kommenden Jahre genauer
untersuchen müssen, denn schon 2006 war eine ähnliche Reform angekündigt, aber nicht
konsequent umgesetzt worden, da die Regierung sich mehr dem Kampf gegen die Inflation
zugewandt und befürchtet hatte, die Reform könne die Inflation noch verstärken.
Lokale Regierungen sind damit beschäftigt, die gesellschaftliche Stabilität in ihrer jeweiligen
Region zu stützen, indem sie Mittel auftreiben, um den kleinen und mittleren Unternehmen
den Zugang zu Krediten zu erleichtern; um den ArbeiterInnen Löhne zu bezahlen, die
aufgegebene Unternehmen ihnen noch schulden; um arbeitslosen WanderarbeiterInnen die
Heimreise zu organisieren etc. Sie stellen hie und da auch kreative, aber fragwürdige Pläne
vor. So erwägt bspw. die Provinzregierung von Guangdong, UniversitätsabsolventInnen
finanzielle Anreize für einen Umzug aufs Land zu bieten. Wenn diese dort Arbeit suchen
würden, so die Überlegung, würden die Arbeitsmärkte der Städte entlastet und gleichzeitig
das Niveau der öffentlichen Dienste in den ländlichen Gegenden verbessert. Ob dies wirklich
praktikabel ist, ob es genug Land, Ressourcen und Positionen gibt, um die AbsolventInnen
dort einzubinden, ist nicht hinreichend diskutiert. Da junge Menschen mit
Universitätsabschluss meist auch entsprechende Ansprüche an ihre Zukunft haben, ist
außerdem die Annahme, sie würden bereitwillig in die weniger entwickelten ländlichen
Gegenden umsiedeln, vermutlich etwas realitätsfremd.
Die ACFTU hat ein Programm zur Unterstützung von WanderarbeiterInnen mit neuen
Weiterbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen, Rechtsschutz und Zahlung von Hilfen zum
Lebensunterhalt angekündigt. Sun Chunlan, stellvertretende Vorsitzende und Erste
Sekretärin der ACFTU, hat deutlich gemacht, dass die Gewerkschaft vorrangig die
gesellschaftliche Stabilität aufrecht erhalten will. „Wir müssen jetzt sehr auf ausländische
feindliche Kräfte achten, die in die Wanderarbeiterschaft eindringen und sie zerstören, indem
sie ausnutzen, dass sich Unternehmen in Schwierigkeiten befinden“, sagte sie kürzlich in
einer Telefonkonferenz der ACFTU-Führung. Diese Botschaft erwies sich allerdings als
Bumerang: Eine Hongkonger Zeitung kritisierte, es sei unverantwortlich, ausländische
feindliche Kräfte für Chinas hausgemachte Probleme wie soziale Ungerechtigkeit, Korruption
und Regierungsfehler verantwortlich zu machen.18 Mehrere chinesische Zeitungen und
Blogger stellten diesen kritischen Kommentar auf ihre Webseiten, und LeserInnen
kommentierten, die ACFTU sei nicht in der Position, sich über ausländische feindliche Kräfte
zu beschweren, einen derart von Kulturrevolution und Klassenkampf geprägten Begriff zu
verwenden und die WanderarbeiterInnen zu verärgern, indem man ihre Bemühungen, die
eigenen Rechte zu verteidigen, mit so genannten ausländischen feindlichen Kräften in
Verbindung bringe.19
Die Atmosphäre scheint jedenfalls sehr gespannt. Angesichts des Näherrückens einer Reihe
bedeutungsschwerer Jahrestage (‚Tibetische Reform’ 50 Jahre, Massaker vom Platz des
Himmlischen Friedens 20 Jahre, Gründung der Volksrepublik China 60 Jahre) sowie der
aktuellen Probleme mit Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Instabilität plant das
Ministerium für Öffentliche Sicherheit ein historisch beispielloses, für die Dauer von einem
halben Jahr angesetztes Trainingsprogramm für 3080 Polizeikader.
Momentan lässt sich, wie in vielen anderen Ländern auch, in China noch nicht in aller
Konsequenz absehen, wie sich die Finanzkrise auswirken wird. Unter den ArbeiterInnen und
in den Fabriken ist vieles noch im Umbruch, und noch ist es zu früh, um abschließend zu
beurteilen, was das für die so genannte ‚Weltfabrik’ bedeuten wird. In den kommenden
Jahren werden wir sehr unterschiedliche Entwicklungen in Chinas Arbeitswelt erleben. Das
werden nicht nur Geschichten über Sweatshops sein. Ebenso werden sich Industrien um
eine höher technologisierte Produktion bemühen, für die gut ausgebildete Arbeitskräfte
benötigt werden. Regierungen werden in die häusliche Infrastruktur und Nachfrage
investieren. ArbeiterInnen werden darum kämpfen, in die Industriestädte zu kommen, dort zu
bleiben oder sie wieder zu verlassen. Und noch wichtiger: Was wird mit denen, die sich
entschlossen haben, in den ländlichen Regionen zu bleiben? Wird die chinesische
Landwirtschaftspolitik in der Lage sein, ihnen ein Auskommen zu ermöglichen? Wenn sie
keine WanderarbeiterInnen mehr sind, was wird dann ihre neue Identität sein? Wird die
Schere zwischen Stadt und Land weiter auseinander gehen? Oder werden beide eine
gemeinsame Basis finden?

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Übersetzung: Anne Scheidhauer

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1 Dieser Artikel ist ursprünglich im Dezember 2008 im Rahmen der Werkstatt Ökonomie erschienen
unter http://eu-china.net/web/cms/upload/pdf/materialien/wong_2008_impacts_of_the_financial_crisis.pdf.
Die vorliegende Version ist durchgesehen und ergänzt um neue Meldungen und Statistiken aus Medien und
Regierungsveröffentlichungen, vor allem im Hinblick auf die aktuellen Arbeitsbedingungen nach dem
chinesischen Neujahr.
2 Nach Ansicht von Chen Zhiwu, Professor an der School of Management der Universität Yale, könnte China, wenn es seine Devisenreserven für Investitionen in ausländische Rohstoffe (z.B. Mineralien in Ländern, die von der Finanzkrise betroffen sind) sowie inländische soziale Dienste (z.B. für eine bessere medizinische Versorgung der chinesischen Niedrigverdiener) nutzen würde, schließlich noch zum großen Gewinner der Finanzkrise werden (China Review News, 27. Oktober 2008, http://gb.chinareviewnews.com/doc/1007/8/1/5/100781523.html?
coluid=123&kindid=0&docid=100781523&mdate=1027141639) (chinesisch)
3 Wu Li, Vizepräsident des Institute of Contemporary China Studies an der Chinese Academy of
Social Science, sagt: “Die Kommunistische Partei Chinas hat beim Entwurf ihres ‚Konzepts zur
wissenschaftlichen Entwicklung’ die Finanzkrise nicht vorhergesehen. Dennoch enthält das Konzept einige ideologische Elemente, die für die Schwankungen, mit denen die chinesische Wirtschaft konfrontiert ist, eine Lösung darstellen können.” (Xinhua Net, 11. Dezember 2008,
http://news.xinhuanet.com/politics/2008-12/11/content_10489888.htm) (chinesisch)

4 “More than 10,000 Hong Kong-owned Factories facing Relocation or Closure”. In: Yangcheng
Evening News, 28. Dezember 2007 (chinesisch)
5 Seit 2005 haben eine bessere Politik für die ländlichen Regionen sowie höhere städtische
Inflationsraten eine Reihe von WanderarbeiterInnen, die prinzipiell lieber bei ihren Familien auf dem Land leben würden, dazu veranlasst, nicht zum Arbeiten in die Städte zurückzukehren. So wird berichtet, dass 2006 „etwa 1,7 Mio. WanderarbeiterInnen (in der Region von Shenzhen), die im Januar ihren Jahresurlaub zum chinesischen Neujahrsfest angetreten hatten, hinterher nicht zurückgekehrt sind.“ (“China's factories hit an unlikely shortage: labor.” In: The Christian Science Monitor, 1. Mai 2006, http://www.csmonitor.com/2006/0501/p01s03-woap.html) (englisch)
6 Mit der Ankündigung des 11. Fünfjahresplans machte die Regierung von Guangdong Ende 2006
deutlich, dass ihre Prioritäten beim „Wechsel zu Dienstleistungsindustrien“ liegen. Mit der Umsetzung wurde 2007 begonnen: Man drängte „low-end“-Industrien wie Textil und Bekleidung aus der Provinz, indem man ihnen keine Steuervergünstigungen mehr gewährte. Im Oktober 2008 wurden jedoch neue Steuererleichterungen eingeführt, als Fabriken in größerer Zahl schlossen, als die Regierung erwartet bzw. gewünscht hatte. Vgl. “China to raise export tax rebates for textile, garment products.” In: China View, 22.Oktober 2008, http://www.newsgd.com/news/china1/content/2008-10/22/content_4662027.htm) (englisch)
7 “Sackings at Wal-Mart: Global restructuring or avoiding the new Contract Law?” In: IHLO,
Dezember 2007, http://www.ihlo.org/LRC/W/101207d.html (englisch)
8 ”Cold Winter of Lay-offs” In: China Newsweek, 29. Oktober 2008
(http://news.sina.com.cn/c/2008-10-29/120216548971.shtml) (chinesisch). Die Größe der betroffenen 67.000 Fabriken wird jedoch nicht im Detail angegeben, so dass schwer zu beurteilen ist, wie stark sich die Schließungen auf die chinesische Wirtschaft und den Arbeitsmarkt auswirken. China hat laut Statistik des Amts für Industrie und Handel Ende September 2008 9,6 Mio. registrierte Unternehmen. 2006 waren es 9,19
Mio. und 2007 9,63 Mio. (People's Daily, 30. Oktober 2008,
http://www.gov.cn/jrzg/2008-10/30/content_1135295.htm) (chinesisch)
9 “How will China Weather the Financial Storm?” In: Time, 23. Oktober 2008, http://www.time.com/time/business/article/0,8599,1853112,00.html (englisch)
10 Chinesischen Medien zufolge wollte Smart Union nicht mehr nur ein Produktionsbetrieb sein und hat seit Juni 2007 über 400 Mio. Yuan in eine Silbermine in der Provinz Fujian investiert. Dies war jedoch offenbar eine Fehlinvestition. Als dann noch die Exporte für Spielzeug zurückgingen, brach Smart Unions

11 “What is the hidden unemployed population in China?” Aus dem Blog von Qingyi, Eintrag vom 28.Dezember 2008. http://blog.sina.com.cn/s/blog_4a46559f0100bpch.html (chinesisch)

12 Siehe Sany-Pressemitteilung: http://www.sany.com.cn/english/aboutus/20090205063228.htm(englisch)
13 Sina Financial News, 16. Februar 2009,
http://financenews.sina.com/chinanews/000-000-107-103/402/2009-02-16/1921399097.shtml (chinesisch)
14 “Statistics release for 2008”, in National Bureau of Statistics of China, 26. February 2009,
http://www.stats.gov.cn:82/tjgb/ndtjgb/qgndtjgb/t20090226_402540710.htm (chinesisch)
15 „China seeks road back to growth.“ In: Asia Times, 19. Februar 2009:
http://www.atimes.com/atimes/China_Business/KB19Cb02.html (englisch)

16 Li Yining, Mitglied des Ständigen Ausschusses vom Nationalen Volkskongress und chinesischer Ökonom, der für seine ökonomischen Theorien und seine Vorschläge zur Reform von Chinas Staatsbetrieben bekannt ist, wird hierzu in Southern Daily & Mingpao Daily vom 9. Februar 2009 zitiert.
17 Eine entsprechende Subvention wurde in einigen Provinzen zwischen Dezember 2007 und Mai 2008 umgesetzt. Als Reaktion auf abnehmende Exporte und um die heimische Nachfrage anzukurbeln, hat die Regierung darüber hinaus seit Dezember 2008 diverse neue Unterstützungspakete angekündigt (Xinhua, 1.Februar 2009).

18 Der Kommentar wurde am 19. Februar 2009 auf der China-Seite des Mingpao Daily veröffentlicht.
19 Diskussionen chinesischer Blogger, http://lixueqiang.blshe.com/post/5108/338866 (chinesisch)