Chinas Weg: 30 Jahre und 60 Jahre

Von Gan Yang (Hong Kong University, Asia Research Centre) - ein Text, der im Rahmen des Forums Arbeitswelten übersetzt wurde...



In zwei Jahren, wird es 60 Jahre her sein, dass die Volksrepublik China gegründet
wurde, dieses Neue China gibt es also schon mehr als ein halbes Jahrhundert. Ich bin
der Ansicht, dass es gegenwärtig unbedingt notwendig ist, den gesamten historischen
Prozess, die gesamten 60 Jahre zu betrachten, um die Reformen nach 1979 zu
verstehen, und die Analyse nicht nur auf die Periode der 30 Jahre „nach ´79“ zu
beschränken. Wenn man die Analyse der Reformen nur auf die drei Jahrzehnte „nach
´79“ beschränkt, durchtrennt man die historische Kontinuität der ersten 30 Jahre des
Neuen Chinas (1949-1979) und der darauf folgenden dreißig Jahre (1979 bis heute).
Oft wird ein zu starker Fokus auf die letzte der beiden Perioden gelegt. Wenn viele
Leute nur den großen Erfolg der wirtschaftlichen Reformen seit ´79 betonen, so wird
der Bedeutung der ersten drei Jahrzehnte des Neuen Chinas nicht ausreichend
Beachtung geschenkt. Dabei lässt sich der Erfolg der Reformen seit ´79 nur auf allen
Ebenen nachvollziehen, wenn man die ersten dreißig Jahre berücksichtigt hat. Neu
bei der Kritik der letzten Jahre an den diversen Probleme infolge der Reformen ist,
dass eine große Anzahl von Diskutanten oft von der Ära Mao Zedongs ausgehend die
Reformen der Deng Xiaoping Ära, also von den ersten dreißig Jahren des Neuen
Chinas ausgehend die nachfolgenden 30 Jahre als negativ bewertet. Man kann sagen,
dass es in den letzen Jahren in der chinesischen Gesellschaft intern diverse Formen
von kontroversen Debatten über die Reformen gegeben hat und gibt. Fragen
hinsichtlich der Verbindungen der ersten und zweiten Periode haben sich bereits
deutlich ausdifferentiert. Das sollte uns in der Tat daran erinnern, dass wir für
Entwicklungen der gesamten 60-jährigen Geschichte der Volksrepublik eine neue
allumfassende Perspektive und allumfassende Begründung finden müssen.


Die Herausbildung eines neuen Allgemeinverständnisses der Reformen


Ich persönlich bin der Ansicht, unabhängig von welchem Blickwinkel aus man den
gesamten historischen Prozess der beiden Perioden her betrachtet, dass der Blick
immer tendenziös ist und es sehr schwierig ist, tatsächlich ein allumfassendes
Verständnis des gesamten historischen Prozesses der 60 Jahre der Volksrepublik zu
bekommen.
Zunächst bestehen die Probleme einer sich zunehmend öffnenden Schere zwischen
Arm und Reich und der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit, aber ich bin trotzdem der
Ansicht, dass man betonen muss, dass die enormen Errungenschaften der Reformen
historisch einmalig sind. Vor kurzem sagte der Direktor der Weltbank
(ehemaliger stellvertretender Verteidigungsminister), dass von den Erfolgen bei der
Armutsbekämpfung der letzten Jahre, 67% auf China rückzuführen seien, da
einhergehend mit dem wirtschaftlichen Wachstum Chinas vier Milliarden Menschen
aus der Armut gehoben werden konnten. Eine derartige Errungenschaft existiert
tatsächlich, das kann man nicht bestreiten. Davon abgesehen, möchte ich betonen,
dass es hinsichtlich der gegenwärtigen Lebensbedingungen der Bauern und Arbeiter
immer noch viele Probleme gibt, aber zu sagen sie würden in Not und Elend leben
wie zuvor – das stimmt mit den Tatsachen nicht überein. Zusammenfassend kann man
sagen, dass sich mit den Reformen die Lebensqualität der Mehrheit der Bevölkerung
deutlich erhöht hat, China hat das historisch gesehen lange Zeit nicht zu lösende
Problem des „Hungerleidens“ grundsätzlich gelöst, das ist eine grundlegende
Tatsache. Zweifelsohne haben die Reformen nach den 1990er Jahren zu einer täglich
weiter auseinander klaffenden Schere geführt und die damit verbundene soziale
Ungerechtigkeit stellt gegenwärtig in China das größte Problem dar.
Aber auch in diesem Kontext möchte ich darauf hinweisen, dass in den kontroversen
Debatten der letzten Jahre, man nicht einfach von einem „Bruch hinsichtlich des
gesellschaftlichen Konsens über Reformen“ sprechen kann, sondern was man
beobachten kann ist vielmehr die „Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen
Konsens über die Reformen“. Einhergehend mit diesem neuen Verständnis wird
eingefordert, „mehr Augenmerk auf gesellschaftliche Gerechtigkeit zu legen“ und
nicht mehr primär nur „ den Profit an erster Stelle“ zu sehen. Es müsse um
„Wohlstand für die Allgemeinheit“ gehen, und nicht um das Ziel, dass „einige
Wenige zuerst reich werden“. Die Reformen müssten deutlich und konkret „für die
Menschen“ Fortschritte bringen und nicht nur blind ein Wachstum des GDP
anstreben. Dieser Aspekt der Debatte ist gegenwärtig in China bereits in den
öffentlichen Mainstreamdiskursen und auch in der Ausrichtung der Reformpolitik der
chinesischen Regierung und der Regierungspartei angekommen und spiegelt sich
auch in dem unter der Regierung Hu Jintaos und Wen Jiabaos ausgerufenen Konzept
„des Aufbaus einer sozialistischen und harmonischen Gesellschaft“ wider. Ende 2005
wurde der 16. 5-Jahres-Plan zur „Ökonomischen und sozialen Entwicklung“
verabschiedet, in dem genau in diesem Geiste betont wurde, dass in den Reformen
„mehr Augenmerk auf die soziale Gerechtigkeit gelegt, und dafür gesorgt werden
muss, dass alle Bürgerinnen und Bürger an den Früchten der Entwicklungen der
Reform teilhaben können“. In der Tat, wird dieser neue gesellschaftliche Konsens
über die Reformen von bestimmten Interessensgruppen boykottiert, aber man muss
dabei sehen, dass es nur sehr selten jemanden gibt, der sich öffentlich gegen dieses
neue Verständnis stellt, mit anderen Worten, man sollte die Macht des Diskurses nicht
unterschätzen, er kann gegenwärtig zumindest bereits zur Einschränkung gewisser
Interessensgruppen eingesetzt werden.


Der neue gesellschaftliche Konsens über die Reformen und Chinas drei Arten
von Traditionen


Ich bin der Ansicht, dass die graduelle Herausbildung eines neuen gesellschaftlichen
Konsens über die Reformen ein kombinierter Effekt der gesamten 60 jährigen
Geschichte ist. Beispielsweise hat der neue Konsens die Spannung der Geschichte der
ersten drei Jahrzehnte der Volksrepublik und die Zugkraft und Ausrichtung der
zweiten drei Jahrzehnte. Wenn man sagt, dass der „alte Konsens“ die Tendenzen der
ersten drei Jahrzehnte negiert, dann fordert in der Tat der „neue Konsens“ dazu auf,
die Traditionen der ersten drei Jahrzehnte wieder mit zu integrieren.
Wenn man noch einen Schritt weitergeht, könnte man sagen, dass der „neue Konsens“
das Ergebnis des Zusammenwirkens dreier Traditionen im gegenwärtigen Chinas
ist.Von den letzten Jahren ausgehend, kann man gegenwärtig in China drei Arten von
Traditionen erkennen, eine ist die Tradition die sich aus den Reformen, die vor 28
Jahren begonnen haben [´79] gebildet hat, und daher erst eine kurze Zeit besteht.
Mit der Öffnung und den Reformen einhergehend haben sich jedoch eine große
Anzahl von Sichtweisen gebildet und viele Begriffe sich tief im Bewusstsein der
Menschen festgesetzt, sie sind ein fester Teil des Alltagsgrundwortschatz der
Menschen geworden, und bilden somit eine Form der Tradition. Die Basis dieser
Tradition hat sich vom „Markt“ ausgehend ins Zentrum der Gesellschaft verbreitet,
mit eingeschlossen eine große Anzahl der uns heute sehr vertrauten Ansichten,
beispielsweise die Konzepte von „Freiheit“ und „Rechte“ etc. Eine weitere Tradition
stammt aus der Zeit des Beginns der Volksrepublik, die Tradition der Mao Zedong
Ära, deren Besonderheit die Betonung der Gleichheit ist, ist eine Tradition, die
Gleichheit und Gerechtigkeit anstrebt. Heute können wir bereits sehr deutlich sehen,
dass die Gleichheits-Tradition der Mao Ära nach der Mitte der 1990er Jahre erneut
stark aufgekommen ist und es viele neue Debatten darüber gab. Nach dem Ende der
1990er Jahre wurde sie nochmals zunehmend stärker. Wir hätten es vor zehn Jahren
nicht gewagt, es uns vorzustellen, aber heute kann es keiner mehr abstreiten, dass die
Gleichheits-Tradition ein fester und starker Bestandteil des Lebens jeden chinesischen
Bürgers ist. Die letzte der drei Traditionen ist natürlich die vor mehreren tausend
Jahren entstandene zivilisatorische Tradition, die chinesische Kultur und
konfuzianische Tradition, die vereinfacht zusammengefasst den Fokus auf
zwischenmenschliche Beziehungen, die Beziehung zur Heimat und Familie bedeutet,
und Teil des Alltagsleben eines jeden chinesischen Bürgers ist. Das lässt sich
beispielsweise sehr deutlich in den TV-Serien und den darin enthaltenen Diskursen
über Familie, Ehe, Heirat und Scheidung sehen. Die hier dargestellten drei
Traditionen, sind Besonderheiten der chinesischen Gesellschaft, insbesondere
einzigartig für die Lage der Nation Festland Chinas.
Wenn man in Bezug auf die oben erwähnten drei Traditionen die Betrachtung von der
Gesellschaft Hongkongs ausgehend macht, so gibt es in Hongkong die erste Tradition
(die des Marktes und der „Freiheit“) und die dritte (Fokus auf den
zwischenmenschlichen Beziehungen, Familie und Heimat), aber es gibt die zweite
Tradition, das Anstreben der Gleichheit nicht. Deshalb ist die Gesellschaft Hongkongs
eine Gesellschaft mit einem hohen Grad an sozialer Ungerechtigkeit. Obgleich es
natürlich viele Menschen gibt, die versuchen die Situation zum Besseren hin zu
verändern, so gibt es doch keine Debatten, die auf einer höheren Bewusstseinsebene
geführt werden, da die Ausgangsbasis fehlt. Wenn man die USA betrachtet, so haben
sie die erste und zweite Tradition, nämlich die Tradition der Freiheit, Gleichheit etc.,
die mit Nachdruck betont werden; und die Spannung zwischen diesen zwei
Traditionen bildet die Basis der Lage der Nation. Es fehlt der USA jedoch die bereits
erwähnte dritte Tradition, sie haben nicht diese Form der Vorstellungen über
zwischenmenschliche Beziehungen, Familie und Heimat und noch weniger die
dazugehörige Kulturtradition und Kulturgeist.


Chinas Weg: eine konfuzianisch-sozialistische Republik


Die Herausbildung eines „neuen Konsens über die Reformen“ kann man nicht von
den drei Traditionen, die die Basis der Lage der chinesischen Nation bilden loslösen.
Ich bin der Ansicht, dass es für die Herausbildung des „neuen Konsens“ notwendig
ist, die oben erwaehnten drei Arten der Traditionen mit zu integrieren, gleichzeitig die
Legitimitaet dieser drei Traditionen anzuerkennen und ein Muster zu bilden in dem
sich die Traditionen massvoll zueinander ergaenzen. Man koennte also sagen, dass
der „neue Konsens“ die drei bereits erwaehnten Traditionen sinnvoll zusammen
bringt. Erstens, hat das Konzept der „Harmonischen Gesellschaft“ seine Wurzeln
eindeutig in der konfuzianischen Tradition, es unterscheidet sich grundsätzlich von
dem aus dem Westen stammendem Konzept des „Klassenkampfes“, auf das sich die
Regierungspartei ursprünglich bezogen hat. Dann ist eines der Ziele der
„Harmonischen Gesellschaft“ „Wohlstand für Alle“, was eine der Kernforderungen
der Mao-Ära ist. Drittens, kann der „Wohlstand für Alle“ nicht durch den Ausschluss
eines Marktmechanismus erreicht werden, und es sind weitere Verbesserungen fuer
die Reformen hinsichtlich der Marktmechanismen notwendig, damit sie implementiert
werden können Es besteht kein Zweifel, dass es im Prozess des Zusammenspiels der
drei Traditionen grosse Spannungen, Widersprüche und sogar Konflikte geben wird,
aber Widersprüche und Konflikte sind keine schlechte Sache, es ist nur schlecht,
wenn eine Tradition die anderen zwei erdrückt oder ausschliesst. Wir sollten uns
gerade gegen Denkarten stellen, in denen immer nur das eine oder das andere
gelten kann, gegen politische Strukturen des „Nullsummenspiels“1 . Man kann nur
bekräftigen, dass auch wenn es viele Spannungen gibt, „der neue Konsens“ alle drei
Traditionen mit einbeziehen muss, es ist nicht möglich eine davon zu vernachlässigen.
Einige Leute kritisieren diesen Ansatz und werfen ihm vor, er würde sich nicht
ausreichend am „Klassenkampf“ orientieren, wir antworten dann, dass die Leute die
damals2 von Mao Zedong ausgegebene Konzepte der „Widersprüche im Volk“ und
der „Widersprüche zwischen uns und dem Feind“ überdenken sollten. Von den
diversen Spannungen und Konflikten, die gegenwärtig innerhalb des
Transformationsprozesses in China entstehen, gehört die Mehrheit davon zu den
„Widersprüchen im Volk“ und kann eben nicht unter dem Motto „Nur wenn Du
stirbst, kann ich überleben“und somit unter dem Konzept „Widersprüche zwischen
uns und dem Feind“ subsumiert werden. Wir müssen uns dagegen stellen, dass
jemand für sich „Politische Korrektness“ pachten kann, und somit die Widersprüche
im Volk vorsätzlich noch verstärkt. Stattdessen sollten wir von der von vielen Leuten
zitierten westlichen Kulturwissenschaft, beispielsweise von den theoretischen
Strukturkategorien „Geschlecht, Ethnie, Klasse“ und anderen Theorien ausgehend die
Tendenzen der Probleme diskutieren. Ferner sollten wir darauf hinweisen, dass die
Konflikte zwischen Männern und Frauen, Homosexuellen und Heterosexuellen auch
Bestandteil der Widersprüche im Volk sind, eine grosse Anzahl ethnischer Konflikte
koennte man ebenfalls ueber das Konzept der „Widersprüche im Volk“ friedlich
lösen. Ein Problem von einem „Widerspruch im Volk“ zu „Widersprüchen zwischen
uns und dem Feind“, und „Nur wenn Du stirbst, kann ich leben“ Konzept
aufzublähen, ist die falsche Vorgehensweise und kann auf der politischen Ebene zu
einer Katastrophe führen. Was die derzeitig populären westlichen Theorien betrifft,
unabhaengig davon, ob sie vom rechten oder linken Flügel kommt, so sollten wir sie
kritisch untersuchen, und nicht einfach unhinterfragt anwenden. Um es mit dem
Motto „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ zu sagen, denke ich nicht, dass alle
Arten von westlichen Gegenwartstheorien einen grossen Wert fuer uns haben. Wir
Chinesen müssen unseren eigenen Kopf nutzen um unsere Probleme zu überdenken,
und mit unseren eigenen Füßen unseren Weg gehen.
Wenn man eine langfristige Perspektive einnimmt, so könnte mit dem sich in China
gerade herausbildenden Konsens, soweit eine „gesunde Entwicklung“ stattfindet, sich
nach und nach ein für China rechtmäßiger Weg herausbilden, mit den Zielen, die von
Chinas Reformen zuletzt angestrebt werden. Es dabei nicht darum, eine kapitalistische
Gesellschaft wie beispielsweise die US-amerikanische aufzubauen, sondern eine
„konfuzianisch-sozialistische Republik“. Ich habe vor nicht langer Zeit aufgezeigt,
dass die „Volksrepublik China“ in der Tat eine „konfuzianisch-sozialistische
Republik“ beinhaltet. Wenn man sich zunächst anschaut, was „China bzw.
Chinesisch“ in seiner Essenz bedeutet, so ist das „chinesische Zivilisation“, deren
wichtigster Bestandteil Konfuzianismus ist, der sich wiederum aus Daoismus,
Buddhismus und weiteren Kulturelementen zusammensetzt. Der Begriff
„Volksrepublik“ bedeutet, dass es sich nicht um eine kapitalistische Staatsform
handelt, sondern um eine Republik der Arbeiter, Bauern und weiteren Werktätigen,
also eine Republik des gesamten Volkes, eine sozialistische Republik. Der Kern der
„Volksrepublik China“ ist also eine „konfuzianisch-sozialistische Republik“. Die tief
reichendste Bedeutung von Chinas Reformen besteht also darin, den Inhalt der
„konfuzianisch-sozialistischen Republik“ zu vertiefen, das ist im 21.Jahrhundert
Chinas größtes Kernproblem. (Siehe in diesem Band auch „Chinas Softpower“). ...
Das Geheimnis für den Erfolg der Reformen Deng Xiaopings befindet sich
ausgerechnet in der Mao Zedong Ära, mit den Worten Schumpeters: das Zeitalter
Mao Zedongs war in der Tat ein Prozess der „kreativen Zerstörung“.
Der „Grosse Sprung vorwärts“ und die Kulturrevolution unter Mao Zedong haben zu
jener Zeit in China einen großen Schaden angerichtet, aber die damit verbundene
Zerstörung war eine „kreative Zerstörung“, da sie die politische Ausrichtung auf das
sowjetische Modell einer Planwirtschaft zerstörte und zur Errichtung eines
chinesischen Wirtschaftssystem führte, das bereits vor Deng Xiaopings Reformen
nicht mehr auf das sowjetische Model ausgerichtet war, und als Fundament für die
Wirtschaftsreformen unter Deng angesehen werden kann.


Mao Zedongs „kreative Zerstörung“ legte das Fundament für Deng Xiaopings
Reformen


Die Geschichte der von Mao Zedong initiierten Zerstörung ist allgemein bekannt: im
Jahr 1958 ordnete Mao Zedong für die Ausführung des „Großen Sprungs nach Vorne“
an, dass 88% der Verwaltung der Fabriken von der Zentralebene zur lokalen Ebene
transferiert wurde. Die Verwaltung der Finanzen, der Unternehmen wurde nicht nur
auf die Provinz- und regionale Ebene abgegeben, sondern sogar jeder Landkreis
baute selber Industrie auf, das war Mao Zedongs „Klein, aber kompakt“-Ansatz, mit
dem jeder Kreis dazu aufgefordert war, seine eigene Industrie zu entwickeln. 1961
stellte Liu Shaoqi alle Fabriken unter die Zentralverwaltung, aber 1964 brachte Mao
Zedong wiederholt den Vorschlag, die gesamte Wirtschaft zu dezentralisieren. Mit
dem Motto „Die Monarchie zu behalten, aber deren Macht durch ein konstitutionelles
System begrenzen“ richtete er sich gegen die Zentralverwaltung. Die Schimpfworte
Mao Zedongs aus jener Zeit sind sehr berühmt, mit der er das Streben nach einer
zentralen Planwirtschaft kritisierte. Zuerst wurden die lokalen Unternehmen in
Beijing, sprich von der Zentralregierung akzeptiert, so Mao, und kurz danach
mussten sie Beijing schon wieder verlassen. Bis 1968 gab es überhaupt keinen Plan,
der Staat hatte keinen nationalen Wirtschaftsplan, das kann man sich heute nur sehr
schwer vorstellen. Vom „Großen Sprung vorwärts“ bis zur Kulturrevolution, zerstörte
Mao Zedong den Versuch eine zentrale Planwirtschaft zu errichten von Grund auf.
Die eben erzählte Geschichte ist allgemein bekannt, aber in der Regel wird sie nur als
Beispiel dafuer angefuehrt, das Zerstörung zu Maos zweiter Natur gehörte, und nur
wenige sehen, dass er mit der Zerstörung der zentralen Planwirtschaft bereits die
Basis fuer Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen schuf. An dieser Stelle moechte ich
die Thesen von Susan Shirk, einer US-amerikanischen Wissenschaftlerin anfuehren.
Sie gehoert weder zur Linken noch zur Neuen Mitte und war stellvertretende
Aussenministerin unter Clinton und Direktorin der Asienabteilung des USAussenministeriums.
Waehrend dieser Zeit publizierte sie ein Buch mit dem Titel
„Die politische Logik der Wirtschaftsreformen in China“ (1993). Das Buch zeigt ihre
Analysen im Kontext ihrer alljaehrlichen Chinabesuche und damit verbundenen
Forschung von 1980 bis 1990. Ihr Buch ist sehr interessant, da sie tatsaechlich der
Ansicht ist, dass die „politische Logik“ von Chinas wirtschaftlichen Reformen
grundsaetzlich nicht mit westlicher Logik uebereinstimmt, sondern Gorbatschows
Reformen der Sowjetunion eher einer westlichen Logik folgen. Die Frage ist jedoch,
warum die Reformen nach westlicher Logik keinen Erfolg zu verbuchen haben und
Chinas Reformen einen hohen Grad an Erfolg vorzeigen koennen? Das ist die Frage,
die sie in dem Buch aufwirft. Aus der Perspektive der politischen Soziologie, hatte
sich Gorbatschow zum Ziel gesetzt, dass die Reformen, wie auch in China, die
Lebensqualitaet der Menschen erhoehen und zu einem allgemeinen Wohlstand
fuehren sollten, natuerlich wollte er nicht, dass die Sowjetunion auseinanderbricht.
Sein Ziele waren identisch mit denen von Deng Xiaoping, Deng jedoch hatte Erfolg
und Gorbatschow scheiterte. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen? Wenn
man Chinas Level von Bildung, Verwaltung, dem Grad der Modernisierung und
Industrialisierung mit der Sowjetunion vergleicht, wie kommt es dann, dass China
Erfolg hatte? Shirk war einer der ersten westlichen Wissenschaftler, die zu der
Schlussfolgerung kamen, dass in China erfolgreiche Reformen eigentlich nicht
moeglich seien. Im Vergleich zu anderen westlichen Wissenschaftlerinnen hat sie
jedoch sehr frueh ueber die Möglichkeit von Reformen, und deren möglichen
erfolgreichen Ausgang geschrieben. Ferner kommt sie zu dem Schluss, dass die Basis
der Sowjetunion und Chinas unterschiedlich sind, und Chinas Wirtschaftsreformen
auf den Wegen, die durch Mao Zedongs Politik der Dezentralisierung bereits geebnet
wurden durchgefuehrt wurden, diese Basis gab es in der Sowjetunion nicht. Ein
grundsaetzlicher Punkt ist, dass durch „Den grossen Sprung vorwaerts“ und die
Kulturrevolution, keine zentrale Planwirtschaft vollstaendig aufgebaut wurde: Mao
Zedong zerstörte kontinuierlich alle Versuche eine zentrale Planwirtschaft in China
durchzusetzen und so gab es nie ein Wirtschaftssystem im Sinne der zentralen
Planwirtschaft der Sowjetunion. Shirk vertritt tatsaechlich die Ansicht, dass wenn es
Mao Zedong nicht gegeben haette, sich die Wirtschaftsreformen in China auch in
einem so desolaten Zustand wie in der Sowjetunion und in Osteuropa befinden
wuerden, d.h. waere konsequent die zentrale Planwirtschaft in China eingefuehrt
worden, so gaebe es keinen Grund davon auszugehen, dass Chinas Situation sich von
der der Sowjetunion und Osteuropas unterscheiden wuerde, man kann es sich nicht
wirklich vorstellen....


Ländliche Unternehmen:Von Fei Xiaotong bis Mao Zedong


Die Wirtschaftsreformen in China die der Übernahme der politischen Führung von
Deng Xiaoping folgten, wurden während der 1980er Jahre oft als „Macht abtreten und
Profit abgeben“ bezeichnet, da Macht und Gewinne an Unternehmen und die lokale
Bevölkerung3 abgetreten wurden. Auch wenn wir uns alle noch erinnern, dass im
damaligen China alle wiederholt betont haben, dass beim „Macht abtreten und Profit
abgeben“ die Unternehmen das Subjekt seien. Mit anderen Worten, hatten viele die
gleiche Vorstellung wie in der Sowjetunion und Osteuropa, dass alle Aufmerksamkeit
und Energie auf die Umstrukturierung der staatseigenen Unternehmen gelegt werden
solle, und vom wirtschaftswissenschaftlichen Standpunkt her es nicht der richtige
Weg sei, primär auf der lokalen Ebene die Reformen voranzutreiben. In der Praxis
lässt es sich jedoch nachweisen. Chinas Wirtschaftsreformen waren erfolgreich, und
das lag nicht daran, dass Chinas staatseigene Unternehmen besser umstrukturiert
wurden als in der Sowjetunion und Osteuropa, sondern daran, dass Chinas neue
Wirtschaft auf der lokalen Ebene aktiviert wurde. Was man damals vielleicht nicht
gesehen hat, war die ausschlaggebende Rolle, die die ländlichen Unternehmen bei der
Aktivierung gespielt haben. Wir wissen alle, dass Deng Xiaoping selbst gesagt hat,
dass sich damals die Entwicklung und wichtige Funktion der ländlichen Unternehmen
keiner hätte vorstellen können, die Zentralregierung auch nicht. Es waren jedoch die
Kreise und Gemeinden und die Bauern selber, die die Wirtschaftsentwicklung in
Gang gebracht haben. Viele der ländlichen Unternehmen haben ihren Ursprung in
dem von Mao Zedong initiierten „Großen Sprung vorwaerts“. Auch wenn die
Kampagne grundsätzlich schief gegangen ist, so hatten viele der damals gegründeten
„Social Enterprises“ über die Kampagne hinaus Bestand und waren die Vorläufer für
die ländlichen Unternehmen. Wir kennen alle die von Fei Xiaotong4 geschriebene
Studie „Die Ökonomie des Dorfes Jiang“, er hat als erster das Potential der
Entwicklung einer ländlichen Industrie vorausgesehen. Fei hat jedoch damals schon
aufgezeigt, dass ein derartiger Entwicklungsweg unter den Bedingungen vor der
„Befreiung“5 nicht möglich gewesen wäre. Die Entwicklung einer ländlichen
Industrie bedarf diverser Vorraussetzungen, beispielsweise benötigt man Strom und
Strassen, diese Infrastruktur existierte damals in der Mehrheit der chinesischen Dörfer
noch nicht. Damals gab es weder Strom noch fließendes Wasser und auch keine
Verbindungsstrassen mit den großen Städten, wie hätte unter diesen Bedingungen
eine Entwicklung von ländlicher Industrie stattfinden können? Fei Xiaotongs Traum
hatte seit den 1980er Jahren die Möglichkeit verwirklicht zu werden. Die
Ausgangsbasis war geschaffen, nachdem Mao Zedong mit dem „Grossen Sprung
vorwaerts“ mit allen Mitteln versucht hatte, die Industrialisierung in die Dörfer zu
bringen. Mit seiner Politik versuchte er kontinuierlich die wirtschaftliche Entwicklung
bis in die unteren Gesellschaftsschichten bringen, die ländliche Bevölkerung sollte bei
Chinas Industrialisierung nicht außen vor gelassen werden. In der Mao-Ära kamen
Verkehr, Wasser, Strom sowie zumindest Grundschulausbildung und Barfuß-Ärzte in
die Dörfer und bildeten somit die Basis-Infrastruktur, auf die die ländlichen
Unternehmen ab dem Ende der 1970er Jahre in größerem Maße aufbauen konnten. In
den 1980er Jahren war die Arbeitsweise der ländlichen Unternehmen kaum anders als
während des „Großen Sprungs vorwaerts“, der so genannte „In jedem Dorf raucht es
prächtig“- Ansatz galt als „Tradition“ des „Großen Sprungs“. Es gehen schon einen
große Anzahl von Problemen mit dieser Art der Entwicklung einher, beispielsweise
Überproduktion und Umweltverschmutzung usw., sowie die Probleme bei den
Finanzen, wenn zu viel Macht an die lokale Ebene gegeben wird, das alles ist Realität.
Ich möchte aber betonen, dass wir nicht die im Nachhinein aufgetretenen Probleme
nutzen sollten, um die große Rolle zu negieren, die die ländlichen Unternehmen bei
der Aktivierung der Wirtschaftsreformen in China gespielt haben. Viele Leute denken
oft, dass möglich ist einen immerwährenden rationalen Weg für Chinas
Weiterentwicklung zu finden, einen Weg der standardisierten Modernisierung, aber
das Land lässt sich nicht so einfach in ein Schemata zwingen. Die Vorgehensweise,
die in den vorherigen 5 Jahren noch richtig für die Reformen in China erschien, kann
für die darauf folgenden 5 Jahre schon nicht mehr geeignet sein, sie muss
unaufhörlich angepasst und neue Versionen erschaffen werden…


Schlussfolgerung


Vor zehn Jahren habe ich in meinem Essay „Liberalismus: für die Herrschenden oder
gleichberechtigte Bürger?“ (1997) ich noch mit relativ starkem Nachdruck behauptet
„Die chinesischen Intellektuellen legen beim Diskutieren der Theorie des
Liberalismus den Schwerpunkt auf die Freiheit der Chefs, der intellektuellen Elite, der
Reichen und Herrschenden, die Freiheit der Erfolgreichen, und gleichzeitig wird nicht
diskutiert, dass der Ausgangspunkt der liberalen Theorie der Rechte, die Rechte aller
Personen eines Staates sind. Und sie vernachlässigen darüber hinaus insbesondere,
dass die Rechte der Personen berücksichtigt werden müssen, die nicht in der Lage
sind, ihre Rechte selber zu schützen: die Rechte der Schwachen, Armen, Tagelöhner,
Unwissenden.“ Zu jener Zeit habe ich ihre Diskussionsweise in Frage gestellt und
gefragt „Stellen die Intellektuellenkreise Chinas ihr Recht auf Wissen eigentlich nur
in den Dienst einer Minderheit fuer Priviligiertenrechte oder geht es darum die
„Rechte“ aller Bürger auszuweiten?“. Ich war der Ansicht, dass die Intellektuellen in
der Tat „Halb zu Beamten, halb zu die Hilfschergen, die an der Seite der
Herrschenden reiten“ geworden waren. Ich erinnere mich noch, dass es damals vor
zehn Jahren grossen Protest aus Intellektuellenkreisen nach der Veröffentlichung
meines Artikels gab, mit eingeschlossen von vielen alten Freunden, die meine These
unhaltbar fanden, und meinten ich sei voreingenommen und würde überhaupt nicht
mit der Realität der Reformen Chinas und der Realität der Intellektuellenkreise
übereinstimmen. Heute kann man tagtäglich Kommentare von berühmten
Intellektuellen aus der chinesischen Gesellschaft im Internet und in anderen Medien
lesen, die meinen Essay in sprachlicher und inhaltlicher Schärfe noch um Längen
übertreffen. Gleichzeitig, etwa seit 2002, schreiben fast alle Intellektuellen der
„Rechten“ und „Linken“ nur mit geringen Unterschieden inhaltlichen Unterschieden,
dass sich bereits eine so genannte „Herschaft ausuebende Allianz der Elite“, aus
einem Zusammenschluss der „politischen Elite“, „Wirtschaftselite“ und
„Wissenselite“ zur Durchsetzung gemeinsamer Interessen und Netzwerkbildung
zusammengefunden hat. Gemeinsam drängen sie die unteren Gesellschaftsschichten
and den Rand der Gesellschaft, um es mit Wen Tiejuns6 Worten zu sagen, handelt es
sich um eine Verbindung der vier grossen gesellschaftlichen Interessensgruppen
„Beamtenschaft, Wirtschaftslobby, Wissenselite und Medien“. Sie verdrängen die
Arbeiter, Bauern und andere schwächere Gesellschaftsgruppen. Unabhängig davon,
ob es Intellektuelle der Linken oder Rechten sind, alle betonen, dass der Konflikt
zwischen der Elite und den Massen im gegenwärtigen China der prominenteste ist.
Aber von der hier angeführten Diskussion kann man erkennen, dass der heute so
genannte Konflikt zwischen „Elite und Massen“, in der Tat das Grundsatzproblem ist,
mit dem die Gesellschaft bereits seit den 1950er Jahren der Ära Maos konfrontiert ist.
Wenn man die 60 Jahre der Volksrepublik betrachtet, so besteht Kontinuitaet
hinsichtlich diesen Problems.
Ich persönlich stimme jedoch mit der gegenwaertig vorherrschenden Meinung nicht
wirklich ueberein. Ich bin der Ansicht, wenn man von der Situation der letzten Jahre
ausgeht, so koennte man den voreiligen Schluss ziehen, dass sich bereits eine extrem
starke „Allianz der Elite“ etabliert hat, die gemeinsam und bewusst die breite Masse
der unteren Gesellschaftsschichten vom Erfolg der Reformen ausschliesst. In der
Realität ist die Tendenz jedoch gegenlaeufig, zweifelsohne haben sich
Wissenschaftler, Beamte und Medienleute verändert.Wenn man von den
Intellektuellenkreisen spricht, so ist es nur noch die Minderheit, die sich fuer die
Beamten einsetzt, sie besteht aus vergleichsweise einflussreichen und maechtigen
Wissenschaftlern. Die Mehrheit der Wissenschaftler legt ihre Aufmerksamkeit auf
und ihr Mitgefuehl fuer die breiten Massen und unteren Gesellschaftsschichten. Auch
die Medien haben sich in den letzten Jahren stark veraendert. Sie spielen eine
wichtige Rolle dabei, die Aufmerksamkeit auf die Situation einer breiteren
Bevoelkerungsschicht zu richten. Was Beamte, insbesondere Parteikader auf der
Basisebene betrifft, so will ich sie nicht daemonisieren, das waere ihnen gegenueber
nicht fair, in der Tat sind viele Parteikader auf Basisebene den breiten Massen der
unteren Gesellschaftsschichten am Nahesten. Meine grundsätzliche Einschätzung ist,
dass die von mir beschriebene Herausbildung eines neuen Konsens über die
Reformen, eine breitere gesellschaftliche Basis hat, und sich nicht nur bei Arbeitern,
Bauern und anderen Mitgliedern der unteren Gesellschaftsschichten wiederfindet,
sondern ebenso bei Wissenschaftlern, Beamten und Medienleuten. Dieser „neue
Konsens“ nimmt konkreten Einfluss auf die Ausrichtung der Reformen und diverse
Arten von politischen Richtlinien.

15.03.2007

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1 Bezugnahme auf die so genannte „Spieltheorie“.
2 1957

3 Im Original ist es nur der Begriff „Ort“ (di fang), an dieser Stelle meint „Ort“ lokal im Gegensatz zur Zentralregierung.

4 Chinas erster international bekannter Soziologe, der mit modernen theoretischen und innovativen
Studien zu ländlichen Gemeinden eine Basis für die moderne Soziologie schuf.
5 Gemeint ist hier vor der Befreiung Chinas durch die Volksarmee und vor der Gründung der VR 1949.

6 Prof. d. Wirtschaftswissenschaften, Dean of School of Agriculture & Rural Development, Renmin University of China.