Zur Debatte um die Charta 08 in China

Eine Sammlung von drei Artikeln, die recht unterschiedliche Standpunkte zur Charta widerspiegeln (auf deren deutsche Übersetzung verlinkt ist) - sie wurden als zweites Update des Forum Arbeitswelten im Mai 2009 veröffentlicht.

Am 8. Dezember 2008 erschien eine von 308 chinesischen Dissidenten unterzeichnete Charta 08 mit der Forderung nach politischen Reformen und Demokratie im Internet, angelehnt an die Charta 77, die 1977 in der Tschechoslowakei von Dissidenten um Vaclav Havel veröffentlicht worden war. Stunden vor der Veröffentlichung wurde einer ihrer Hauptinitiatoren verhaftet, der Vorsitzende des chinesischen Pen-Clubs Liu Xiaobo.

Inzwischen haben laut Presseberichten über 5.000 Menschen in China die Charta 08 mit vollem Namen und Adresse unterschrieben. Wir machen eine von Prof. Dr. Jörg-M. Rudolph (Ostasieninstitut der Fachhochschule Ludwigshafen) besorgte Übersetzung der Charta externer Link pdf-Datei  zugänglich.

Unter chinesischen Intellektuellen hat sich eine Debatte über die Charta und die Begleitumstände entwickelt, aus der wir drei kritische Beiträge aus dem Englischen bzw. Chinesischen auf Deutsch übersetzt veröffentlichen: Au Loong Yu arbeitet für die Organisation Globalization Monitor in Hong Kong, Qin Hui ist Professor für Geschichte am Institut für Geistes- und Sozialwissenschaften der Tsinghua-Universität in Beijing und gilt als angesehener, linksliberaler Intellektueller. Den Beitrag von Zheng Zhaxi, eines in den USA lebenden links-nationalistischen chinesischen Dissidenten, haben wir der als maoistisch charakterisierten website Utopia externer Link entnommen. Die beiden ersten Autoren kritisieren ausdrücklich auch die Repression gegen die Verfasser der Charta 08, auch wenn sie sie nicht unterzeichnen würden.

Wir hoffen, dass die Beiträge zur Diskussion und zu Fragen anregen, die wir auch an unsere chinesischen Partner weitergeben können ....

Text 1:

Für demokratische Rechte, gegen Privatisierung

In dem Beitrag "Charta 08 – Menschenrechtscharta unter Ausschluss der arbeitenden
Bevölkerung" versucht Au Loong Yu vom Globalization Monitor in Hongkong eine
differenzierte Betrachtung - unter Betonung der Haltung, dass niemand wegen seiner
Meinung wie ein Krimineller behandelt werden darf: Die Forderung nach demokratischen
Rechten wird unterstützt, auch weil dies der einzige Weg ist, wie die Werktätigen ihre
Interessen durchsetzen können; die von der Charta erhobene forderung nach Schutz und
Entwicklung des Privateigentums aber mache sie zu einem Instrument der Privatisierung.
Die Gewinner dabei aber brauchen die Charta nicht, das ist das Dilemma der Autoren.

 

Charta 08 – Menschenrechtscharta unter Ausschluss der arbeitenden Bevölkerung


Von Au Loong Yu


Letzten November haben Dutzende bekannte chinesische Intellektuelle die „Charta 08“ auf
den Weg gebracht, mit der sie die chinesische Regierung dazu aufrufen, grundlegende
bürgerliche und demokratische Rechte zu respektieren. Kurz darauf wurde die zentrale
Leitfigur des Aufrufs, Liu Xiaobo, verhaftet. Er befindet sich bis heute in Gewahrsam.
Jeder, der die Bürgerrechte verteidigen will, sollte gegen diese Verhaftung protestieren,
denn niemand sollte allein aufgrund dessen, was er gesagt oder geschrieben hat, wie ein
Krimineller behandelt werden. Wir stehen Teilen der Charta kritisch gegenüber, aber wir
verurteilen Lius Verhaftung durch die Behörden sowie die Unterdrückung des Dokuments.
Es ist traurig mit anzusehen, dass chinesische Autoren im Umfeld der „Utopia“-Webseite
der „Neuen Linken“ die Position der Charta zwar kritisiert, zu der Verhaftung aber
geschwiegen oder ihr sogar heimlich Beifall gezollt haben. Besonders besorgniserregend
ist das angesichts der Tatsache, dass einzelne Neue Linke und ihre Publikationen in den
letzten Jahren mit derselben Art von Repression konfrontiert waren.
Wir unterstützen diejenigen Teile der Charta 08, die grundlegende Bürgerrechte und
demokratische Rechte geltend machen – vor allem deshalb, weil die schuftenden Massen
ohne solche Rechte über keinerlei Mittel verfügen, ihre unmittelbaren oder historischen
Interessen zu verteidigen. Autoren der „Utopia“-Webseite sehen den Einparteienstaat nach
wie vor als Lösung für die sozialen Probleme, die durch die Marktreform geschaffen
wurden. Daher neigen sie dazu, die Bedeutung des Kampfes für Bürgerrechte und
demokratische Rechte herunterzuspielen. Im schlimmsten Fall unterstützen sie den
Einparteienstaat implizit, wenn nicht gar explizit, im Namen der Wahrung sozialer
Stabilität. Solch staatstreue Kritik an der Charta teilen wir nicht.


Was in der Charta fehlt


Dennoch möchten wir auf ein offensichtliches Versäumnis der Charta hinweisen: Sie
macht sich nicht die Mühe, grundlegende Beschäftigtenrechte wie das Recht auf
unabhängige Gewerkschaften und Kollektivverhandlungen anzumahnen und streift auch
das Streikrecht nur kurz als eines in einer langen Liste von Grundrechten. Das ist kein
Zufall. Es steht vielmehr im Einklang mit der allgemeinen Position chinesischer Liberaler,
die dem Los armer arbeitender Menschen wenig Aufmerksamkeit zollen. Es passt auch zu
ihrer offenen Feindseligkeit gegen Massenbewegungen im Allgemeinen und die
Arbeiterbewegung im Besonderen. Solche Bewegungen werden von den Liberalen als
Elemente betrachtet, die zu sinnlosem Morden oder ‚Klassenkampf‘ führen könnten.
Was ebenso fehlt, ist eine Kritik an der furchtbaren Polarisierung des Reichtums im Verlauf
der kapitalistischen Marktreform. In den ländlichen Gegenden haben KP-Funktionäre das
landwirtschaftliche Mehrprodukt durch direkte Steuern oder Marktregularien sich in einem
Ausmaß angeeignet, dass Bauern in den Bankrott getrieben wurden und ihnen keine
andere Wahl blieb, als in die Städte zu migrieren und dort Arbeit zu suchen. Diese Bauern
werden von der Bourgeoisie ein zweites Mal enteignet – unter dem gefängnisähnlichen
Regime der Fabriken. Es ist überaus klar, dass sowohl die herrschende Partei als auch die
Klasse der Privatunternehmer davon profitieren, dass der arbeitenden Bevölkerung und
den Bauern Grundrechte verweigert werden. Um dem abzuhelfen, muss man den sozialen
Reichtum neu verteilen und die Grundrechte der arbeitenden Bevölkerung wieder
herstellen. Das Schweigen der Charta zu den unglaublichen Ungerechtigkeiten in den
Sweatshops und zur Bereicherung der neuen Bourgeoisie entlarvt ihren
Klassenhintergrund, auch wenn sie versucht, für alle BürgerInnen zu sprechen, inklusive
der schuftenden Massen.
Punkt 14 der Charta ruft explizit nach Schutz des Privateigentums: „Wir sollten das Recht
auf Privateigentum etablieren und schützen und für ein ökonomisches System freier und
fairer Märkte eintreten. Wir sollten Regierungsmonopole in Handel und Industrie
abschaffen und die Freiheit der Unternehmensgründung garantieren. Ein einzurichtendes
Komitee, das der nationalen Legislative berichtet, sollte kontrollieren, dass die
Überführung staatlicher Unternehmen in private Besitzverhältnisse in einer fairen,
wettbewerbsorientierten und geordneten Weise vor sich geht. Wir sollten eine Landreform
vornehmen, die den Privatbesitz an Land fördert, das Recht auf Kauf und Verkauf von
Land garantiert und es erlaubt, dass sich der tatsächliche Wert des Eigentums adäquat
auf dem Markt widerspiegelt.“


Mit ihrem Plädoyer für das Privateigentum wird die Charta zu einem Instrument der
Privatisierung


Alle Vergleiche zwischen der tschechoslowakischen Charta 77 und der chinesischen
Charta 08 sind indiskutabel: Die Charta 77 machte nie solche Forderungen geltend. Mit
diesem Aufruf ist die Charta 08 ein Instrument der Privatisierung geworden, und als
solches stellt sie sich in den Dienst von Neureichen und Parteifunktionären. Anstatt der
vetternwirtschaftlichen Privatisierung der chinesischen KP will die Charta 08 eine „faire
und wettbewerbsorientierte“ Privatisierung. Es ist nicht klar, wie das aussehen soll. Die
russische Nomenklatura hat das mit ihrer „Gutschein-Privatisierung“ bereits vorgeführt.
Dabei sind die Gutscheine, die den einfachen Leuten gehörten, am Ende einfach in den
Taschen der Neureichen gelandet, ebenso wie ihre Ersparnisse und ihre
Arbeitsplatzsicherheit.
Wer einer Privatisierung zu fairen Preisen das Wort redet, wiederholt einfach neoliberale
Dogmen. Es ist wirklich ironisch, dass die Autoren der Charta 08 dieses Dokument zu
einem Zeitpunkt entwarfen, als sich das größte Marktversagen seit 1929 gerade in einem
globalen Maßstab zu entfalten begann. Seit 2008 sind die Preise auf den USamerikanischen
sowie den globalen Immobilien- und Börsenmärkten auf Talfahrt
gegangen, aber neoliberale Regierungen haben entschieden, dass diese Marktpreise
weder fair noch gerecht sind; und so verschleudern sie Milliarden von Dollars, um einen
weiteren Preisverfall zu verhindern. Es steht zu vermuten, dass unsere Freunde von der
Charta 08 dasselbe tun würden, wenn sie an der Macht wären.
Die chinesischen Liberalen sind nicht nur unfähig, etwas aus der Vergangenheit und der
Gegenwart zu lernen; sie demonstrieren auch eine massiv undemokratische Einstellung,
wenn sie nach der Freiheit zum Verkauf und Kauf von Ackerland rufen. Es kommt ihnen
nicht in den Sinn, danach zu fragen, ob das auch der Wunsch von 800 Millionen Bauern ist
(von denen 200 Mio. heute als entwurzelte MigrantInnen leben). Unterschiedliche
Untersuchungen zeigen, dass diese Idee den meisten von ihnen überhaupt nicht gefällt.
Eine NRO von WanderarbeiterInnen vom Land hat eine kleine Untersuchung durchgeführt,
laut der 64 Prozent der Befragten mit dem freien Verkauf von Land nicht einverstanden
sind. 42 Prozent der Ablehner befürchten, dass „der freie Verkauf von Land in einer
sozialen Polarisierung von Reichtum und einer Rückkehr zum alten China von vor 1949
resultieren wird“ (China Research Team: Survey on rural 2008, nicht veröffentlichtes
Dokument). Die Revolution von 1949 hatte die chinesische Gesellschaft trotz all ihrer
Versäumnisse und trotz der Tatsache, dass viele ihrer Errungenschaften inzwischen
wieder rückgängig gemacht worden sind (besonders die Arbeitsplatzsicherheit), auf eine
neue historische Ebene gehoben, indem sie die vorkapitalistischen, feudalen
Besitzverhältnisse eliminiert hatte. Dennoch sieht die Charta die Revolution von 1949 als
ausschließlich destruktiv und negativ – eine Sichtweise, die wir nicht teilen können.


Zur Sichtweise der Revolution von 1949


Denn das gültige Arrangement – also kollektiver Besitz am Ackerland mit festgelegten
Landnutzungsrechten für die einzelnen Familien – garantiert den Bauern zweierlei:
erstens, dass das Land nicht durch freie Landverkäufe in den Händen der ländlichen
Neureichen konzentriert wird, und zweitens das Recht auf das ihnen zugewiesene Stück
Ackerland und das Land für ihr Haus. Die gültigen Gesetze ermächtigen allein das
Dorfkomitee, das kollektive Ackerland zu verwalten. Indem sie durch ihr jeweiliges Komitee
von ihren Rechten gebrauch machten, haben die Bauern daher in vielen Fällen den
Verkauf von Land an Reiche oder Funktionärsgünstlinge erfolgreich verhindern können.
Wenn es den Liberalen gelingt, die KP zur Freigabe des Verkaufs von Ackerland zu
bewegen, bedeutet das in der Praxis, dass die demokratischen Rechte der Bauern
umgestoßen werden – also das Gegenteil von dem, was die Charta anzustreben vorgibt.
Wir wollen, dass für landwirtschaftliche Produkte faire Preise bezahlt werden. Niedrige
Preise haben Bauern des Mehrwerts beraubt, den sie zum Investieren gebraucht hätten.
Die Lösung für dieses Problem müssen wir allerdings jenseits des Marktes suchen. Die
Gründe für die fehlende Marktmacht der Bauern liegen nämlich in der Sphäre der
politischen Macht. In dieser Hinsicht ist die Situation der Bauern noch schlechter als die
der Arbeiter: nicht nur wirkt das Hukou-System der Haushaltsregistrierung wie eine Art
Apartheid für sie; vielmehr sind sie auch insgesamt jeglichen Zugangs zu einer offiziellen
Repräsentation im Parteistaat beraubt. Während Arbeiter, Jugendliche und Frauen jeweils
ihre eigene ‚Massenorganisation‘ haben und die Führung der offiziellen Gewerkschaft im
Politbüro vertreten ist, verfügen die Bauern seit 1949 über keine eigene
‚Massenorganisation‘ – obwohl sie es waren, die die Befreiungsarmee stellten, welche der
KP zur Machtübernahme verhalf. Damit die Bauern mehr Macht bekommen, brauchen sie
nicht nur grundlegende bürgerliche Freiheiten – sie müssen diese auch dafür nutzen
können, sich zu organisieren, um ihre Interessen zu vertreten. In anderen Worten: Wir
brauchen eine Bauernbewegung des 21. Jahrhunderts, Seite an Seite mit der
Arbeiterbewegung. Das ist jedoch genau das, was die Liberalen und Neureichen am
meisten fürchten. (Ironischerweise wird diese Angst gleichermaßen von den Neuen Linken
geteilt, die in Wirklichkeit Nationalisten sind.) Die Liberalen versuchen daher, die Debatte
auf das teilweise falsche Thema der ‚unfairen Marktpreise‘ oder auf das völlig falsche
Thema des ‚fehlenden freien Marktes für ländlichen Grundbesitz‘ zu verschieben. Dabei
gilt festzuhalten: Falsch ist das natürlich nur aus der Perspektive der Bauern; aus Sicht der
lokalen Funktionäre und Privatunternehmer ist es vollkommen richtig. Nach der
Privatisierung der Staatsbetriebe und des städtischen Grundbesitzes suchen sie nun nach
einer dritten Welle der Privatisierung: die Privatisierung des ländlichen Grundbesitzes.
Während die KP-Führungsspitze sich hier aus Furcht von Rebellion nicht herantraut,
haben die Liberalen – im Dienste der lokalen Funktionäre und der Wirtschaftseliten – die
Regierung unermüdlich dazu gedrängt.


Die Herren der Privatwirtschaft setzen auf andere Vorgehensweisen


Einige Autoren der Neuen Linken geißeln die Autoren der Charta 08 als Unterstützer des
US-Imperialismus. Das ist eine grobe Übertreibung. Obwohl einige bekannte Intellektuelle,
die mit der Charta assoziiert sind, einst die US-Invasion in den Irak unterstützt haben,
muss man fair genug sein, die Tatsache anzuerkennen, dass kein Abschnitt der Charta als
politische Unterstützung für die USA interpretiert werden kann. Dennoch kann man sagen,
dass der Charta mit ihrem Abschnitt zur Privatisierung der Geburtsmakel der
Wirtschaftselite anhängt. In diesem Sinne ähneln ihre Unterstützer eher Neoliberalen als
Liberalen. Indem sie aber ausgerechnet bei den Kapitalisten um Unterstützung heischen,
haben sie sich selbst ins Aus manövriert. Die neue chinesische Wirtschaftselite, die ihre
eigene Existenz ganz grundlegend dem Einparteienstaat und der Abwesenheit
bürgerlicher Rechte für Bauern und Arbeiter verdankt, hat ganz einfach kein Interesse
daran, den Aufruf der Charta für die Realisierung bürgerlicher und demokratischer
Grundrechte zu unterstützen. Das ist auch der wahre Grund, dass die Kreise der liberalen
Intellektuellen im Angesicht der Repression so klein und ohnmächtig bleiben. Außerdem:
Wenn die Wirtschaftselite die Privatisierung weiter vorantreiben will, ist es dann nicht viel
leichter und praktischer, Lobbyarbeit bei den Parteifunktionären zu betreiben oder deren
Günstlinge zu werden, anstatt das Risiko auf sich zu nehmen, die Charta zu unterstützen?
In ihrem Buch China’s New Business Elite (University of California Press, 1997) erklärt
Margaret Pearson, warum die Marktreform und die Geburt dieser Klasse weder
Zivilgesellschaft noch Demokratisierung befördert haben:
„Mitglieder von Chinas Wirtschaftselite zeigen wenig Anzeichen, eine unabhängige, aktive
politische Kraft zu werden. Sie möchten der Politik entfliehen, sich nicht darauf einlassen
oder eine ‚Zivilgesellschaft‘ schaffen … Nachdem sie strukturelle Unabhängigkeit erlangt
haben, versuchen sie informelle Verbindungen zum Staat zu knüpfen. Mitglieder der
Wirtschaftselite sind dadurch gekennzeichnet, dass sie weder starke horizontale
Verbindungen miteinander haben, noch starke Verbindungen zu anderen
gesellschaftlichen Akteuren. Beides würden wir erwarten, wenn eine Zivilgesellschaft
entstünde“ (a.a.O., S.4).
Wenn die Autoren der Charta zu ihrem Aufruf für Bürgerrechte und demokratische Rechte
stehen, sind die einzigen Kräfte, auf die sie sich verlassen können, Bauern und Arbeiter,
die schon länger gegen Ausbeutung und staatliche Unterdrückung gekämpft haben. Die
Liberalen begrüßen deren Kämpfe nicht, da sie befürchten, dass jede solche Bewegung
notwendigerweise über formale politische Rechte hinausgehen und eine Umverteilung des
Reichtums verlangen sowie den Widerstand gegen Privatisierung fördern würde. Die
Liberalen enden also dort, wo sie vor zwanzig Jahren schon waren: nicht nur gehasst vom
Einparteienstaat, sondern isoliert von allen Klassen der Gesellschaft. Die Kapitalisten
brauchen ihre Dienste nicht, und die Bauern und Arbeiter interessieren sich nicht für sie –
wenn sie sich nicht sogar abgestoßen fühlen von ihrer neoliberalen Agenda.


Zum Autor: Au Loong Yu ist aktiv im Vorstand von Globalization Monitor in Hong Kong
Die Webseite von Globalization Monitor: http://www.globalmon.org.hk/en/
Übersetzung: Anne Scheidhauer
(Zwischenüberschriften von der Redaktion Infoexchange)

 

Text 2
"Ich stimme nicht mit den Ansichten überein, aber unterstütze entschlossen das Recht, diese zu äußern"


Das ist einer der Kernsätze im "Kommentar zur Charta 08" von Professor Qin Hui vom
März 2009. Der Beijinger Professor ist eine der landesweit bekanntesten Persönlichkeiten,
die als kritisch gelten. Sein Ansatz ist neben der Verteidigung der Meinungsfreiheit der
Vergleich mit der tschechoslowakischen Charta 77. Und einen zentralen Punkt macht er
dabei deutlich: Dass er die Charta nicht unterzeichnet hat, unter anderem eben weil sie die
sozialen Probleme breiter Teile der Bevölkerung ignoriert, wobei er die Forderung nach
demokratischen Rechten teilt - und versucht, sie historisch einzuordnen.


Kommentar zur „Charta 08“
Von Prof. Qin Hui, Tsinghua Universität


Seit dem 24.Dezember letzten Jahres wurde ich mehrfach von der Tsinghua Universität
angerufen und zu Gesprächen in der „Sicherheitsabteilung“ eingeladen. Am 09. Januar
diesen Jahres hatten der Sekretär und der stellvertretende Sekretär des Humanistischen
Institutes mit mir eine Verabredung getroffen, zu mir in mein bescheidenes Heim zu einem
Gespräch zu kommen. Sie teilten mir mit, dass „die dort Oben“ wüssten, dass ich die
„Charta 08“ mit unterzeichnet hätte, und sie deswegen beauftragt wurden, mir einen
Besuch abzustatten, um die näheren Umstände zu untersuchen.
Ich habe ihnen gesagt, dass ich die „Charta 08“ bestimmt nicht unterschrieben hätte und
diese Information eine Falschmeldung sei. Jedoch könne ich mich mit dem Geist und den
Forderungen der „Charta“ identifizieren, und unter den Unterzeichnern befänden sich viele
meiner Freunde. Schon seit längerer Zeit, wenn es nur eine Möglichkeit dazu gibt, ist es
nicht ungewöhnlich zu diskutieren, wie in China ein demokratischer Prozess hin zu einer
konstitutionellen Regierung in China beginnen könnte. Mit eingeschlossen die Diskussion
diverser Sorten von Texten und Dokumenten. Beim Gedankenaustausch und derartigen
Aktivitäten der Menschen, und einer derartigen Vielfalt von Kommunikationsmitteln in
unserer Informationsgesellschaft, ist es da nicht extrem langweilig, es so ernst bei der
Nachforschung zu nehmen, wer mit wem wessen Text zum wievielten Male diskutiert hat?
Nicht mit einbezogen sind die Staatsgeheimnisse, und die darin involvierten kriminellen
Fälle. Ich habe hinsichtlich der inhaltlichen Aspekte der Charta eine Meinung, aber ich
habe sie nicht unterzeichnet. Nachdem ich das zugesichert hatte, konnte ich
gewissermaßen die Charta auch nicht mehr unterschreiben. Seine Bürger dazu
aufzufordern, nur Ansichten zu äußern, die der Regierung gefallen, ist im heutigen,
zivilisierten, entwickelten Zeitalter wirklich eine Blamage. Ich kann nicht sagen, ob ich die
Hauptausrichtung der Charta befürworte oder nicht. Ich bewahre mir die Position „Ich
stimme nicht mit den Ansichten überein, aber unterstütze entschlossen das Recht, diese
zu äußern“, und stelle mich gegen die Verhaftung der in die Charta involvierten Personen.
Ich habe die Charta nicht unterzeichnet, aber wenn jemand es initiiert, die Freilassung des
verhafteten Liu Xiaobo zu fordern, dann kann es gut sein, dass ich diese Forderung
unterschreiben werde. Wenn heute Liu Xiaobo aufgrund seiner Meinungsäußerung
festgenommen wird, so könnte ich es morgen sein, der aufgrund einer Meinungsäußerung
festgenommen wird. Liu Xiaobos Meinungsfreiheit zu verteidigen, bedeutet einfach, meine
eigene zu verteidigen und auch diejenige der Menschen, die mit Lius Ansichten nicht
übereinstimmen.
Warum ich die „Charta 08“ dann letztendlich nicht unterzeichnet habe? Ich denke, dass die
„Charta 08“ von der damaligen „Charta 77“ in inhaltlich positiv beeinflusst wurde. Jedoch
ist gibt es bei der Sachlage zwei enorme Unterschiede, die beiden Texte haben
unterschiedliche Charakteristiken. Die Unterschriften-Kampagne (In China, und die
Ereignisse 1977 in der Tchechoslowakei) haben vor unterschiedlichen Hintergründen
begonnen, und die Texte haben unterschiedliche Charakteristiken. Die Kampagne in China
hatte im Sinne der „Charta 77“ keinen Erfolg.


Die Ursache dafür sehe ich in folgenden Punkten:


Erstens: die Saat für eine Demokratisierung in der Tschechoslowakei befand sich im
Vergleich zu China bereits viel tiefer unter der Erde: die Tschechoslowakei gehörte schon
vor dem Zweiten Weltkrieg zu den Ländern in Mittel- und Osteuropa, in denen die
Demokratisierung in Form einer konstitutionellen Regierung am stärksten ausgereift war.
In China hat die Entwicklung einer konstitutionellen Demokratie seit dem Sturz der Qing-
Dynastie eigentlich nicht wirklich Fortschritte gemacht. Mit 1969, der Zeit des „Prager
Frühlings“, mit seinen lauten Forderungen nach einer freien Demokratie und der
(aufgeheizten) Stimmung im Volk, die durch die Invasion der Sowietunion verursacht
worden war, in dem großen Ausmaß, mit dem das gesamte Volk an der Bewegung
teilgenommen hat, kann sich noch nicht mal die Demokratiebewegung 1989 in China
vergleichen. Darüber hinaus gibt es in China keine Konservativen, und die Bewegung von
1989 ist verloren. Zhao Ziyang (war 1987-89 Generalsekrtär der KP Chinas und
sympatisierte mit der Bewegung) und seine Anhänger wurden unter Einsatz militärischer
Kräfte vernichtet. Die Unterdrücker hatten es sogar nicht mal mehr nötig, darunter die
Verräter zu finden (und sich mit ihnen politisch auseinanderzusetzen, da sie einfach durch
die Repression bereits mundtot gemacht wurden).


Zweitens: nachdem 1968 die Tschechoslowakai hinter den „Eisernen Vorhang“
zurückgekehrt war, befanden sich bis zur „Charta 77“ die Reformen des ökonomischen
und politischen Systems in einem Zustand der Erstarrung. Das Volk war allgemein
unzufrieden, und es gab einen Bewusstseinswechsel, wie in China zum Ende der
Kulturrevolution. Die in ihrer Freiheit beeinträchtigten Menschen unterstützten daher
damals die „Charta77“ als Erwiderung auf das Grauen der Repressionen.
In China sind nach 1989 plötzlich die Reformen auf der politischen Ebene stehen
geblieben, während in der Wirtschaft eine deutlich sichtbare Transformation stattfindet.
Das mit der Marktwirtschaft und der Globalisierung einhergehende ökonomische Wunder,
das eine ungerechte Gesellschaft erzeugt, hat schon früh zu einem „Zusammenbruch des
Konsens (über die Reformen)“ im Volk geführt und eine Spaltung erzeugt. Einige
derjenigen, die innerhalb der Wirtschaftsreformen durch den Missbrauch ihrer Macht zu
Reichtum gekommen sind, wünschen sich keineswegs Demokratie, und die durch die
Reform Geschädigten, die sich mit einer fundamentalistischen Stimmung gegen die
Reformen richten, wünschen sich eine „Demokratie“ im Stil der Kulturrevolution. Das
(Modell von) „Freiheit“ in der „Charta 08“ ist in sich sehr widersprüchlich. Deshalb kann
man sagen, dass für diejenigen (in ihrer Freiheit) beeinträchtigten Chinesen, die die
„Charta 08“ unterstützen, mehr als Repression ausschlaggebend ist. Für viele ist sogar
das Wichtigste nicht die Repression. Wenn man heute in China die Position einer
konstitutionellen Demokratie vertritt, braucht man eine Begründung, nur mit der
Stellungnahme einiger Mutiger lässt sich keineswegs der Kampfgeist einer
Demokratiebewegung anfeuern. China braucht gegenwärtig tiefgehende ideologische
Kontroversen, Unterschriften reichen da nicht weit.


Drittens: 1977 befanden sich die Tschechoslowakai, die Sowietunion und die gesamten
Länder Osteuropas in einer „Zeit des Stillstands“, und der Ruf der Planwirtschaft wurde
immer schlechter. Darüber hinaus erlebte der Westen bereits den Einfluss der Ölkrise und
des Zerfalls des Bretton-Woods-Systems. Zu Beginn des Wirtschaftswunders ließ infolge
der vorherigen (Entwicklungen) die (ökonomische) Stagnation den Keynesianismus
Rückschläge erleiden. Der Wirtschaftsliberalismus wurde immer populärer, und nach 1977
dauerte es nicht lange, bis der „Thatcherismus“ seinen Einzug hielt.
Im Westen diskutiert man nicht, welchen Zusammenhang es zwischen der Entwicklung
von Wirtschaft und Demokratie gibt (weil sowohl die „Rechten" als auch die „Linken“
Demokratie wollen) aber in Osteuropa hat bei der Gegenüberstellung von freier Wirtschaft
und Planwirtschaft die Springflut der globalen Wirtschaftsliberalisierung auch einer Welle
von Demokratie in der Politik Vorschub geleistet.
Aber 2008 war es genau das Gegenteil, die Welt fiel in die Falle der in der “High Street“
(gemeint ist vermutlich Wall Street) „explodierten“ schweren Finanzkrise, und die
Verhältnisse entsprachen dem Zeitalter der Großen Depression nach 1929. Die
Mechanismen der Ereignisse der gegenwärtigen Finanzkrise und der Krise von 1929
unterscheiden sich grundsätzlich voneinander, aber die „Gesinnung von 1929“ hat immer
noch Einfluss. Diese Art von Gesinnung hat tendenziell dazu aufgerufen, mit eiserner
Faust die Welt zu befreien und zu einer Flaute hinsichtlich von Freiheit und Demokratie
geführt, sowohl die Ultralinken als auch die Ultrarechten hatten mit ihrer Autokratie die
Oberhand gewonnen. Obwohl in Europa im Zeitalter der Großen Depression nach dem
Ersten Weltkrieg einige neue demokratische Staaten entstanden, gab es jedoch von der
Tschechoslowakai abgesehen von allem eine „Rückkehr zur Autokratie“. In Deutschland
und Italien, zwei Ländern, die eigentlich vor dem ersten Weltkrieg bereits große
Fortschritte bei der Errichtung einer konstitutionellen Regierungsform gemacht hatten,
erlebten eine Faschisierung und den Nationalsozialismus .
Wachsam gegenüber der Gesinnung von 1929 sein
Ich bin überhaupt nicht der Ansicht, dass 2008 dem Jahr 1929 entspricht, aber abgesehen
davon, dass staatliche Intervention in Mode gekommen ist und die Wirtschaftsfreiheit
einen Tadel bekommen hat, haben die Länder der gegenwärtig von der Krise betroffenen
internationalen Staatengemeinschaft nur die Erwartung, dass China die Koordinierung von
Politischen Richtlinien zur Bekämpfung der Finanzkrise übernimmt, nicht aber die
Demokratisierung des Landes.
Wenn sich daher in der nächsten Zeit die demokratischen Kräfte in China in der Defensive
befinden, dann ist die dringendste Aufgabe der Gegenwart, eine Strategie gegen die Krise
zu finden, und von den Ideen der Demokratie und Menschenrechte ausgehend das
Phänomen der Krise zu lösen, mit einer Ausrichtung in die richtige Richtung, um
faschistische Entwicklungen zu verhindern.
Wenn man gegenwärtig die Erfahrungen, die die Tschechoslowakai 1977 gemacht hat,
kopiert und mit den gewohnten redundanten Demokratieparolen offensive Gesten zur
Schau stellt, würde das Ergebnis nur negativ ausfallen. Man kann sagen: Wenn wir in
einer Zeit der Krise schon nicht die Verwirrung im Bewusstsein der Leute lösen können,
wenn in einem bereits demokratisierten Staat ein Hitler gewählt werden konnte, unter
welchen Bedingungen soll dann in einem undemokratischen Staat Demokratie ins Leben
gerufen werden?
Daher bin ich der Ansicht, dass es kaum passend wäre, gegenwärtig in China im Sinne
der Charta 77 aktiv zu werden. (s.o.) Wenn man es von einem anderen Aspekt her
diskutiert, könnte man sagen: Je mehr man sich in einer für den Fortschritt der Demokratie
nachteiligen Situation befindet, desto mehr sollten Leute auf die Straße gehen und laut
hörbar ihr Leid klagen, dem Zynismus entgegenwirken und einen Geist der Demokratie
anregen. Man muss sagen, dass, nachdem die „Charta 08“ publiziert wurde, tatsächlich
solch ein Nutzen entstanden ist. Ich möchte Liu Xiaobo und den anderen und deren Moral,
Mut und Verantwortungsbewusstsein meine Bewunderung aussprechen.
Wenn man es von diesem Aspekt her überdenkt, so ist der Text der Charta von großer
Bedeutung. Nachdem die Charta veröffentlicht wurde, haben viele Leute an ihr gelobt,
dass sie einen friedlichen, rationalen und reformerischen Geist verkörpert. Das tut sie
wirklich, und das ist auch der Aspekt, den sie mit der „Charta 77“ gemeinsam hat. Die
chinesische Demokratiebewegung hat jedoch ihre eigenen Besonderheiten, auch wenn sie
in ihren allgemeinen Grundzügen (so wie die in der Tschechoslowakei) ist. Beispielsweise
forderte die tschechische „Charta 77“ die Umsetzung der UN-Resolution der
Menschenrechte, aber tatsächlich wurde in dem Text nur die "Internationale Konvention
über die Bürgerrechte und die politischen Rechte" erwähnt, das ist in der
Tschechoslowakei nicht schwer zu verstehen. Die Tschoslowakei war ein industrialisiertes
Land mit bereits etablierten Produktmarken, sie haben bei der Planwirtschaft nicht auf
primitive Akkumulationsmethoden zurückgegriffen, auch unter dem „alten System“ war der
Lebensstandard der Menschen bereits ziemlich hoch. Im Transformationsprozess von der
Plan- zur Marktwirtschaft kann ein hoher Lebensstandard ganz im Gegenteil zu einem
kontroversen Thema werden.
In China aber verhält es sich ganz anders, in der verordneten Wirtschaft der Mao ZedongÄra
war es das Wichtigste, das primitive Akkumulationssystem der Bauern aufzulösen, es
beinhaltete weder ein hohes noch ein niedriges Maß an Wohlfahrt, sondern ein System
der so genannten „negativen Wohlfahrt“, (bei der die armen Menschen noch mehr
geschröpft wurden, und letztendlich die Reichen) „Wohlfahrt“ und Sonderrechte erhalten.
Auch gegenwärtig ist die am schlechtesten abgedeckte und schwächste Gruppe die der
Bauern. Sie sind noch schlechter (durch ein soziales Sicherheitsnetz) abgedeckt als die
schwächsten Stadtbewohner außerhalb der Gruppe der Staatsangestellten. Nicht nur,
dass sie zu „Bürgern zweiter Wahl“ deklassiert werden, die Ungleichheit wird kontinuierlich
vergrößert.
Seit dem Beginn der Reformperiode in China wird nur Profit und Wettbewerb große
Bedeutung zugesprochen (sogar die Regierung ist nur auf Gewinn aus), der Aufbau eines
Sozialversicherungssystems bleibt dabei grundlegend auf der Strecke.
Was die Massen der Menschen in den unteren Gesellschaftsschichten in China betrifft, so
kann ihre Situation natürlich auf keinen Fall mit dem hohen Niveau der Sozialversicherung
in Nordeuropa verglichen werden, und auch nicht mit der „Laissez Faire“–Einstellung des
Staates in den USA. Das Niveau ihrer Sozialversicherung reicht noch nicht einmal an das
von Hong Kong heran, wobei Hong Kong als das freieste Wirtschaftssystem global gilt.
Und unter den als sozialistisch bezeichneten Ländern unterscheidet sich diese Art von
„Verantwortung für die Wohlfahrt“ noch weit von dem tschechoslowakischen
Wohlfahrtssystem.
Das chinesische Volk leidet darunter, dass die Macht und Rechte der Regierenden zu groß
und deren Verantwortung zu klein ist. Insbesondere zum Zeitpunkt der gegenwärtigen
Finanzkrise, kann man nur sehr schwer auf die Teilnahme des Volkes hoffen, wenn man in
die Forderungen nach Demokratie nicht die grundlegendsten „wirtschaftlichen sozialen
Rechte und Interessen“ des Volkes integriert.. Diese „grundlegendste soziale Absicherung“
ist keineswegs eine hoch angesetzte Wohlfahrt, sondern nur diejenige, die in den
demokratischen Staaten mit einer „Laissez Faire“-Einstellung als Minimum notwendig
erachtet wird.
Wenn es so sein sollte, dass die „Charta 08“ nur die Probleme der politischen Macht und
nicht die der Wirtschaft diskutiert, so ist dies zwar nicht gut, aber akzeptierbar (ich habe
vorher schon gesagt, dass ich es verstehe, wenn dies zur Vermeidung von
Verunglimpfung dient. Weil die VerfasserInnen der Charta aber (Wirtschaft als Thema)
diskutiert haben, von Forderungen nach Wirtschaftsfreiheit abgesehen (z.B. privater
Grundbesitz), so sollte es auch Forderungen nach einem Wohlfahrtssystem geben. Wenn
diese Forderung zu hoch gegriffen erscheint (beispielsweise nach einer
Sozialversicherung wie in Nordeuropa), dann kann es genauso wie beim Thema der
extremen Wirtschaftsfreiheit zu Streit führen, aber mit der Basis von Wohlfahrt ist es wie
mit der Basis von Freiheit, es gehört eine allgemeine Grundlinie dazu, und darüber sollte
es keine Kontroversen geben. Der Text der Charta bezieht diese Grundlinien nicht mit ein,
das ist bedauernswert.


Zusammenfassend kann man sagen, dass die Schwächen im Text der „Charta 08“ darin
liegen, dass der Text sich auf zu viele der kontroversen Fragen bezieht, die unter den
Unterstützern von Demokratie „existieren können“, und gleichzeitig dennoch kontroverse
Fragen meidet, die es unter den Unterstützern der Demokratie „nicht geben sollte“.
Natürlich habe ich bei meiner Analyse die Diskussion der Freunde berücksichtigt, die
öffentlich die Charta unterschrieben haben. Wie ich bereits vor der Veröffentlichung der
Charta diskutiert habe, halte ich die Zeit noch nicht reif dafür, wenn man es tun möchte,
muss man den Text in passender Form verändern.
Nachher haben dann einige Freunde gesagt, sie hätten die Charta unterschrieben, weil sie
ihren Freunden vertraut haben, wobei sie den Text noch nicht mal gelesen hatten, bevor
sie unterschrieben haben. Natürlich habe ich auch Vertrauen in diese Freunde als
Personen, aber in Hinsicht auf die Gesinnung eines Textes ist das nicht so
selbstverständlich. So eine Angelegenheit kann letztendlich nicht nach dem Prinzip
„Freunde haben immer Recht“ behandelt werden. Die Charta sollte aufgrund der
inhaltlichen Bedeutung der Worte unterschrieben werden. Deshalb habe ich sie nicht
unterschrieben.
Die Standpunkte einiger Freunde aus der so genannten Neuen Linken, die der „Charta 08“
nicht zustimmen, kann ich vollkommen nachvollziehen, weil ich selber auch nicht
vollkommen mit den Positionen des Textes übereinstimme. Diejenigen, die im Internet zur
Unterdrückung der an der Charta Beteiligten appellieren, sind jedoch nur schwer zu
verstehen: Diese „Freunde, die damit prahlen, zur Fraktion der Kulturrevolution zu
gehören“, haben sie noch nicht bemerkt, dass sich ihre eigenen Positionen auch nicht im
„Einklang mit der Hauptmelodie“ befinden? Sie rufen zu einer „Revolte“ und dazu auf, die
„Machtinhaber in der Partei, die den Weg des Kapitalismus gehen“, zu schlagen. In
diesem Kontext ist es dann auch nicht weiter verwunderlich, dass sie Liu Xiaobo für so
einen „Machtinhaber“ halten. Angenommen, dass es heute noch eine „Mao-Fraktion“
gäbe, auch wenn sie nicht den „Bewaffneten Kampf“ propagiert, so kann sie doch nicht
den Wunsch, Freiheit zu diskutieren, aufgeben? Sind das nicht auch die großen Prinzipien
der „Marxistisch-Leninistischen Gedanken Maos“? Diese Freunde sagen auch immer
noch, dass die Unterstützer der „Charta 08“ eine „Farbenrevolution“ [gemeint sind hier die
„organgenen“ Revolutionen in Osteuropa] lostreten wollen. Es ist bedauernswert, dass ihr
Verständnis von der „Farbenrevolution“ noch schlechter ist als das der KP Russlands.
Während der „Farbenrevolution“ in der Ukraine wurde auf die Website der russischen
Zeitung „Pravda“ eine Meinungsumfrage zum Thema „Wie sehen die Russen die
Farbenrevolution?“ gestellt. Als Ursache für die Revolution gaben 40% „Die vorherige
Regierung war nicht kompetent und korrupt“ an und nur 16% „den Druck der USA und
anderer westlicher Länder“. In Weißrussland,war die KP Weißrusslands, die Widerstand
gegen Aleksander Lukashenko leistete, die lokale führende Kraft der „Farbenrevolution“.
Irrtümer der „Farbenrevolutionen“
In der Tat, nachdem 2003 Saddams Regime von den USA gestürzt wurde und die KP Iraks
von Saddam massakriert worden war, gehörten Mitglieder der KP Iraks zu einer der ersten
Fraktionen, die mit der US-Armee kooperiert hat (der Generalsekretär der KP Irak hat in
der ersten Zeit an dem mit der US-Armee kooperierenden „Rat der Sechs“ teilgenommen).
Während die Kuomintang (KMT) China regierte, hat die KP Chinas die USA darum
gebeten, Druck auf Chiang Kai-shek auszuüben und sogar gefordert, dass „jeder Soldat
der chinesischen und der US-amerikanischen Armee sich als Werbetrommel für
Demokratie betätigen soll“. Diese Einstellung ist leicht nachvollziehbar: Man kann weder
sagen, dass diese Mitglieder der KP „Vertraute des Westens“ sind, noch dass sie den
„Kapitalismus“ mögen, aber sie haben unter einer Autokratie Repression erfahren, und
ihnen ist die große Bedeutung der Menschenrechte bewusst. Sie haben alle verstanden,
dass man zunächst Freiheit erkämpfen muss und erst im Anschluss dann alles weitere
diskutieren. Doch kann Befreiung durch andere von außen erfolgen?
Wenn wir uns nicht wünschen, dass auch in China eine „Farbenrevolution“ stattfinden
wird, und noch weniger wollen, dass Chinas Angelegenheiten von jemand anderem in die
Hand genommen werden, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als dass wir selber eine
Demokratisierung herbeiführen. Wie Tan Sitong1 damals sagte: „Wenn die Chinesen es
nicht selbst in die Hand nehmen (Demokratie in China einzuführen), kann ich schon eine
Katastrophe voraussagen.“
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Qin Hui ist Professor an der historischen Fakultät der Tsinghua Universität in
Beijing und wird von den chinesischen Medien zu „Chinas 50 einflussreichsten
Öffentlichen Intellektuellen“ gezählt („Public Intellectuals“).
1 Tan Sitong ist neben Kang Youwei einer der bekanntesten sechs Intellektuellen, die 1898 die Hundert Tage Reform anführten. Sie forderten unter anderem. eine „Modernisierung“ des Regierungs- und Erziehungssystems. Tan wurde wenige Monate nach dem Scheitern der Reformen hingerichtet.
Dieser Beitrag wurde am 8. März 2009 veröffentlicht und ist im Web bei Asia Weekly
publiziert:
http://www.yzzk.com/cfm/Content_Archive.cfm?Channel=tt&Path=3104908231/09tt1.cfm
Übersetzung KS
Anmerkungen, Erläuterungen und einzelne Formulierungen – jeweils kursiv in
Klammern – von der Redaktion Infoexchange.

 

Text 3
Agenten des Imperialismus?


Die heftigste Kritik an der Charta übt, in dem Beitrag "Die Hintergründe zur Entstehung der
Charta 08" der Autor Zheng Zhao Xi von der Webseite New Left Utopia. Der in den USA
lebende Autor (wo auch einige der Unterzeichner der Charta leben) versteht sich als den
Mao Zedong - Gedanken verpflichtet, und verteidigt die "Unabhängigkeit der chinesischen
Nation". Sein Versuch geht davon aus, Zustände in China mit der aktuellen kapitalistischen
Krise zu kontrastieren, speziell logischerweise mit den Verhältnissen in den USA.


Die Hintergründe zur Entstehung der „Charta 08“
Von Zheng Zhao Xi, Utopia


Vor dem Hintergrund der “Charta 08” formieren sich mit großer Geschwindigkeit zwei Arten
von gesellschaftlichen Kräften: diejenigen, die ihr Land lieben, und diejenigen, die ihr Land
verraten. Die globale Finanzkrise und damit einhergehend eine politische Krise sind der
Hintergrund der „Charta 08“. Mit der Finanzkrise wurde der Bankrott der Theorie des
freien Kapitalismus verkündet. Dieser Bankrott brachte eine Glaubenskrise der
kapitalistischen Welt mit sich, und die Glaubenskrise führte wiederum zwangsläufig zu
Unruhe und einem Bewusstseinswechsel im Volk. Dieser Bewusstseinswechsel hatte eine
politische Krise der kapitalistischen Welt zur Folge.
Vor dem Hintergrund eines Zeitalters, in dem von allen Seiten Krisen drohen, haben die
kapitalistischen Machtinhaber, um den Blick des Volkes von den Problemen im eigenen
Land abzulenken, China als Ziel der Aufmerksamkeit auserkoren, das noch das Banner
der „sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Ausprägung“ hochhält. Sie übertragen die
Lasten aller Arten von Krisen der kapitalistischen Welt auf China und lassen die Rechnung
für ihre politische Krise mit einem „heimischen (chinesischen) Aufstand gegen die
Herrschenden“ bezahlen. Um diese Art von niederträchtigem politischem Ziel zu erreichen,
haben sie eine Gruppe von politischen Vaterlandsverrätern gekauft. Die „Charta 08“ wurde
letztendlich gerade zur rechten Zeit „aus dem Dampfkorb für Hefebrötchen genommen“,
um die politischen Bedürfnisse des Imperialismus zu befriedigen. Der politische Inhalt der
„Charta 08“ ist insgesamt eine Wiederholung der Ideen des –„Humanismus“ der
Bourgeoisie. Die Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, von denen gesprochen
wird, haben alle eine „Humanisierung“ und „Politisierung“ durchlaufen und werden vom
kapitalistischen Rechtssystem, einem völlig verknöcherten Ding, eingerahmt.
Von den Initiatoren der „Charta 08“ leben einige in den USA. Ich lebe auch in den USA und
wünsche mir, dass das zentrale Staatsfernsehen nur einmal die US-amerikanische
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Menschenrechte, Demokratie usw., die Debatten über
die Essenz der bourgeoisen Werte ausstrahlen könnte.
In der Theorie kann man differenzieren, von der Praxis ausgehend kann man noch besser
differenzieren. Ich sage einfach mal wagemutig, dass in den Großstädten der USA viel
mehr Obdachlose und Tagelöhner leben als in Chinas Großstädten. Wenn einem etwas
nur als “Freiheit” vorgesetzt wird und man sich daran gewöhnt, dann kann es einem
wirklich als “Freiheit” erscheinen.
Die “Gleichheit” in den USA bezieht sich lediglich auf “Chancengleichheit”. Sind diejenigen
Angestellten, die infolge der Finanzkrise ihre Arbeit verloren haben, etwa gleichberechtigt
mit den Kapitaleigentümern? Basiert die Situation der korrupten Spekulanten der „High
Street“ und der regulären Aktieninhaber auf einem Gleichheitsgrundsatz? Hat nicht
Bernard Maddoff, ehemaliger Präsident von NASDAQ, die Leute um 50 Milliarden USDollar
betrogen? McCain hat in seiner Rede nach dem Wahlsieg Obamas gesagt, dass
das Ergebnis ein Beweis für die Chancengleichheit in den USA sei. Wenn man aber
Obama und Bush vergleicht, gibt es dann wirkliche grundlegende Unterschiede? Sie
haben nur hinsichtlich des Geldes Chancengleichheit, beide sind vom Geld abhängig, um
die Wählerstimmen zu bekommen. Sie fahren beide das gleiche Vehikel des Kapitalismus,
der Weg, den sie nehmen, ist der gleiche kapitalistische, sie fahren in die gleiche
Richtung, und verbrennen dabei auf gleiche Art und Weise das Blut und den Schweiß der
US-amerikanischen Steuerzahler. Wenn es dabei irgendwelche Unterschiede geben sollte,
so sind es lediglich Fragen der Fahrtechnik, der Anzahl der Unfälle und deren graduelle
Unterschiede. Was die Hautfarbe des Autofahrers betrifft, so spielt sie für die Kapitalisten
keine Rolle. Wenn es einen Hund gäbe, der noch besser auf Herrchens Worte hört und
das Vehikel des Kapitalismus fahren kann, dann würden die Kapitalisten diesen Hund
wählen, um ihn das Vehikel des Kapitalismus fahren zu lassen.
Menschenrechte! Was die Bourgeoisie betrifft, so braucht sie keine Menschenrechte, da
die Staatsmacht ihnen dient. Sie sind diejenigen, die einfach alles in Hülle und Fülle
haben. Die namenlosen Obdachlosen und Tagelöhner würden lieber einen Hund an ihrer
Seite zur Selbstverteidigung haben als „Menschenrechte“, denn wenn sie einen Hund zur
Selbstverteidigung hätten, würde das konkret mehr Schutz bedeuten.
Für diejenigen, die kaum über den eigenen Tellerrand hinausschauen, ist Politik
überflüssig, weil sie ihr ganzes Leben lang nur durch die Gegend rennen, um ihre Kredite
abzubezahlen. Wenn man mit der Theorie Aristoteles’ (des Vorfahren der bourgeoisen
Theorie des Rationalismus), dass „Menschen von Natur aus politische Lebewesen sind“,
diese Menschen betrachtet, so kümmern sie sich nur um die „Naturmenschen“ im
„Dschungel“ und interessieren sich nicht für Menschenrechte. „Menschenrechte“ sind nur
die leeren Worte bourgeoiser Schwindler. In der „Charta 08“ ist die Essenz der
Menschenrechte, die politischen Rechte mit den Menschenrechten „zu schlagen“, und
nicht die hinsichtlich der „Bewegung des 4. Juni“ „geraubten Dinge“ wieder
zurückzuerobern.
Brüderlichkeit! Schaut euch nur die Brüderlichkeit der letzten Zeit in den USA an. Ich
werde mich auf eine Karikatur aus den US-Medien beziehen, um zu erklären, was
„Brüderlichkeit“ in den Herzen der US-amerikanischen Kapitalisten bedeutet. Auf dem Bild
sind drei hungrige Kinder im Spiel zu sehen, daneben ist ein Hundekopf. Er fordert Kinder
auf, bei einem Spiel mitzumachen, und verteilt 20 Reiskörner in die Teller, die zwischen
ihnen stehen. Was ich aus dieser Karikatur herauslesen kann: 1. In dem Spiel kann man
sehen, dass die armen Kinder unter dem Einfluss des Hundes stehen. 2. Das Mitgefühl für
die Armen wird nur durch den Hund zugeteilt. 3. Die Barmherzigkeit der spielenden Kinder
wird unbewusst degeneriert, das dient dem Nutzen der „ Politisierung“ und
„ Humanisierung“.
Was die “Charta08” in dieser Hinsicht vorschlägt, bedeutet nicht eine Gesellschaft für die
Menschen aufzubauen, sondern die Gesellschaft einer “Dschungelgesellschaft” mit
Naturgesetzen. Nach ihrem Entwurf kann China nicht den Kapitalismus USamerikanischer
Art “klonen”, und selbst wenn ein Kapitalismus US-amerikanischer Art
aufgebaut werden sollte, wie soll (die Gesellschaft) dann funktionieren? Arbeitslosigkeit,
Armut, Hungers- und Kältenot, existieren die nicht immer noch? Ist US-amerikanische
Brüderlichkeit nicht nur schwer auszuhalten?
Die “Charta 08” will grundlegend den Marxismus und die Mao Zedong-Gedanken
auslöschen und somit dem Imperialismus helfen, die große Strategie des Kommunismus
von der Erdoberfläche ausmerzen, Schritt für Schritt die wunderschönen Teile der
chinesischen Kultur ausmerzen und China in eine Welt der Tiere umwandeln, in der nur
gegessen, getrunken, sich gepaart und ununterbrochen gekämpft wird.
Aber die Autoren der “Charta08” haben einen klitzekleinen Fehler gemacht, denn das
Erkenntnisniveau des chinesischen Volkes heute und vor 20 Jahren können nicht in einem
Atemzug genannt werden. Die Demokratiebewegung von vor 20 Jahren schlug ein Banner
gegen die Korruption, indem sie von der öffentlichen Meinung Gebrauch machte, und das
Ergebnis war nur, dass die Minderheit, die “Anführer”, mit dem extremsten Verhalten in
Übersee ins Exil gingen. Aber ihr ökonomisches Grundsatzprogramm erlebte einen Sieg.
Ihr politisches Programm wurde von der “Fraktion auf dem Weg des Kapitalismus” in der
KP Chinas genutzt, die Frucht des Siegs wurde unter den mächtigen Funktionären
aufgeteilt, die Rechte und Interessen des Volkes gingen dabei verloren. Das bourgeoise
Abzeichen auf ihren Hinterbacken wurde von dem zur Besinnung kommenden
chinesischen Volk deutlich erkannt.
Innerhalb dieser Bewegung, hatte ich die gleichen Gefühle und war fälschlicherweise der
Ansicht, dass es ein “Auf Wiedersehen” der Kulturrevolution sei. Es war aber eine
sozialistische große Demokratiebewegung. Ich habe mich hinsichtlich des praktischen
Beweises geirrt, diese Demokratiebewegung ist vollkommen gegenläufig zur
Kulturrevolution, sie wollte das chinesische Volk zu einer Bewegung zur Unterjochung der
chinesischen Nation und chinesischen Rasse anspornen
Die “Charta08” ist noch bedauernswerter als jene Bewegung, sie hat ein
Grundsatzprogramm, eine Organisation, einen Plan, und die Unterstützung durch
ausländische feindliche Kräfte.
Gibt es einen Ausweg?
Haltet die große Rote Fahne der Mao Zedong-Gedanken hoch, dann erst können
Patriotimus und Nationalismus Einzug in die wissenschaftliche Gedankenbahnen halten;
haltet die große Rote Fahne der Mao Zedong-Gedanken hoch, dann erst können wirklich
„Millionen von Arbeitern und Bauern mobilisiert werden und gemeinsam an einem Strang
ziehen“; haltet die große Rote Fahne der Mao Zedong-Gedanken hoch, dann erst kann
der sozialistische Staat des Volkes eine unbesiegbare Position einnehmen!

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Übersetzung KS
Formulierungen in Klammern kursiv von der Redaktion Infoexchange
Die URL der Webseite New Left Utopia, für die der Autor schreibt, ist:
http://www.wyzxsx.com