Der Aufstieg der chinesischen Arbeiterklasse und die Zukunft der chinesischen Revolution

Von Dr. Minqi Li, Assistenzprofessor Abteilung für Wirtschaft, Universität von Utah Salt Lake City, Utah; aus: Monthly Review, Februar 2011 Ein Artikel den wir auch deshalb übersetzt haben, weil es in China Forum Aktive gibt, die ihn als einigermaßen repräsentativ für ihre eigene Positionen empfohlen haben.

Nach Jahren rascher Expansion hat sich die chinesische kapitalistische Wirtschaft als größere treibende Kraft der globalen kapitalistischen Akkumulation etabliert. Der chinesische Exportindustriesektor, auf Grund der rücksichtslosen Ausbeutung von hunderten Millionen schlecht bezahlter Arbeiter, hat bei der neoliberalen globalen Umstrukturierung eine zentrale Rolle gespielt. China hat sich zum weltgrößten Verbraucher von Energie und vieler Rohstoffen entwickelt. Wenn sich der gegenwärtige Trend fortsetzt, könnte China die USA überholen und in einigen Jahren die weltgrößte Wirtschaftsmacht werden (gemessen in Kaufkraftparität). China ist im Augenblick im Mittelpunkt der globalen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Widersprüche.
    Wie Marx im Kommunistischen Manifest behauptet hat und die Geschichte des Kapitalismus gezeigt hat, führt die kapitalistische Industrialisierung nicht nur zur Bildung einer immer schneller wachsenden proletarisierten Arbeiterklasse, sondern liefert auch das notwendige Material und die sozialen Bedingungen für das Anwachsen von Organisationen der Arbeiterklasse. Eben dieses Gesetz der Bewegung ist heute in China zu beobachten.
    Im Juli 2009 organisierten Arbeiter in der staatseigenen Tonghua Steel Company in Jilin einen massiven Protest gegen Privatisierung. Aufgebrachte Arbeiter prügelten den obersten Manager tot, der ein mächtiges kapitalistisches Unternehmen repräsentierte, das die Privatisierung durchführen wollte. Auf den Protest folgten mehrere Proteste gegen Privatisierungen in anderen Provinzen, so dass die örtlichen Regierungsstellen ihre Privatisierungspläne aufgeben mussten.
    Im Sommer 2010 schwappte eine Streikwelle durch die chinesischen Küstenprovinzen und traf die chinesische Exportgüterindustrie, die mittlerweile eine Schlüsselstellung in den globalen kapitalistischen Warenketten einnimmt. Nach Jahrzehnten der Niederlagen, des Zurückweichens und des Schweigens tritt die chinesische Arbeiterklasse jetzt wieder hervor als gesellschaftliche und politische Kraft. Die Ereignisse von 2009 und 2010 könnten sich als historischer Wendepunkt erweisen. In China wird wahrscheinlich ein neues Zeitalter wachsender Militanz in der Arbeiterklasse anbrechen.
    Die chinesische Arbeiterklasse tritt als neue gesellschaftliche und politische Kraft auf. Wie wird diese Entwicklung die Zukunft in China und der Welt beeinflussen? In der Geschichte schafften die kapitalistischen Klassen im Westen und einigen Randstaaten es, sich den Herausforderungen der Arbeiterklasse anzupassen, ohne die grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung des Kapitalismus aufzugeben. Könnte der Kapitalismus der kommenden Herausforderung durch die chinesische Arbeiterklasse in ähnlicher Weise begegnen?
    Der gegenwärtige geschichtliche Kontext unterscheidet sich grundlegend von der bisherigen kapitalistischen Geschichte. Der weltweite Kapitalismus befindet sich in einer strukturellen Krise. Er sieht sich unüberwindlichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, ökologischen und geopolitischen Widersprüchen gegenüber. Die chinesische kapitalistische Akkumulation basierte auf der Ausbeutung einer extrem billigen Arbeiterschaft, dem massiven Verbrauch von Rohstoffen, Umweltzerstörung und Exporten in die wichtigen kapitalistischen Volkswirtschaften. Bei einer Verschärfung der globalen kapitalistischen Krise kann keine dieser Bedingungen langfristig aufrechterhalten werden.
    Sobald Chinas Maschine der Kapitalakkumulation versagt, werden die innerchinesischen Klassenwidersprüche sich so verschärfen, dass sie vom engen historischen Rahmen des Kapitalismus nicht mehr eingedämmt werden können. Die Implosion des chinesischen Kapitalismus wird den Weg ebnen für eine neue Runde sozialistischer Revolutionen in China und in der ganzen Welt.
   
Das Proletariat – die Totengräber des Kapitalismus?


    Im Kommunistischen Manifest schrieb Marx, dass die fortschreitende kapitalistische Industrialisierung völlig neue gesellschaftliche Bedingungen schaffen würde und die proletarisierte Arbeiterklasse (diejenigen, die keine Produktionsmittel besitzen und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen um zu überleben) anwachsen und schließlich die große Mehrheit der Bevölkerung in einer kapitalistischen Gesellschaft bilden würde.
    Marx lehrte weiterhin, dass die kapitalistische Entwicklung die notwendigen materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen vorbereiten würde, die das Wachstum von Organisationen der Arbeiterklasse begünstigen würden. Durch Industrialisierung und Urbanisierung wurden Arbeiter an ihren Arbeitsplätzen und Wohnorten konzentriert. Mit wachsender Größe und Konzentration der Arbeiterklasse begriffen Arbeiter mehr und mehr ihre eigene Stärke und gründeten Gewerkschaften, um gegen die Kapitalisten für ihre unmittelbaren Interessen zu kämpfen.
    Die kapitalistische Entwicklung versah die Arbeiterklasse auch mit Grundelementen politischer und allgemeiner Bildung. Die Verbesserung der Technologie im Transport- und Kommunikationssektor ermöglichte das Entstehen von nationalen und internationalen Arbeiterorganisationen. Wenn ein gewisser Punkt erreicht ist, würden die proletarisierten Arbeiter sich als Klasse in Form einer Partei der Arbeiterklasse organisieren. Marx sagte voraus, dass die wachsende wirtschaftliche und politische Macht der Arbeiterklasse eben diese Klasse schließlich zu den Totengräbern des Kapitalismus machen würde.1
    Im frühen 20. Jahrhundert wurde die kapitalistische Weltordnung von den westlichen Arbeiterbewegungen und den nicht-westlichen nationalen Befreiungsbewegungen ernstlich bedroht. Zwischen 1914 und 1945 wurde die kapitalistische Weltordnung durch zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise verwüstet und war mit der neuen sozialistischen Sowjetunion konfrontiert, die nach der Oktoberrevolution entstanden war. Der Kapitalismus überlebte die Krise nur mit Mühe und Not.
    Als Antwort auf die große Krise nahm der Kapitalismus einige größere Umstrukturierungen vor. Ein schwacher Staat und der Kapitalismus der freien Marktwirtschaft wurden ersetzt durch einen starken Staat und keynesianischen Kapitalismus. Wohlfahrtstaat-Institutionen wurden geschaffen und ausgeweitet. Die ehemaligen Kolonien des Westens wurden als unabhängige Staaten anerkannt und in die Vereinten Nationen aufgenommen.
    Durch begrenzte Zugeständnisse an die westlichen Arbeiterklassen und nicht-westlichen Eliten (die nationalen Bourgeoisien) konnten die weltweit regierenden kapitalistischen Eliten deren Forderungen erfüllen, ohne den grundlegenden institutionellen Rahmen des Systems zu unterminieren. Für die weltweite kapitalistische Akkumulation günstige Bedingungen wurden wieder hergestellt und die Weltwirtschaft wuchs in den 1950er und 1960er Jahren so schnell wie nie zuvor. Diese Jahrzehnte waren das „Goldene Zeitalter“ des globalen Kapitalismus.
    Am Ende des Goldenen Zeitalters bedrohte wachsende Militanz der Arbeiterklasse das kapitalistische Weltsystem. Revolutionäre und fast revolutionäre Situationen entstanden im Osten und im Westen, im Norden und im Süden. Die Profitraten sanken schnell fast überall in der kapitalistischen Welt. In den 1970ern blieb die kapitalistische Weltwirtschaft hochgradig instabil, und der US-Dollar stand in den späten 1970ern kurz vor dem Zusammenbruch.
    Die globalen kapitalistischen Klassen antworteten mit dem neoliberalen Gegenangriff. Ideologisch gesehen bedeutet der Neoliberalismus die Rückkehr zur bankrotten freien Marktwirtschaft. Im Endeffekt verkörpert er die Strategie der weltweit herrschenden Eliten, das Kräfteverhältnis zwischen den kapitalistischen Klassen und den Arbeiterklassen neu zu definieren, die Profitrate zu steigern und für die kapitalistische Akkumulation günstige Voraussetzungen wieder herzustellen.
    Eine Schlüsselkomponente der weltweiten neoliberalen Umstrukturierung war die massive Expansion der globalen Reservearmee von billiger Arbeitskraft. Durch die Verlagerung großer Teile der Industrieproduktion von den westlichen Kernvolkswirtschaften in die Peripherie und Semi-Peripherie konnten die multinationalen Konzerne hohe Profitraten erzielen, indem sie die billige Arbeitskraft in der Peripherie und Semi-Peripherie direkt ausbeuteten. Durch die Drohung, die Produktionsstätten zu verlagern konnten die westlichen Unternehmen darüber hinaus die westlichen Arbeiterklassen dazu zwingen, sich mit niedrigeren Löhnen und höherer Arbeitsintensität abzufinden. Die Konzerne konnten auch Druck auf die westlichen Regierungen ausüben, Sozialausgaben abzubauen und die Steuern auf kapitalistische Gewinne zu senken.
    Der kapitalistische Wandel in China hat in der neoliberalen globalen Umgestaltung eine Schlüsselrolle gespielt. In einem Papier, das in Unternehmerkreisen eifrig gelesen wurde, schreibt Richard Freeman (der den Herbert Ascherman Lehrstuhl für Wirtschaft an der Harvard Universität innehat), dass Chinas Entwicklung hin zum Marktkapitalismus, Indiens „Liberalisierungsreform“ und der Zusammenbruch des sowjetischen und osteuropäischen Sozialismus dazu führte, dass sich die für die kapitalistische Akkumulation zur Verfügung stehende globale Arbeiterschaft verdoppelt hat.2 2007 arbeiteten 200 Millionen Chinesen im industriellen Sektor. Das verdoppelte fast die Gesamtbeschäftigung in der Industrie aller OECD Länder mit hohem Einkommen (etwa 120 Millionen).3 Ohne Chinas Beteiligung am weltweiten kapitalistischen Markt wäre die neoliberale globale Umgestaltung erheblich weniger wirksam gewesen und wäre vielleicht bei der Wiederherstellung vorteilhafter Bedingungen für die weltweite kapitalistische Akkumulation nicht erfolgreich gewesen.
    In der zweiten Hälfte der 1990er konnten sich die führenden kapitalistischen Volkswirtschaften wieder über hohe Profitraten und ein relativ hohes Tempo der Akkumulation freuen. In den frühen 2000ern trug das wirtschaftliche Wachstum in China und Indien deutlich zum weltweiten Wirtschaftswachstum bei. Die Weltwirtschaft durchlebte von 2003 bis 2007 ein Mini-Goldenes-Zeitalter.
    Im Erfolg der neoliberalen Umstrukturierung lag aber schon der Keim der Selbstzerstörung. Kurzfristig hat die Verlagerung von Kapital in die „Schwellenländer“ in der Semi-Peripherie (China, Indien, Osteuropa und Lateinamerika) eine massive industrielle Überproduktion erzeugt. Die dramatische Ausweitung der Industrieproduktion in den semi-peripheren Volkswirtschaften übersteigt bei weitem die sehr begrenzte Konsumkraft der verarmten Arbeiterklassen in diesen Ländern. Dies wiederum führt zu den so genannten „globalen Ungleichgewichten“, denn die Überproduktion in den Schwellenländern muss durch schuldenfinanzierten Konsum in den Volkswirtschaften der kapitalistischen Kernländer aufgefangen werden, besonders von den USA. Die Dynamik war von vorne herein instabil und ihre Anfälligkeit wurde in der Weltwirtschaftskrise von 2009 in vollem Maße sichtbar.
    Mittel- und langfristig gesehen erzeugt die neoliberale globale Restrukturierung neue welthistorische Bedingungen, die potentiell nicht nur die neoliberale institutionelle Struktur untergraben, sondern auch das gesamte kapitalistische System.
    Erstens hat mit der rapiden kapitalistischen Industrialisierung Chinas, Indiens und anderer „Schwellenländer“ der globale Rohstoffverbrauch und die Umweltzerstörung ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht, und das ökologische System der ganzen Welt nähert sich schnell dem Punkt des völligen Zusammenbruchs. In den kommenden Jahrzehnten muss die Menschheit entweder den Kapitalismus stürzen und ihn durch ein neues, gesellschaftlich und ökologisch nachhaltiges System ersetzen, oder die Menschheit wird mit dem Kapitalismus zusammen untergehen, wenn weltweite ökologische Katastrophen die Zivilisation zerstören. In dieser grundsätzlich neuen historischen Situation ist eine neue weltweite sozialistische Revolution eine unerlässliche historische Notwendigkeit des 21. Jahrhunderts.4
    Zweitens war das wichtigste gesellschaftliche Nebenprodukt der neoliberalen globalen Restrukturierung die massive Herausbildung neuer proletarisierter Arbeiterklassen in den semi-peripheren Ländern, besonders in China. Wenn die chinesische Arbeiterklasse wächst und lernt sich zu organisieren, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die chinesischen Arbeiter aus diesem Prozess als eine mächtige gesellschaftliche und politische Kraft hervorgehen, die wachsende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Rechte fordert.5
    Da sowohl der chinesische als auch der globale Kapitalismus sich unüberwindlichen ökologischen Grenzen gegenüber sieht, ist es unmöglich für den chinesischen Kapitalismus, die Forderungen der Arbeiterklasse zu erfüllen und gleichzeitig für die kapitalistische Akkumulation günstige Bedingungen aufrecht zu erhalten. Mit anderen Worten, gesellschaftliche Stabilität und ökologische Nachhaltigkeit sind nicht länger mit den Erfordernissen des kapitalistischen Profitstrebens und der Kapitalakkumulation zu vereinbaren. Also deuten die objektiven historischen Zusammenhänge auf den revolutionären Sturz des Kapitalismus hin als die grundsätzliche Lösung der Grundwidersprüche, mit denen China und die Welt konfrontiert sind.
    Eine erfolgreiche chinesische sozialistische Revolution könnte das globale Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Kapitalistenklassen und den Arbeiterklassen verändern und den Weg ebnen für den letztendlichen Sieg der weltweiten sozialistischen Revolution.
    Werden die Arbeiterklassen Chinas und der Welt sich schließlich als die Totengräber des Kapitalismus erweisen, wie Marx es vor eineinhalb Jahrhunderten vorhersagte? Das hängt nicht nur von den objektiven historischen Bedingungen ab, sondern auch davon, ob die Arbeiterklasse in der Lage sein wird, die objektiven historischen Bedingungen mit den gleichermaßen notwendigen subjektiven historischen Bedingungen in Einklang zu bringen.

Die Niederlage der Arbeiterklasse und der Triumph des chinesischen Kapitalismus


    Die Chinesische Revolution von 1949 beruhte auf der breiten Mobilisierung der überwältigen Mehrheit der chinesischen Bevölkerung, die sowohl von den Feudalherren als auch von ausländischen und heimischen Kapitalisten extrem ausgebeutet wurde. Die Kommunistische Partei Chinas kam nach 22 Jahren revolutionären bewaffneten Kampfes an die Macht. Der Mehrheit der Parteimitglieder war ernsthaft an den Interessen und dem Wohlergehen der arbeitenden Bevölkerung gelegen. Diese historischen Gegebenheiten bestimmten weitgehend den Grundcharakter des politischen und wirtschaftlichen Systems, das in China von den 1950ern bis zu den 1970ern herrschte.
    Selbst in Anbetracht seiner historischen Einschränkungen verdient das China der maoistischen Periode die Bezeichnung „sozialistisch“ in dem Sinne, als die Beziehungen zwischen den Klassen innerhalb Chinas vorteilhafter für die proletarisierten und nicht-proletarisierten Arbeiterklassen waren verglichen mit denen, die typischerweise in einem kapitalistischen Staat vorherrschen, besonders im Kontext von Peripherie und Semi-Peripherie.
    In den 1950ern wurden die wichtigen Produktionsmittel in Industrie und Landwirtschaft entweder verstaatlicht oder in Kollektiveigentum überführt. In den frühen 1960ern verstanden Mao Zedong und seine Genossen schon, dass eine erfolgreiche sozialistische Umgestaltung nicht nur die Veränderung der formalen Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel erfordert, sondern dass es noch wichtiger ist, die herrschenden Produktionsbedingungen zu verändern, um der Arbeiterklasse zu ermöglichen, direkte wirtschaftliche und politische Macht auszuüben.
    In den Städten genossen die Arbeiter in den verstaatlichten und vergesellschafteten Unternehmen eine breite Palette wirtschaftlicher und sozialer Rechte (Arbeitsplatzsicherheit, medizinische Versorgung, Bildung für die Kinder, Wohnen und Altersversorgung), die man zusammenfassend als „eiserne Reisschale“ bezeichnete. Die „eiserne Reisschale“ ermöglichte den Arbeitern praktisch eine gewisse Kontrolle der Produktionsprozesse. Dadurch hatten die Arbeiter die Macht, sich gegen Übergriffe des Managements zur Wehr zu setzen und bürokratische Vorrechte zu begrenzen.6
    Während der Großen Proletarischen Kulturrevolution (1966-1976) wurden die Produktionsbedingungen in der Industrie weiter umgestaltet. Viele Industrieunternehmen praktizierten die „Anshan Verfassung“ oder die Prinzipien, dass „die Arbeiter am Management beteiligt werden, die Kader körperliche Arbeit leisten und die Arbeiter, die Kader und die Techniker zusammenarbeiten, um technische Erneuerungen zu erzielen.“7
    Nach schwerwiegenden anfänglichen Rückschlägen stabilisierte sich das System der Volkskommunen in den ländlichen Gebieten. Zwischen den frühen 1960er und den späten 1970er Jahren steigerte sich die landwirtschaftliche Produktion, und der Lebensstandard der Landbevölkerung verbesserte sich stetig. Während der Kulturrevolution wurden das öffentliche Erziehungssystem und das System der medizinischen Versorgung in den ländlichen Gebieten stark ausgeweitet. Am Ende der 1970er gab es für bis zu 90% der ländlichen Bevölkerung im wesentlichen ein kostenloses Gesundheits- und Bildungssystem.8
    Zwischen 1960 und 1980 erhöhte sich in China die Lebenserwartung von 47 Jahren auf 66 Jahre (eine Steigerung von 19 Jahren). Im Vergleich dazu erhöhte sich in derselben Periode die weltweite durchschnittliche Lebenserwartung von 52 auf 63 Jahre (ein Anstieg von 9 Jahren), der Durchschnitt in Niedriglohnländern erhöhte sich von 42 auf 51 Jahre (eine Steigerung von 9 Jahren) und der Durchschnitt in Ländern mit mittlerem Einkommen stieg von 48 auf 61 Jahre (ein Anstieg von 13 Jahren).
    1980 war die Lebenserwartung in China genauso hoch wie in Südkorea (66 Jahre), höher als in Brasilien (62 Jahre) und in der Türkei (60 Jahre), und volle elf Jahre höher als in Indien (55 Jahre).9
    Trotz dieser Erfolge blieb China Teil der kapitalistischen Weltordnung und war gezwungen, den Naturgesetzen des Systems zu gehorchen. Der wirtschaftliche Mehrwert war in den Händen des Staates konzentriert, um Kapitalakkumulation und Industrialisierung voranzutreiben. Das wiederum schuf die materiellen Voraussetzungen, die neuen bürokratisch-technokratischen Eliten zu begünstigen, die immer mehr materielle Vorrechte und politische Macht verlangten. Die neuen Eliten fanden innerhalb der Kommunistischen Partei ihre politischen Repräsentanten, die sich zu „Vertretern des kapitalistischen Weges in den Führungsriegen der Partei“ entwickelten.
    Mao Zedong und seine revolutionären Genossen versuchten den Trend in Richtung kapitalistischer Restauration umzukehren, indem sie sich direkt an die Massen der Arbeiter, Bauern und Studenten wandten und sie mobilisierten. Politisch unerfahren und verwirrt, waren die Arbeiter und Bauern noch nicht dazu bereit, direkte wirtschaftliche und politische Macht auszuüben. Da die kapitalistische Gefahr zu jener Zeit erst latent vorhanden war, war es absolut nicht offensichtlich, wer die „Klassenfeinde“ waren. Nach Maos Tod 1976 führten die Vertreter des kapitalistischen Weges angeführt von Deng Xiaoping einen konterrevolutionären Staatsstreich durch und verhafteten die radikalen maoistischen Anführer. In den folgenden Jahren festigte Deng Xiaoping seine poltische Macht, und China befand sich auf dem Weg der kapitalistischen Umwandlung.
    Die so genannte „Wirtschaftsreform“ begann auf dem Lande. Die Volkskommunen wurden aufgelöst und die Landwirtschaft wurde privatisiert. In den Jahren danach wurden hunderte von Millionen landwirtschaftliche Arbeiter „überschüssig“ und waren damit der Ausbeutung durch heimische und ausländische kapitalistische Unternehmen ausgeliefert. In den frühen 1990ern hatten die Privatunternehmen die staatseigenen Betriebe als die größten Produzenten im industriellen Sektor überholt.
    In den 1990ern wurden massive Privatisierungen vorgenommen. Praktisch alle kleinen und mittelgroßen und einige große staatseigene Betriebe wurden privatisiert. Fast alle wurden für künstlich niedrige Preise verkauft oder einfach verschenkt. Die Nutznießer waren unter anderem Regierungsbeamte, Manager ehemaliger staatseigener Betriebe, Privatkapitalisten mit Verbindungen in der Regierung und multinationale Konzerne. Das Ergebnis war, dass eine massive „primitive Akkumulation“ abgeschlossen wurde und sich eine neue kapitalistische Klasse bildete, gegründet auf massivem Diebstahl staatlicher und gesellschaftlicher Werte. Gleichzeitig wurden mehrere zehn Millionen Arbeiter im staatlichen und kollektiven Sektor entlassen und der Verarmung überlassen.
    Die Kommunistische Partei erkannte die Legitimität dieser neuen kapitalistischen Klasse an. Auf dem XVI. Parteikongress (2002) wurde das Parteiprogramm verändert. Nach dem alten Programm verstand die Kommunistische Partei sich selbst als Vorhut der Arbeiterklasse und als Repräsentant der fundamentalen Interessen des Proletariats. Nach dem neuen Programm repräsentiert die Kommunistische Partei die Interessen der „breitesten Volksmassen“ genauso wie diejenigen der „am weitesten entwickelten Produktivkräfte“. Der Begriff der so genannten „am weitesten entwickelten Produktivkräfte“ wird gemeinhin als ein Euphemismus für die neue Kapitalistenklasse verstanden.
    Trotz der drei Jahrzehnte sozialistischer Industrialisierung von den 1950ern bis zu den 1970ern ist die chinesische proletarisierte Arbeiterklasse relativ klein geblieben. Die chinesische Arbeiterklasse war jung und politisch unerfahren. Ohne die Führung einer gereiften revolutionären marxistischen Partei war sie noch nicht in der Lage, sich als klassenbewusste Gruppierung zu organisieren. Einmal ihrer wirksamen politischen Führung beraubt, hat sie die Fähigkeit verloren, Widerstand zu leisten und den Kapitalismus zu bekämpfen.
    Chinas kapitalistische Umwandlung passte perfekt in das Schema einer neoliberalen globalen Restrukturierung. Dadurch, dass hunderte von Millionen niedrig bezahlter Arbeiter (gesund und gut ausgebildet nach Standards der „Dritten Welt“, dank der sozialistischen Erfolge) für die weltweite kapitalistische Ausbeutung verfügbar gemacht wurden, machte China sich selbst zu einem idealen Ziel für den globalen Kapitalfluss. Diese objektive historische Struktur ergab einen fruchtbaren Nährboden für schnelle Kapitalakkumulation innerhalb Chinas. Die erfolgreiche kapitalistische Akkumulation wiederum half der neuen Kapitalistenklasse, ihre Macht zu festigen.

Der Aufstieg der chinesischen Arbeiterklasse


    2002 veröffentlichte die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften (eine offizielle akademische Institution) einen „Forschungsbericht zur gegenwärtigen Struktur der gesellschaftlichen Schichten in China“. Der Bericht sollte eine Rechtfertigung für die neue Parteidoktrin liefern, dass die Partei der Repräsentant der „am weitesten entwickelten Produktivkräfte“ sein solle und behauptete, dass die marktorientierte „Reform und Offenheit“ zu schnellem Wachstum der „Mittelklasse“ in der chinesischen Gesellschaft geführt habe. Aber die Daten des Berichts zeigen in Wirklichkeit, dass die Proletarisierung die wichtigste gesellschaftliche Veränderung ist, die China während des Übergangs zum Kapitalismus erlebte.
    Von 1978 bis 1999 wuchs der Anteil des Proletariats an der Gesamtzahl der Beschäftigten (einschließlich der Industriearbeiterschaft, der Arbeiter im Dienstleistungssektor, der Büroangestellten und der Arbeitslosen) von 23 Prozent auf 43 Prozent, was einem Anstieg von 20 Prozentpunkten entspricht. In derselben Zeit vergrößerte sich der gemeinsame Anteil von verschiedenen Teilen der Petit Bourgeoisie (Akademiker, technische Berufe und die städtischen Selbständigen) von 4 Prozent auf 9 Prozent, was ein Anstieg von 9 Prozentpunkten ist. 1999 machte die Kapitalistenklasse (einschließlich der Privatunternehmer, der Manager und der staatlichen und gesellschaftlichen Manager) 4 Prozent der Beschäftigten aus und das ländliche Semi-Proletariat (die Landarbeiter) waren 44 Prozent.10
    Laut Statistischem Jahrbuch Chinas erhöhte sich der Anteil der nicht-landwirtschaftlichen Beschäftigung an Chinas Gesamtbeschäftigung von 31 Prozent 1980 auf 50 Prozent im Jahre 2000 und wuchs bis 2008 weiter auf 60 Prozent.11 Dieser Trend stimmt mit den Veränderungen in der Klassenstruktur im Forschungsbericht von 2002 überein. Der Bericht von 2002 legt dar, dass etwa 80 Prozent der nicht-landwirtschaftlichen Beschäftigten aus proletarisierten Lohnarbeitern bestand. Da die überwältigende Mehrheit der nicht-landwirtschaftlichen Arbeiter aus Lohnarbeitern besteht, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen um zu überleben, deutet das rasche Wachstum der nicht-landwirtschaftlichen Beschäftigung auf einen massiven Anstieg der proletarisierten Arbeiterklasse in China hin.
    Chinas schnelle Kapitalakkumulation beruhte auf einem Ausbeutungssystem, das erbarmungslos hunderte Millionen chinesischer Arbeiter ausbeutet. Nach den Daten der International Labour Organization war 2005 der monatliche Durchschnittslohn der chinesischen Industriearbeiter etwa 140 Dollar, verglichen mit 310 Dollar für die brasilianischen Arbeiter, 340 Dollar für mexikanische Arbeiter, 590 Dollar für polnische Arbeiter, 2.300 Dollar für die südkoreanischen Arbeiter und 2.900 Dollar für die amerikanischen Arbeiter. Der chinesische Lohn war 5 Prozent des US Niveaus.12
    Zwischen 1990 und 2005 verringerte sich in China der Anteil des Arbeitseinkommens am BIP (Bruttoinlandsprodukt) von 50 Prozent auf 37 Prozent.13 Diese Bestimmung des Arbeitseinkommens umfasst jedoch alle Arten von Lohneinkommen, einschließlich der hohen Gehälter, die wohlhabende kapitalistische Manager erhalten. Daher wird wahrscheinlich das wahre Ausmaß der Verarmung der Arbeiter unterschätzt.
    Nach Chinas offizieller Statistik haben sich die durchschnittlichen Preise von Konsumartikeln zwischen 1978 und 2005 um den Faktor 5 erhöht. Aber viele Menschen bezweifeln angesichts ihrer tagtäglichen persönlichen Beobachtungen die offiziellen Inflationsraten. Nach einer unabhängigen Studie, die öffentlich verfügbare Preiserhebungen in Beijing, Shanghai und Guangzhou verwendete, stiegen zwischen 1978 und 2005 die durchschnittlichen Nahrungsmittelpreise um das 10-fache, die Preise für Kleidung auf das 10 bis 50-fache, Kosten für Gesundheit und Bildung um das 50 bis 100-fache und Kosten für Wohnungen und Mietnebenkosten wie z.B. Energiekosten mindestens auf das 50-fache. Nach dieser Studie war die durchschnittliche kumulative Inflation zwischen 1978 und 2005 eher 15 bis 50-fach als 5-fach.14
    Ein durchschnittlicher chinesischer Arbeiter verdiente 2005 etwa 1.000 Yuan monatlich. Ein durchschnittlicher chinesischer Arbeiter verdiente 1978 etwa 50 Yuan monatlich. Wenn man die Kosten für Wohnen, Gesundheit und Bildung berücksichtigt (was den Arbeitern während der maoistischen Ära kostenlos zur Verfügung stand), könnte der reale Lebensstandard eines durchschnittlichen chinesischen Arbeiters 2005 niedriger sein als der eines durchschnittlichen Arbeiters 1978. Diese Stagnation oder Verringerung der realen Lebensstandards der Arbeiter fand statt, obwohl die chinesische Wirtschaft laut offizieller Statistik in dieser Periode um das 19-fache gewachsen ist.
    Etwa 70 Prozent der Industriearbeit und 80 Prozent der Bauarbeit wird von Wanderarbeitern geleistet. Seit den frühen 1980ern sind etwa 150 Millionen Wanderarbeiter auf der Suche nach Beschäftigung vom Lande in die städtischen Bezirke gezogen. Chinas Exportproduktion beruht zum großen Teil auf der rücksichtslosen Ausbeutung der Wanderarbeiter.
    Eine Studie von 2003 über die Arbeitsbedingungen im Perlflussdelta (das Gebiet umfasst Guangzhou, Shenzhen und Hong Kong), einem Zentrum von Chinas Exportproduktion, ergab, dass etwa zwei Drittel der Arbeiter länger als acht Stunden täglich arbeiteten. Die tägliche Durchschnittsarbeitszeit belief sich auf zehn Stunden. Einige Arbeiter mussten bis zu 16 Stunden ununterbrochen arbeiten. Mehr als 70 Prozent der Arbeiter hatten keine freien Wochenenden.
    Eine andere Studie ergab, dass die kapitalistischen Manager zur Disziplinierung der Arbeiter regelmäßig körperliche Bestrafung einsetzen. Die Manager verhängten auch willkürlich erfundene Strafen, die den Arbeitern mindestens 15 Prozent ihrer (ohnehin sehr niedrigen) „normalen Bezahlung“ raubten.
    Offizielle Quellen der chinesischen Regierung belegen, dass etwa 200 Millionen chinesische Arbeiter unter gefährlichen Arbeitsbedingungen arbeiten. Es gibt in China etwa 700.000 schwere Arbeitsunfälle pro Jahr, bei denen über 100.000 Menschen sterben.15
    Im Kommunistischen Manifest schreibt Marx, dass der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Kapitalisten mehrere Entwicklungsstufen durchlief. Zunächst wehrten sich Arbeiter individuell gegen den Kapitalisten, der sie unmittelbar ausbeutete. Auf dieser Stufe bildeten die Arbeiter „eine unzusammenhängende Masse, die über das ganze Land verstreut ist“, „gespalten durch die Konkurrenz untereinander“.
    Aber durch die Entwicklung der kapitalistischen Industrie nahm die Zahl der Arbeiter zu und konzentrierte sich in größeren Massen. Die Stärke der Arbeiter wuchs und sie begannen Gewerkschaften aufzubauen, um als kollektive Kraft gegen die Kapitalisten zu kämpfen. Zahlreiche lokale Auseinandersetzungen wurden in einen nationalen Kampf zentralisiert. Dieselbe Gesetzmäßigkeit findet sich heute in China wieder.
    Da immer mehr Wanderarbeiter sich in den Städten niederlassen und sich immer häufiger eher als Lohnarbeiter denn als Bauern begreifen, entsteht eine neue Generation proletarisierter Arbeiter mit wachsendem Klassenbewusstsein. Sowohl in offiziellen Regierungsdokumenten als auch in den Massenmedien wird der Aufstieg der „Wanderarbeiter der zweiten Generation“ erwähnt.
    Die chinesischen Massenmedien sprechen von derzeit etwa 100 Millionen Wanderarbeitern der zweiten Generation. Sie sind nach 1980 geboren. Sie sind bald nach dem Abschluss der High School oder Mittelschule in die Städte gezogen. Die meisten kannten sich in der Landwirtschaft nicht aus. Sie identifizierten sich mehr mit der Stadt als mit dem Land. Verglichen mit der „ersten Generation“ finden wir bei den Wanderarbeitern der zweiten Generation eine bessere Bildung, sie erwarten eine bessere Beschäftigung, verlangen einen besseren materiellen und kulturellen Lebensstandard und sind weniger bereit sich mit schlechten Arbeitsbedingungen abzufinden.16
    Die kapitalistische Entwicklung schafft selbst die objektiven Bedingungen für das Anwachsen der Organisationen und Kämpfe der Arbeiterklasse. Nach vielen Jahren schneller Akkumulation neigt sich die riesige Reservearmee billiger Arbeitskräfte in Chinas ländlichen Gebieten dem Ende zu. Gegen Ende der letzten Expansion der Weltwirtschaft 2007 und 2008 meldete Chinas Exportindustrie breitflächig Mangel an Arbeitskräften. Die weltweite Rezession von 2009 führte zu einer zeitweiligen Entspannung auf dem Arbeitsmarkt. Als im Jahre 2010 die chinesische Wirtschaft wieder zu schnellem Wachstum zurückfand, entstand in den Küstenprovinzen wieder ein Mangel an Arbeitskräften. Die Guangdong Provinz (in der sich das Perlflussdelta befindet) allein meldete einen Mangel von 2 Millionen Arbeitern. Um Arbeiter anzulocken, haben viele Städte den offiziellen Mindestlohn erhöht.
    Im Mai 2010 legte ein Streik von fast 2.000 Arbeitern die Produktion im Honda Getriebewerk in Südchina lahm. Diesem Streik folgten zahlreiche andere Streiks in Honda und Toyota Fabriken. Im Sommer 2010 trafen Dutzende von Streiks Chinas Auto-, Elektronik- und Textilindustrie. Die etablierten chinesischen Wissenschaftler zeigen sich besorgt, dass China vielleicht eine neue Periode heftiger Streiks bevorsteht, die Chinas System billiger Arbeitskräfte beenden und Chinas „soziale Stabilität“ bedrohen könnte. 17
    In den kommenden Jahren ist davon auszugehen, dass wegen Chinas demografischer Entwicklung sich die Verhandlungsposition der chinesischen Arbeiter verbessern wird. Nach Jahrzehnten ständigen Wachstums wird die Gesamtzahl der Erwerbsfähigen in China (im Alter zwischen 15 und 64 Jahren) 2012 voraussichtlich bei etwa 970 Millionen ihren Höchstwert erreichen und dann bis 2020 langsam auf etwa 940 Millionen zurückgehen. Die Erwerbsfähigen im Haupterwerbsalter (im Alter zwischen 19 und 22 Jahren), aus denen die meisten billigen ungelernten Arbeiter in der Industrie rekrutiert werden, werden drastisch von etwa 100 Millionen im Jahre 2009 auf etwa 50 Millionen 2020 zurückgehen.
    Auf der anderen Seite wird die Bevölkerung im Alter von 65 Jahren und darüber voraussichtlich schnell von 110 Millionen im Jahre 2010 auf 230 Millionen 2030 anwachsen. Das Verhältnis zwischen der Bevölkerung im Rentenalter und den Erwerbsfähigen wird von 1:9 auf 1:3 ansteigen.18
    Die rasche Abnahme der Erwerbsfähigen im Haupterwerbsalter führt voraussichtlich zu einem verbreiteten Arbeitskräftemangel und zu einer dramatischen Zunahme der Verhandlungsstärke der jungen Arbeiter, was sie ermutigen wird, stabilere Arbeiterorganisationen aufzubauen. Andererseits wird das schnelle Anwachsen des älteren Bevölkerungsanteils einen erhöhten Druck auf die chinesische Führung ausüben, die Ausgaben für Renten und medizinische Versorgung anzuheben. Das könnte die chinesische Regierung dazu zwingen, die Steuern für die Kapitalisten zu erhöhen. Wenn sie das nicht tut, könnte es dazu führen, dass hunderte Millionen alter Menschen in Armut absinken mit der Folge einer allgemeine Legitimitätskrise und sozialer Rebellion.
    Abbildung 1 vergleicht den Anteil von nicht-landwirtschaftlicher Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung in China, Südkorea, Brasilien, Ägypten und in mehreren anderen wichtigen semi-peripheren Ländern zwischen 1980 und 2008. Der Anteil der Beschäftigten im nicht-landwirtschaftlichen Bereich wird stellvertretend für den Grad der Proletarisierung in den betreffenden Ländern benutzt.
    Von der zweiten Hälfte der Zeit zwischen den 1980ern und den 1990ern organisierten die südkoreanischen Arbeiter kämpferische Auseinandersetzungen, die zu einer erheblichen Stärkung der Arbeiterrechte führten und zur Demokratisierung Südkoreas beitrugen. Die Arbeiterpartei Brasiliens wurde 1980 nach einigen größeren Streiks der Arbeiter gegründet. In den 1990ern war die Arbeiterpartei schon zu einer führenden politischen Kraft in der brasilianischen Politik geworden. In beiden Ländern scheint die Organisierung der Arbeiterklasse und ihre Kampfbereitschaft einen starken Impuls bekommen haben, als die Beschäftigung im nicht-landwirt­schaftlichen Bereich auf einen Wert von 70-80 Prozent stieg. Die ägyptische Arbeiterklasse spielte bei der kürzlichen revolutionären Bewegung, die zum Ende des Mubarak-Regimes führte, eine bedeutende Rolle. Ägyptens nicht-landwirtschaftlicher Beschäftigtenanteil lag in den letzten Jahren bei 70 Prozent.
    Der Anteil der Beschäftigten in den nicht-landwirtschaftlichen Sektoren liegt in China jetzt bei etwa 60 Prozent. Wenn sich der Trend der Jahre 1980 bis 2008 fortsetzt, in denen der Anteil der nicht-landwirtschaftlichen Beschäftigung um etwa einen Prozentpunkt pro Jahr gestiegen ist, wird der Anteil der nicht-landwirtschaftlichen Beschäftigung die kritische Marke von 70 Prozent um das Jahr 2020 überschreiten.
    Natürlich darf man keine mechanistische Interpretation der Beziehung zwischen dem Grad der Proletarisierung und der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse vornehmen. Darüber hinaus sind die Daten unterschiedlicher Staaten nicht uneingeschränkt vergleichbar. So arbeiten zum Beispiel in Brasilien und in Ägypten viele nicht-landwirtschaftliche Arbeiter im extrem ausbeuterischen informellen Sektor und wohnen in städtischen Elendsvierteln, während in Südkorea die informellen Arbeiter eine weniger wichtige Rolle spielen. Nichtsdestoweniger passen die Erfahrungen in diesen Ländern zu Marxens Theorie, dass kapitalistische Entwicklung unvermeidlich zu einer Proletarisierung der Arbeiter führt und dass auf einer bestimmten Stufe der kapitalistischen Entwicklung die proletarisierte Arbeiterklasse wirtschaftliche und politische Kämpfe von zunehmender Schlagkraft organisieren wird.
    In Südkorea und Brasilien haben die Kämpfe der Arbeiterklasse bedeutende wirtschaftliche, soziale und poltische Veränderungen herbeigeführt. Aber in beiden Staaten haben es die kapitalistischen Klassen geschafft, die Arbeiterbewegung zu kooptieren. In beiden Staaten haben sowohl die Arbeiterbewegungen als auch die Parteien der Arbeiterklasse das Ziel aufgegeben, den Kapitalismus zu stürzen und waren zufrieden damit, innerhalb des kapitalistischen institutionellen Rahmens mehr wirtschaftliche und politische Rechte anzustreben.
    Wenn die chinesische Arbeiterklasse in ein oder zwei Jahrzehnten als mächtige gesellschaftliche und politische Kraft in Erscheinung treten wird, ist die Hauptfrage, welche politische Richtung die chinesische Arbeiterbewegung einschlagen wird. Wird die chinesische Arbeiterbewegung in die Fußstapfen der koreanischen und brasilianischen Arbeiterbewegungen treten und sich damit begnügen, von der Kapita­listenklasse nur die Anerkennung ihrer „legitimen Interessen“ innerhalb des kapitalistischen Systems zu verlangen? Die gegenwärtige offizielle chinesische Regierungspolitik zielt auf den Aufbau einer so genannten „harmonischen Gesellschaft“ mit Kompromissen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen. Teile der chinesischen herrschenden Eliten rufen nach einer „politischen Reform“, um die Herausforderung durch die Arbeiterklasse zu verwässern und in eine neue Richtung zu drängen, indem eine bürgerliche Demokratie westlicher Prägung eingeführt wird.19
    Oder wird die chinesische Arbeiterbewegung einen weltgeschichtlichen Durchbruch schaffen, den revolutionären sozialistischen Weg einschlagen und sich endgültig von der herrschenden Gesellschaftsform lossagen? Die Antworten auf diese Fragen hängen einerseits von den objektiven geschichtlichen Bedingungen ab, nach denen sich entscheidet, ob die chinesische Arbeiterklasse an die kapitalistische Akkumulation in China angepasst werden kann, und andererseits von den subjektiven geschichtlichen Fakten, nach denen sich entscheidet, ob die chinesische Arbeiterklasse ihre unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen hinter sich lassen kann und ihr fundamentales Klasseninteresse an der zukünftigen sozialistischen Revolution erkennt.

Das sozialistische Erbe: Die Arbeiterklasse im staatlichen Sektor


    In der maoistischen sozialistischen Epoche erfreuten sich die chinesischen Arbeiter einer breiten Palette wirtschaftlicher, sozialer und politischer Rechte. Die chinesischen Arbeiter waren nicht nur (weitgehend) gegen Übergriffe der Bürokratie und des Managements geschützt, sie waren auch in wirtschaftliche Entscheidungen und politische Veränderungen eingebunden, die die Macht der Bürokratie und der technokratischen Eliten begrenzten. Die chinesischen Arbeiter genossen als Klasse ein Maß an Macht und Würde, das sich der einfache Arbeiter in einem kapitalistischen Staat nicht vorstellen kann (besonders in der Peripherie und der Semi-Peripherie).
    Trotz dieser großartigen historischen Errungenschaften war die chinesische Arbeiterklasse jung und politisch unerfahren. Nach Maos Tod war sie ohne politische Führung. Während der Privatisierungen in den 1990ern wurden mehrere 10 Millionen Arbeiter im staatlichen Sektor entlassen und kämpften gegen die Armut. Viele ehemalige Arbeiter des staatlichen Sektors (die „alten Arbeiter“) haben seitdem gemeinsam Kämpfe gegen Privatisierungen organisiert und wirkungsvolle Kompensationen für die entlassenen Arbeiter gefordert. Ihre Kämpfe wirkten sich nicht nur auf die Entlassenen aus, sondern auch auf die noch in staatlichen Betrieben Beschäftigten. Diese einzigartige historische Erfahrung trug dazu bei, dass nicht nur das Klassenbewusstsein wuchs, sie sorgte auch für ein erhebliches Maß an gesellschaftlichem Bewusstsein in einem besonderen Teil der proletarisierten Arbeiterklasse Chinas – im Proletariat des staatlichen Sektors.
    Nach den Worten eines führenden chinesischen Arbeiteraktivisten hat die chinesische Arbeiterklasse (im staatlichen Sektor) ein „relativ vollständiges Klassenbewusstsein“ entwickelt, verglichen mit den Arbeiterklassen anderer kapitalistischer Staaten. Wegen der Erfahrung von drei Jahrzehnten Sozialismus (von den 1950ern bis in die 1970er) haben chinesische Arbeiter verstanden, was es heißt, „Herr der Gesellschaft“ zu sein. Sie wurden sich ihres eigenen großen Potentials als Kraft zu gesellschaftlicher Veränderung bewusst. Wegen der Erfahrung von drei Jahrzehnten Kapitalismus (von den 1980ern bis in die 2000er) haben die chinesischen Arbeiter etwas über kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung gelernt und dass der Kapitalismus den Arbeitern das Leben zur „Hölle“ macht.20
    Wegen dieser historischen Erfahrung sind die Kämpfe der im chinesischen staatlichen Sektor Beschäftigten oft nicht nur auf die Erfüllung unmittelbarer wirtschaftlicher Forderungen gerichtet. Viele Arbeiteraktivisten verstehen, dass ihre gegenwärtigen Lebensbedingungen nicht nur auf die Ausbeutung durch individuelle Kapitalisten zurückzuführen sind, sondern auch, auf einer viel grundsätzlicheren Ebene, auf die geschichtliche Niederlage der Arbeiterklasse in einem wichtigen Klassenkampf zurückzuführen sind, die einen (zeitweiligen) Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus zur Folge hatte.
    2004 wurde in der Stadt Chongqing ein staatseigener Automotorenhersteller von einem amerikanischen Konzern übernommen. Kurz nach der Privatisierung der Fabrik zwang der ausländische Manager die örtliche Regierung, Massenentlassungen zuzustimmen. Seitdem kämpfen die entlassenen Arbeiter (in Form von Appellen und Protesten) um Kompensationen.
    Ein Führer der Entlassenen betonte, dass im Sozialismus „die Arbeiter Herren der Fabrik waren. Sie waren Brüder und Schwestern in einer Klasse, und Massenentlassungen hätten nicht geschehen können. Aber nach der Privatisierung wurden die Arbeiter zu ‚Lohnarbeitern‘ heruntergestuft. Sie waren nicht länger die Herren, und das ist der wahre Grund der Massenentlassung.“ Nach diesem Arbeiterführer sollte der Kampf der Arbeiter sich nicht auf individuelle Fälle beschränken oder mit Zugeständnissen zu Einzelforderungen zufrieden geben. Das „fundamentale Interesse“ der Arbeiter besteht in der Wiederherstellung der „gesellschaftlichen Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel“.21
    Viele jetzt in staatlichen Betrieben Beschäftigte sind die Kinder der „alten Arbeiter“, oder sie haben mit ihnen zusammen gearbeitet, oder sie wohnen in den selben Arbeitervierteln. Diese Arbeiter sind geprägt von den Kämpfen der alten Arbeiter und ihrer politischen Erfahrung. Der Anti-Privatisierungskampf der Tonghua Stahlarbeiter 2009 zeigte das deutlich.
    Tonghua Steel war eine staatliche Stahlfabrik in Tonghua in der Jilin Provinz. 2004 wurde Wang Min zum Gouverneur der Jilin Provinz ernannt. Wang war ein enthusiastischer Verfechter von Privatisierungen. Als Parteisekretär der Stadt Suzhou (im Yangtse-Delta) privatisierte er die Rekordzahl von 1.034 staatlichen Betrieben in einem Jahr. Wang war entschlossen, im seinem ersten Amtsjahr 816 staatliche Betriebe in Jilin zu privatisieren.
    Tonghua Steel wurde 2005 privatisiert. Der staatliche Vermögenswert von 10 Milliarden Yuan wurde auf nur 2 Milliarden Yuan festgelegt. Jianlong, ein mächtiges Privatunternehmen mit Verbindungen zu hochrangigen Funktionären in Beijing, zahlte am Ende nur 800 Millionen Yuan und übernahm die Fabrik. Nach der Übernahme wurde 24.000 der 36.000 dort Beschäftigten entlassen. Arbeiter an „gefährlichen Arbeitsplätzen“ hatten immer mehr als 3.000 Yuan monatlich verdient. Nach der Privatisierung wurde ihr Lohn auf etwa 1.000 Yuan pro Monat reduziert. Jianlong verwendete das „taiwanesische“ Management mit hochgradig autoritär strukturierter Hierarchie. Die Manager bekamen hohe Löhne. Ein Manager der mittleren Stufe hatte ein Einkommen von 300.000 Yuan im Monat. Die Manager konnten den Arbeitern nach Gutdünken unterschiedliche Strafen auferlegen.
    2007 begannen die Proteste der Tonghua Steel Arbeiter. Während der Protestaktionen übernahm „Meister Wu“, ein über siebzigjähriger Arbeiter aus der Mao-Ära, die Führung. Im Februar 2009 schaltete die Firma die Heizung in den Wohnvierteln der entlassenen Arbeiter ab. Meister Wu hielt mehrere Wochen lang öffentliche Reden auf Arbeiterversammlungen und machte viele Plakate. Wu machte den Arbeitern deutlich, das es eigentlich nicht um die Heizung oder ein anderes Einzelproblem ging, sondern um Privatisierung. „Was die Arbeiter hassten war die politische Linie, die zu Privatisierungen führte.“ Arbeitervertreter trafen sich und diskutierten regelmäßig über Strategien der Organisierung.
    Im Juli 2009 organisierten die Arbeiter in großem Maßstab Demonstrationen und bestreikten die Fabrik. Der oberste Manager von Jianlong drohte mit der Entlassung aller Arbeiter. Die aufgebrachten Arbeiter schlugen ihn tot. Der Provinzgouverneur und tausende bewaffnete Polizisten waren anwesend, aber wagten nicht einzugreifen. Danach musste die Jilin Provinz den Privatisierungsplan aufgeben.
    Der Sieg der Tonghua Steel Arbeiter war ein leuchtendes Vorbild für Arbeiter in vielen anderen Teilen Chinas. Arbeiter in zahlreichen anderen Stahlfabriken protestierten ebenfalls gegen Privatisierungen und zwangen die örtlichen Regierungen zur Aufgabe ihrer Pläne. Arbeiteraktivisten in anderen Provinzen sahen den Tonghua-Sieg als ihren eigenen Sieg an und bedauerten, dass „zu wenige Kapitalisten getötet worden waren“.
    Im Unterschied zu den 1990ern haben bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen die Arbeiter im staatlichen Sektor keine Illusionen hinsichtlich der Rolle der Regierung mehr. Die Arbeiter haben erkannt, dass die Regierung im Auftrag der Kapitalistenklasse handelt. Die Arbeiter haben ein eigenständiges politisches Bewusstsein erlangt. Sie lehnen die bürgerliche Ideologie ab, dass „Privateigentum effizienter als öffentliches Eigentum ist“. Sie haben verstanden, dass die Arbeiter ihre Rechte verloren haben und verarmt sind, weil das sozialistische System nicht mehr existiert. Bei vielen Gelegenheiten haben sie die politische Parole ausgegeben: „Kämpft unter dem Banner der Gedanken von Mao Zedong“.22
    Nach jahrelanger massiver Privatisierungen ist der Anteil des staatlichen Sektors an Chinas Industrieproduktion auf weniger als 30 Prozent zurückgegangen. Trotzdem dominiert er weiterhin zahlreiche Schlüsselindustrien. 2008 ergaben sich folgende Daten für staatseigene Betriebe und Betriebe mit staatlicher Beteiligung: 59 Prozent bei der Kohleförderung und weiterer Kohleverarbeitung, 96 Prozent bei der Förderung von Erdöl und Erdgas, 72 Prozent bei der Erdölverarbeitung und Koksproduktion, 42 Prozent bei Verhüttung und Walzen von Eisen und Stahl, 45 Prozent bei der Herstellung von Transporteinrichtungen, 92 Prozent bei der Produktion und Verteilung von Strom und Wärme.23
    Obwohl der staatliche Sektor nur noch 20 Prozent aller Industriearbeiter beschäftigt, sind es immer noch etwa 20 Millionen Arbeiter, die im Energiesektor und in der Schwerindustrie konzentriert sind. Beide sind für die chinesische kapitalistische Wirtschaft von strategischer Bedeutung. Bei der zukünftigen Verschärfung der Kämpfe der chinesischen Arbeiterklasse (die Verschärfung wird als Folge der objektiven Tendenz zur Proletarisierung im Kapitalismus unweigerlich stattfinden) könnten die Arbeiter in den staatlichen Betrieben durch ihre Kontrolle der Schlüsselindustrien eine überproportional große wirtschaftliche und politische Macht ausüben. Es ist vorstellbar, dass ein Generalstreik der Arbeiter im Kohlebergbau die gesamte chinesische Wirtschaft zum Stillstand bringen und die Kapitalistenklasse zum Aufgeben zwingen könnte.
    Das Wichtigste ist, dass die im staatlichen Sektor beschäftigten Chinesen von ihrer einzigartigen geschichtlichen und politischen Erfahrung profitieren können. Mit Hilfe von revolutionären sozialistischen Intellektuellen könnten die Arbeiter des staatlichen Sektors die Führung der gesamten chinesischen Arbeiterklasse übernehmen und der zukünftigen chinesischen Arbeiterbewegung eine klare revolutionäre sozialistische Richtung geben.

Die Unrechtmäßigkeit des chinesischen kapitalistischen Reichtums


    Nach drei Jahrzehnten kapitalistischer Umwandlung ist China von einem der weltweit gerechtesten Länder zu einem der weltweit ungerechtesten geworden. Nach dem „Gini“-Koeffizienten, einem technischen Maß der Ungleichheit, herrscht in China augenblicklich mehr Ungleichheit als in den Vereinigten Staaten und Indien.
    Nach Daten der Weltbank waren 2005 31 Prozent des Gesamteinkommens in China in Händen der wohlhabendsten 10 Prozent der Haushalte, und auf die wohlhabendsten 20 Prozent der Haushalte entfielen 48 Prozent des Gesamteinkommens. Die ärmsten 10 Prozent der Haushalte hatten nur 2 Prozent des Gesamteinkommens. Die ärmsten 60 Prozent der Haushalte hatten gemeinsam nur einen Anteil von 30 Prozent des Einkommens.24
    Die ungleiche Verteilung von Vermögen ist noch empörender. Nach dem „Weltvermögensbericht“ von 2006 kontrollierten 0,4 Prozent der reichsten Familien 70 Prozent des nationalen Reichtums Chinas. 2006 gab es etwa 3.200 Menschen, die über ein Vermögen von mehr als 100 Millionen Yuan (etwa 15 Millionen US Dollar) verfügten. Von ihnen waren 2.900 oder 90 Prozent Kinder von oberen Regierungsbeamten oder Parteifunktionären. Sie zusammen hatten geschätztes Vermögen von 20 Billionen Yuan, was etwa genauso viel ist wie Chinas BIP von 2006.25
    Die Herkunft der chinesischen Kapitalistenklasse liefert die Erklärung dafür, dass ein großer Teil des kapitalistischen Reichtums in China vom Ausplündern des Staates und Diebstahl von Gemeineigentum, das in der sozialistischen Ära geschaffen worden war, herrührt. In der Bevölkerung herrscht die Meinung vor, dass das unrechtmäßig geschah.
    Nach einer früheren Schätzung erreichte der kumulierte Verlust an staatlichem Eigentum in den 1980ern den Wert von etwa 500 Milliarden Yuan, was soviel war wie etwa 20 Prozent des chinesischen Staatseigentums von 1992. Yang Fan (ein bekannter Nationalökonom in China) kommt zu dem Ergebnis, dass durch die Privatisierungen und die Liberalisierung des Marktes etwa 30 Billionen Yuan an Staats- und Gesellschaftseigentum an Kapitalisten mit guten Verbindungen zur Regierung übergingen.26
    Ein neuerer Forschungsbericht des Chinesischen Forschungsinstituts zur Wirtschaftsreform (China Economic Reform Research Institute) ergab 2008, dass das so genannte „graue Einkommen“ 5,4 Billionen Yuan oder 18 Prozent des chinesischen BIP ausmachte. Die Verfasser des Berichtes glaubten, dass der größte Teil des „grauen Einkommens“ aus Korruption und Diebstahl von Gemeinschaftseigentum stammt.27
    In der Weltwirtschaftskrise von 2008-2009 verfolgte der chinesische Premierminister Wen Jiabao die Politik des „Amerika retten bedeutet China retten“ und nutzte Chinas gewaltige Devisenreserven für den Kauf amerikanischer Vermögenswerte, um dem US-Kapitalismus durch die Krise zu helfen. Ungeachtet seiner so genannten „für das Volk“-Reden hat Wen die Privatisierung der verbleibenden staatlichen Unternehmen aktiv vorangetrieben und Grundstücksspekulationen Vorschub geleistet.
    Wens Sohn Wen Yunsong soll Eigentümer des größten Private Equity Unternehmens in China sein. Von seiner Frau sagt man, sie kontrolliere die chinesische Schmuckindustrie. Schätzungen zufolge besitzt Wens Familie 30 Milliarden Yuan (etwa 4,3 Milliarden US Dollar), und von Wen wird behauptet, er sei der reichste Premierminister der Welt.
    Zhu Rongji war in den 1990ern Premierminister. In seiner Amtszeit gab es massive Privatisierungen von Staatsunternehmen und mehrere zehn Millionen Arbeiter wurden entlassen. Er war ebenfalls für Chinas Verhandlungen mit den USA verantwortlich, die zu Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO führten, unter der Bedingung, dass China vollkommen in eine exportorientierte kapitalistische Wirtschaft transformiert wird. Zhus Familie wird bedeutender Einfluss auf Chinas Finanzsektor zugeschrieben. Ihr Vermögen wird auf 5 Milliarden Yuan geschätzt.
    Jiang Zemin war der ehemalige Präsident und Generalsekretär der Partei. Unter seiner Führung vollendete die Kommunistische Partei ihren Wandel von der „Vorhut der Arbeiterklasse“ zum „Repräsentanten der am weitesten fortgeschrittenen Produktivkräfte“ (d.h. Vertreter der Kapitalistenklasse). Jiangs Familie soll 7 Milliarden Yuan besitzen.
    Jiangs politischem Verbündeten Zeng Qinghong wird nachgesagt, er kontrolliere Chinas Erdölindustrie und petrochemische Industrie. Von Zengs Sohn wird berichtet, er habe bei Grundstücksspekulationen große Vermögenswerte angehäuft. Zengs Familie soll über 12 Milliarden Yuan verfügen.28
    Die allgegenwärtige Korruption hat nicht nur der Legitimität des chinesischen Kapitalismus schweren Schaden zugefügt, sondern auch die Fähigkeit der herrschenden Klasse unterminiert, in ihrem eigenen Klasseninteresse zu handeln. Der prominente etablierte Soziologe Sun Liping schrieb neulich, dass „die chinesische Gesellschaft mit zunehmendem Tempo zerfalle“. Laut Sun wird das Handeln der Angehörigen der chinesischen herrschenden Eliten völlig von ihren persönlichen kurzfristigen Interessen bestimmt. Niemand hat die langfristigen Interessen des chinesischen Kapitalismus im Auge.
    Die Zentralregierung kann die Regierungen auf Provinzebene und auf lokaler Ebene nicht mehr effektiv kontrollieren, und auf keiner Regierungsebene existiert eine wirkungsvolle Kontrolle über die eigenen Ämter. Auf jeder Stufe der Verwaltung hat praktisch die Verfolgung der eigenen Interessen Vorrang. Laut Sun ist die Korruption „außer Kontrolle“ und ist „unregierbar“ geworden.29

Die Proletarisierung des Kleinbürgertums


    In den 1980ern und 1990ern diente das Kleinbürgertum (die Akademiker und technischen Berufe) als wichtige gesellschaftliche Basis für die prokapitalistische „Politik der Reform und der Öffnung“. Ohne Unterstützung durch das Kleinbürgertum wäre es viel schwieriger für die neu entstehende kapitalistische Klasse gewesen, sich in ihrem Klassenkampf gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen.
    Obwohl die so genannte „Demokratiebewegung“ von 1989 ihre Wurzeln in realen gesellschaftlichen Widersprüchen hatte und das wachsende Ressentiment der städtischen Arbeiterklasse gegen die kapitalistische „Reform“ teilweise widerspiegelte, wurde sie doch durch das Kleinbürgertum dominiert und von konterrevolutionären neoliberalen Intellektuellen angeführt, die für massive Privatisierungen und einen schnellen Übergang zum Kapitalismus waren. Der einzige bedeutende politische Unterschied zwischen diesen neoliberalen Intellektuellen und der Führung der Kommunistischen Partei hatte damit zu tun, wie die Gewinne aus der kapitalistischen Umwandlung zu verteilen waren.30
    Inzwischen zeigt sich jedoch, dass der rasche Anstieg der kapitalistischen Ungleichheit nicht nur zur Verarmung von hunderten Millionen Arbeitern geführt hat, sondern auch die „Träume von der Mittelklasse“ bei vielen Angehörigen des Kleinbürgertums zerstört hat.
    In den 1980ern bot ein Hochschulabschluss jungen Menschen aus unteren gesellschaftlichen Klassen die Gelegenheit zu sozialem Aufstieg. Am Ende der 1990er war die Hochschulbildung in China praktisch privatisiert. Die Einschreibungen in den Universitäten stiegen von 2000 bis 2010 um das sechsfache, während die staatlichen Ausgaben für Hochschulausbildung sich nicht erhöhten. Die Zusatzkosten mussten die Studenten zum großen Teil selber tragen. Die chinesischen Universitäten hatten sich im Wesentlichen in gewinnbringende Institutionen verwandelt.
    Der gewaltige Anstieg bei Hochschulabsolventen hatte eine drastische Entwertung ihrer Arbeitskraft zur Folge. Laut offiziellen Statistiken war etwa ein Viertel der Hochschulabsolventen von 2010 arbeitslos. Bei den Absolventen des vorhergehenden Jahres fanden etwa 15 Prozent keine Arbeit.
    Die Universitätsabgänger mit „Beschäftigung“ mussten oft eine Bezahlung akzeptieren, die nicht über der von ungelernten Wanderarbeitern lag. Etwa eine Million Graduierte (bei etwa 6 Millionen pro Jahr insgesamt) sollen zu den so genannten „Ameisenkolonien“ gehören, was bedeutet, dass sie in den Vororten der größeren chinesischen Städte wie in Elendsvierteln wohnen.31
    Gestiegene Kosten für Wohnen, Gesundheit und Bildung haben den wirtschaftlichen und sozialen Status der jetzigen und potentiellen chinesischen Kleinbürger noch weiter untergraben, so dass sie sich gezwungen sehen, ihre Hoffnung auf einen „mittelständischen“ Lebensstandard aufzugeben.
    Im Internet sprach ein Hochschulabsolvent über sein „elendes Leben“ mit einem Monatseinkommen von 4.000 Yuan. Er machte an der Fudan Universität (sie gehört zu den führenden Universitäten Chinas) in Shanghai seinen Abschluss und hat eine Büroarbeit bei einem Privatunternehmen in der Stadt Suzhou (eine prosperierende Industriestadt nahe Shanghai). Er gibt an, ihm bliebe nach allen Abzügen und Steuern ein Jahreseinkommen von 50.000 Yuan. Im Vergleich dazu lag der durchschnittliche Jahreslohn vor Steuern für Chinas formellen Sektor im Jahre 2008 bei etwa 29.000 Yuan.32 Sein Gehalt legt nahe, dass er zu den Glücklicheren unter den Millionen Hochschulabsolventen gehört.
    Der Hochschulabsolvent gab folgende regelmäßige jährliche Ausgaben an: Kosten für Nahrungsmittel etwa 6.000 Yuan, Miete und Nebenkosten (für eine 40 qm Wohnung) etwa 20.000 Yuan, Busfahrscheine, Festnetztelefon und Mobiltelefon kosten etwa 4.000 Yuan, für Sommer- und Winterkleidung fallen etwa 6.000 Yuan an, weitere Ausgaben (z.B. Ausgaben für das Internet, Buchkäufe, Fahrtkosten für Elternbesuche und Geschenke für Eltern und Verwandte) schlagen mit etwa 9.000 Yuan zu Buche.
    Seine jährlichen „Ersparnisse“ betragen etwa 5.000 Yuan, was bei zwei Krankenhausaufenthalten im Jahr verbraucht würde. Als er auf die 30 zuging, stellte er fest, dass er es sich nicht leisten konnte, eine Wohnung zu kaufen, zu heiraten und ein Kind großzuziehen. Nach jahrelanger Arbeit hatte er 30.000 Yuan gespart, aber der Durchschnittspreis für eine Wohnung in Suzhou war etwa 6.000 Yuan pro Quadratmeter. Er entschloss sich, sein Apartment in der Stadt aufzugeben. Er und sieben andere mieteten zusammen ein Zimmer in einem Vorort.
    Am Ende seines Internetbeitrags fragte der Mann mit Universitätsabschluss sich: „Warum muss ich eine Freundin haben? Warum muss ich ein Kind haben? Warum muss ich mich um meine Eltern kümmern? Wir sollten unsere Lebensweise ändern. Wenn wir uns nicht um unsere Eltern kümmern, nicht heiraten, keine Kinder haben, keine Wohnungen kaufen, nicht mit Bus und Taxi fahren, niemals krank werden, keine Unterhaltung haben, nie in einem normalen Restaurant zu Mittag essen, dann werden wir wissen, was ein glückliches Leben ist! Die Gesellschaft treibt uns in den Wahnsinn. Wir können nicht einmal die einfachsten Grundbedürfnisse befriedigen. Sind wir im Unrecht? Wir wollen nur überleben.“33
    Da immer mehr Kleinbürger in ihren wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen die Erfahrung der Proletarisierung machen, haben sich immer mehr junge Menschen politisch radikalisiert.
    In den 1990ern gab es in China praktisch keine politische Linke. In den ersten zehn Jahren des neuen Jahrhunderts wuchs die chinesische Linke dramatisch. Drei linke Internetseiten, Wu You Zhi Xiang (the Utopia), The Mao Zedong Flag, und The China Workers’ Network haben landesweiten Einfluss. Einige Mainstream Internetseiten, z.B. “Strengthening the Country Forum”, ein Forum zu aktuellen Themen, das zu der offiziellen Parteizeitung People’s Daily gehört, werden von linksorientierten Beiträgen dominiert.
    2005 führten zahlreiche Politikwissenschaftler eine interessante Untersuchung zum Einfluss der „Neuen Linken“ bei Studenten in der Jiangxi Provinz (eine Provinz, die durch eine mittelmäßige wirtschaftliche Entwicklung geprägt ist) durch. Sie ergab, dass etwa die Hälfte der Studenten linke Internetseiten kannte und dass zwischen 30 und 70 Prozent von ihnen einigen linken Ideen zustimmte (vgl. Tabelle 1). Die Autoren zeigten sich besorgt über den wachsenden Einfluss linken Gedankenguts und bemerkten, dass diese Ideen den Glauben der Studenten an „Reform und Offenheit“, Marktwirtschaft und „Sozialismus chinesischer Prägung“ gefährden könnten. Sie schlugen vor, dass die Regierung mit Hilfe eigens dafür eingestellter „Web-Kommentatoren“ gegen linke Einflüsse vorgehen solle.
    Es gibt eine Besonderheit, durch die sich die chinesische Linke von der Linken in vielen anderen Ländern unterscheidet. Der Maoismus hat unter den chinesischen Linken eine unangefochtene Dominanz erreicht. Es ist in der Tat jetzt so, dass in China eigentlich niemand als linksorientiert anerkannt wird, der sich nicht als wie auch immer gearteter Maoist bezeichnet. Am 9. September und am 26. Dezember 2010 organisierten Arbeiter in hunderten von Städten und Studenten in etwa 80 Universitäten und anderen Hochschulen in ganz China spontane Massenversammlungen zum Gedenken an Mao Zedong, oft gegen Widerstand und Behinderungen durch örtliche Regierungsstellen. Bei den chinesischen Neujahrfeiern 2011 (9. Februar) besuchten fast 700.000 Menschen Maos Heimatstadt Shaoshan in der Hunan Provinz und zeigten so ihren Respekt.34
    Im aktuellen politischen Kontext kann man eine maoistische Position weitgehend so charakterisieren: Sie erkennt die maoistische Periode als eine Zeit großen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts mit größeren Errungenschaften für die chinesischen Arbeiter und Bauern an, sie akzeptiert Maos Theorie der „kontinuierlichen Revolution unter der Diktatur des Proletariats“; sie sieht in der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ ein großartiges Experiment der Befreiung der Massen und sozialistischer Demokratie, sie versteht, dass die so genannte „Reform und Offenheit“ eine kapitalistische Restauration ist, dass China kapitalistisch geworden ist oder sich mitten im Prozess des kapitalistischen Übergangs befindet und dass die grundlegende politische Aufgabe der chinesischen Arbeiterklasse der Sturz des Kapitalismus und die Wiedererrichtung des Sozialismus ist.
    Neben dem scheinbaren Konsens in der Mao-Debatte gibt es wichtige politische Unterschiede zwischen den verschiedenen linksgerichteten Fraktionen. Wu You Shi Xiang z.B. hat wohl den größten Einfluss bei jungen kleinbürgerlichen Studenten. Einige führende Intellektuelle, die Wu You Shi Xiang unterstützen, sind in Wirklichkeit bürgerliche Nationalisten (sie sind für Staatskapitalismus), die sich hinter maoistischen Debatten verstecken. The Mao Zedong Flag hat ihre Basis in erster Linie bei Parteiveteranen, die Deng Xiaoping unterstützten, seitdem aber ihren politischen Standpunkt verändert haben und die jetzige „kapitalistische Linie“ der Partei ablehnen. The China Workers’ Network hat junge Studenten und einige Arbeiteraktivisten angezogen, die sich selbst als marxistisch-leninistische Maoisten bezeichnen.
    Diese Unterschiede innerhalb der chinesischen Linken sind unvermeidbar, da sie, genau wie die Linke in anderen Ländern, unaufhörlich dem Einfluss bürgerlicher und kleinbürgerlicher Elemente ausgesetzt ist. Eine klare Führerschaft durch das Proletariat und den revolutionären Marxismus wird sich nur im tatsächlichen revolutionären Kampf der chinesischen Arbeiterklasse herausbilden, und eine sozialistische Revolution wird nur siegen, wenn objektive historische Entwicklungen andere mögliche Lösungen der Grundwidersprüche des Kapitalismus ausgeschlossen haben.

Reform oder Revolution: Die Grenze des Kapitals ist das Kapital selbst


    Kann die chinesische kapitalistische Klasse aus der geschichtlichen Erfahrung der westlichen kapitalistischen Klassen lernen und einen gesellschaftlichen und politischen Rahmen entwickeln, der die künftigen Forderungen der chinesischen Arbeiterklasse erfüllt und gleichzeitig die Grundvoraussetzungen kapitalistischer Akkumulation beibehält?
    Die Führung der Kommunistischen Partei hat jahrelang versprochen, China in eine so genannte „harmonische Gesellschaft“ zu verwandeln, in der Klassenkonflikte moderiert und gut bewältigt werden. Nach Ansicht der neoliberalen Intellektuellen, die Chinas etablierte Medien und die Presse beherrscht haben, können alle aktuellen Probleme Chinas auf den so genannten „oligarchischen Kapitalismus“ zurückgeführt werden, der sich vom westlichen „demokratischen Kapitalismus“ unterscheidet. Diese neoliberalen Intellektuellen behaupten, dass die kapitalistische „Reform“ nicht falsch sei. Chinas Hauptproblem sei, dass die „politische Reform“ hinter der „wirtschaftlichen Reform“ her hinke. Sie glauben, dass die Stabilität des chinesischen Kapitalismus gesichert werden könne, wenn die Führung der Kommunistischen Partei nur ihren Ratschlägen folgen und eine so genannte „politische Reform“ durchführen würde.
    Das chinesische Modell kapitalistischer Akkumulation baut auf besonderen geschichtlichen Faktoren auf: die erbarmungslose Ausbeutung billiger Arbeitskräfte, die massive Ausbeutung von Naturschätzen, Umweltzerstörung und ein Wachstumsmodell, das von wachsenden Exporten in die Märkte der Kernländer des Kapitalismus abhängt. Keiner dieser Faktoren hat mehr als mittelfristige Gültigkeit.
    Da die kapitalistischen USA und Europa mit Stagnation kämpfen und mögliche größere wirtschaftliche Krisen in der Zukunft auf sie zukommen, kann sich China nicht mehr länger darauf verlassen, seine wirtschaftliche Expansion durch Exporte zu stützen. Es ist mittlerweile auch eine verbreitete Ansicht, dass Chinas ausufernde Investitionen zu einer massiven Überproduktionskapazität und einem Verbrauch an Energie und Ressourcen geführt haben, der nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Fallende Profitraten können zu einem Zusammenbruch der Investitionen und einer größeren Wirtschaftskrise führen. Also muss die chinesische kapitalistische Wirtschaft „zu einem neuen Gleichgewicht“ finden, das sich auf heimischen Konsum stützt.35 Aber wie kann das erreicht werden, ohne die fundamentalen Interessen der chinesischen Kapitalistenklasse zu gefährden?
    Gegenwärtig beträgt der Anteil des privaten Konsums am chinesischen BIP etwa 40 Prozent und der Anteil des Staatsverbrauchs etwa 10 Prozent, der Handelsüberschuss macht etwa 5 Prozent und die Investitionen etwa 45 Prozent des BIP aus. Arbeitslöhne und landwirtschaftliche Einkommen summieren sich auf etwa 40 Prozent des BIP. Das Einkommen der Arbeiterklasse ist also ungefähr so hoch wie der Gesamtverbrauch der privaten Haushalte.36 Wenn man einen Teil der Steuereinnahmen des Staates dem kapitalistischen Bruttogewinn zurechnet, dann macht er annähernd 50 Prozent des BIP aus. Nach den Abschreibungen auf Anlagekapital beträgt der Nettogewinn der Kapitalisten fast 35 Prozent des BIP. Dieser sehr hohe kapitalistische Profit (oder sehr hohe Mehrwertrate) ist die politökonomische Ursache für die rapide Kapitalakkumulation in China.
    Nehmen wir einmal an, China müsse zurückfinden zu einer konsumorientierten Wirtschaft. Wenn der private Konsum auf 60 Prozent des BIP ansteigen soll, müssen die Arbeitseinkommen sich in derselben Größenordnung erhöhen. Daraus folgt, dass der kapitalistische Profit um etwa 20 Prozent des BIP fallen müsste. Wie kann man eine so umfassende Einkommensumverteilung mit der Zustimmung der Kapitalistenklasse erreichen, selbst wenn man ideale politische Vorbedingungen annimmt? Welcher Teil der Kapitalistenklasse wird sein Eigeninteresse dem Gemeinschaftsinteresse der Klasse unterordnen? Angesichts der unrechtmäßigen und korrupten Natur des chinesischen kapitalistischen Vermögens stellt sich auch die Frage, wie das gemeinschaftliche Interesse der Kapitalistenklasse selbst dann verwirklicht werden kann, wenn die Führung der Kommunistischen Partei dieses Interesse durchsetzen will. Definitionsgemäß unterliegt durch Korruption erworbenes Einkommen und Vermögen nicht der Besteuerung.
    Abbildung 2 zeigt alternative Szenarien eines möglichen „Ausgleichs“ im chinesischen Kapitalismus. Jedes Szenario ist konsistent bezogen auf eine bestimmte Konstellation von Bedingungen, die für die Stabilisierung der kapitalistischen Wirtschaft erforderlich sind (mit einer konstanten anstelle einer fallenden Profitrate).
    Wenn in der Zukunft Chinas wirtschaftliches Wachstum auf 7 Prozent pro Jahr zurückgeht, müssen Investitionen auf 36 Prozent des BIP (in Abb.2 auf 35 Prozent gerundet) fallen, um eine stabile Kapitalproduktivität zu gewährleisten. Davon ausgehend, dass Chinas wichtigste Exportmärkte (die USA und die Europäische Union) in der Zukunft wahrscheinlich stagnieren werden, während Chinas Energie- und Rohstoffimporte weiter steigen werden, wird Chinas Handelsbilanz ausgeglichen sein. Bruttogewinne werden zwangsläufig auf 35 Prozent und Nettogewinne auf 20 Prozent des BIP fallen.37
    In einer Hinsicht unterscheidet sich der gegenwärtige historische Kontext fundamental von jedem anderen Zeitpunkt in der kapitalistischen Geschichte. Nach Jahrhunderten hemmungsloser Kapitalakkumulation steht das weltweite Ökosystem nämlich kurz vor dem Zusammenbruch. Die fortschreitende globale ökologische Krise droht die menschliche Zivilisation noch in diesem Jahrhundert zu zerstören. China befindet sich jetzt im Zentrum der weltweiten ökologischen Widersprüche.
    Ungefähr 20 Prozent des chinesischen Energieverbrauchs beruht auf Erdöl. Aber fast alle Transporttreibstoffe basieren auf Erdöl. China ist schon weltweit an zweiter Stelle der Erdölkonsums mit einem täglichen Verbrauch von 9 Millionen Barrel. Wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird der Ölkonsum Chinas bis 2020 um etwa 5 Millionen auf 14 Millionen Barrel pro Tag steigen. Zum Vergleich: Bei der schlimmsten Weltwirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg von 2006 bis 2009 fiel die Nachfrage nach Erdöl in den OECD-Ländern um 4 Millionen Barrel pro Tag.38
    Man nimmt an, dass die Welterdölförderung in nächster Zukunft ihren Scheitelpunkt (peak) erreichen wird. Wenn sie in den nächsten Jahren diesen Punkt erreicht, wo sollen dann die zusätzlichen 5 Millionen Barrel Erdöl herkommen, die der chinesische Kapitalismus benötigt? Wenn Chinas zusätzlicher Ölbedarf mit einem fallenden Ölbedarf in den OECD-Ländern einhergeht, kann durch die außerordentlich stark fallende Nachfrage eine Wirtschaftskrise ausgelöst werden, die so verheerend wie die Krise von 2007 bis 2009 sein wird. Wenn die 5 Millionen Barrel durch Kohleverflüssigung zur Verfügung gestellt werden, bräuchte man etwa eine Milliarde Tonnen Kohle pro Jahr oder ein Drittel der gegenwärtigen Kohleförderung Chinas.39
    Chinas Energieverbrauch wird zu 75 Prozent aus Kohle gedeckt. Von 1979 bis 2009 stieg Chinas Kohleverbrauch jährlich durchschnittlich um 5,3 Prozent, und die chinesische Wirtschaft wuchs jährlich um durchschnittlich 10 Prozent (ausgenommen das letzte Jahrzehnt von 1999 bis 2009, als der Kohleverbrauch auf 8,9 Prozent jährlich anstieg). Grob gerechnet kann man davon ausgehen, dass das künftige chinesische Wirtschaftswachstum der künftigen Wachstumsrate der Kohleförderung plus fünf Prozentpunkte entsprechen wird.40
    Nach chinesischen Regierungsquellen hat China eine Kohlereserve von etwa 190 Milliarden Tonnen und einen „Reservesockel“ (eine breitere Schätzung unter Berücksichtigung der Vorkommen, deren Förderung sich wirtschaftlich nur bedingt rechnet) von etwa 330 Milliarden Tonnen. Abbildung 2 vergleicht Chinas bisherige Kohleförderung mit zwei denkbaren zukünftigen Szenarien. Das „früher Peak“ Szenario geht davon aus, dass Chinas verbliebenen Kohlevorkommen mit der offiziellen Kohlereserve übereinstimmen. Im „später Peak“ Szenario wird angenommen, dass Chinas verbliebene Kohlevorkommen mit dem offiziellen Reservesockel übereinstimmen.
    Nach dem früher-Peak Szenario wird erwartet, dass die Kohleförderung Chinas 2026 ihren Scheitelpunkt mit einer Spitzenförderung von 4,7 Milliarden Tonnen erreicht. Die Wachstumsrate der chinesischen Kohleförderung verlangsamt sich in diesem Modell zwischen 2008 und 2020 auf 3,9 Prozent, zwischen 2020 und 2030 auf 0,5 Prozent, zwischen 2030 und 2040 auf -2,5 Prozent und zwischen 2040 und 2050 auf -4,8 Prozent. Die dabei gültige Wachstumsrate der Wirtschaft würde in den 2010ern 9 Prozent, in den 2020ern 5 Prozent, in den 2030ern 3 Prozent und in den 2040ern 0 Prozent betragen.
    Nach dem später-Peak Szenario wird erwartet, dass die Kohleförderung 2037 ihren Scheitelpunkt von 6,9 Milliarden Tonnen erreicht. Die Wachstumsrate der chinesischen Kohleförderung verlangsamt sich in diesem Modell zwischen 2008 und 2020 auf 4,8 Prozent, zwischen 2020 und 2030 auf 2,8 Prozent, zwischen 2030 und 2040 auf 0,5 Prozent und zwischen 2040 und 2050 auf 2,0 Prozent. Die dabei gültige Wachstumsrate der Wirtschaft würde in den 2010ern 10 Prozent, in den 2020ern 8 Prozent, in den 2030ern 6 Prozent und in den 2040ern 3 Prozent betragen.
    Daraus folgt, dass nach den früher-Peak Szenario die chinesische kapitalistische Wirtschaft in den 2020ern eine Einkommensumverteilung von 20 Prozent des BIP von Gewinnen hin zu Löhnen vornehmen muss, um eine stabile kapitalistische Wirtschaft zu behalten (vgl. Abb.2). In den 2030ern wird der kapitalistische Nettoprofit unter 10 Prozent des BIP fallen. Dann gibt es praktisch keinen Raum mehr für Einkommensumverteilungen.
    Selbst unter dem später-Peak Szenario müsste in den 2030ern eine Einkommensumverteilung in einer Größenordnung von 15-20 Prozent des BIP vorgenommen werden. Man sollte festhalten, dass nach dem später-Peak Szenario die Kohlendioxid-Emissionen aus der Verbrennung von Kohle allein in den späten 2030ern fast 15 Milliarden Tonnen betragen werden. Das ist die Hälfte aller Emissionen weltweit. Bei diesem Szenario würde jede Chance auf eine angemessene Stabilisierung des Klimas, die die Welt noch gehabt hätte, zunichte gemacht.
    Die drohende Energiekrise ist nur einer der vielen Aspekte der ökologischen Widersprüche in China. Nach Charting Our Water Future, einem Bericht der International Finance Corporation, wird China 2030 einen Wassermangel von 25 Prozent haben (verglichen mit dem hochgerechneten Wasserbedarf), weil die größer werdende Nachfrage aus Landwirtschaft, Industrie und Städten die begrenzten Wasservorräte Chinas weit übersteigen wird.41
    Wenn Chinas gegenwärtigem Trend bei der Bodenerosion nicht Einhalt geboten wird, könnte auf China nach einem Forschungspapier von Liming Ye et al. 2030-2050 ein Nahrungsmittelmangel von 14-18 Prozent zukommen (verglichen mit dem erwarteten Nahrungsmittelbedarf). Ein Forschungsprojekt der Chinesischen Akademie für Agrarwissenschaften ergab, dass Chinas Getreideproduktion als Folge des Klimawandels und der abnehmenden verfügbaren Wassermenge in den 2040ern um 9-18 Prozent fallen könnte.42
    Wenn man den gemeinsamen Druck ausgehend von Erdöl Peak, Bodenerosion, abnehmenden Wasservorräten und Klimawandel sieht, kann die Möglichkeit, dass eine größere Krise in der Landwirtschaft und bei den Nahrungsmitteln China treffen könnte, nicht ausgeschlossen werden.

Der Sieg des Proletariats und der Fall der Bourgeoisie sind gleichermaßen unvermeidlich


    Die Menschheit befindet sich an einer kritischen Weggabelung. Das Weiterbestehen des kapitalistischen Weltsystems ist nicht nur eine Garantie für die andauernde Armut von Milliarden Menschen, sondern bedeutet ebenfalls den fast sicheren Weg in die Zerstörung der menschlichen Zivilisation.
    China hat die USA schon überholt und liegt jetzt weltweit an zweiter Stelle beim Energieverbrauch und an erster Stelle beim Ausstoß von Treibhausgasen. Die zunehmenden Emissionen in China drohen jede vernünftige Verringerung von Emissionen in der übrigen Welt aufzuwiegen. Wenn die chinesische kapitalistische Maschine nicht aufgehalten und in Stücke gerissen wird, gibt es keine Hoffnung auf globale ökologische Nachhaltigkeit.
    Hier stellt sich die dringende weltgeschichtliche Frage. Auf welche geschichtliche Kraft kann die Menschheit zählen, damit die Weltrevolution des 21. Jahrhunderts Wirklichkeit wird und sowohl Sozialismus als auch ökologische Nachhaltigkeit erreicht werden?
    Marx erwartete, dass das Proletariat die Rolle des Totengräbers des Kapitalismus spielt. Im jetzigen weltgeschichtlichen Stadium haben die westlichen kapitalistischen Klassen es geschafft, sich den Herausforderungen durch die proletarisierten Arbeiterklassen anzupassen (in bestimmten historischen Perioden und unter bestimmten historischen Bedingungen). Dasselbe gilt für die Kapitalistenklassen einiger semi-peripherer Staaten. Die alten kapitalistischen Klassen haben diesen zeitweiligen Kompromiss erreichen können, weil sie einerseits von der Überausbeutung der Arbeiterklassen der Peripherie und andererseits von dem massiven globalen Verbrauch von Naturschätzen und Umwelt profitierten.
    Beide Bedingungen gelten mittlerweile nicht mehr. In den kommenden ein oder zwei Jahrzehnten könnten die proletarisierten Arbeiterklassen zum ersten Mal zur Mehrheit im kapitalistischen Weltsystem werden. Durch die massive Proletarisierung in Asien nähern sich die weltgeschichtlichen Bedingungen endlich einem Zustand an, der, nach Marx, zum Sieg des Proletariats und zum Sturz der Bourgeoisie führen wird.
    Als größter Warenproduzent und Energiekonsument befindet sich China im Zentrum der globalen kapitalistischen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Widersprüche. Die obige Analyse legt nahe, dass nach 2020 sich die wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische und ökologische Krise wahrscheinlich in China zuspitzen wird. Das Zusammenfallen all dieser Krisen schließt eine reformistische Lösung der chinesischen kapitalistischen Widersprüche aus.
    Angesichts des Erbes der chinesischen Revolution könnten die subjektiven historischen Bedingungen in China eine revolutionäre sozialistische Lösung von Chinas Widersprüchen begünstigen. Eine Arbeiterklasse aus dem staatlichen Sektor, die durch ein sozialistisches Bewusstsein beeinflusst ist, kann potenziell die Schlüsselsektoren der chinesischen Wirtschaft übernehmen und in dem kommenden revolutionären Kampf eine führende Rolle übernehmen. Die Arbeiter im staatlichen Sektor, die Wanderarbeiter und das proletarisierte Kleinbürgertum könnten ein breites revolutionäres Bündnis schmieden. Wenn solch ein Bündnis Form annimmt, wird es stark genug sein, jedweden kapitalistischen Widerstand zu brechen.
    Wegen Chinas zentraler Position im globalen kapitalistischen System kann die Bedeutung einer siegreichen sozialistischen Revolution in China gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie wird das gesamte System der weltweiten kapitalistischen Warenströme unterbrechen. Sie wird das globale Gleichgewicht der Macht entscheidend zu Gunsten des Weltproletariats verschieben. Sie wird den Weg ebnen für die sozialistische Weltrevolution des 21. Jahrhunderts. Dadurch werden sich die Chancen dramatisch verbessern, die kommende weltweite Krise auf eine Weise zu lösen, die in Einklang steht mit der Aufrechterhaltung und weiteren Entwicklung der menschlichen Zivilisation.
    Die Geschichte wird erweisen, ob das chinesische Proletariat und das Weltproletariat ihre weltgeschichtliche Mission erfüllen werden.



Übersetzung aus dem Englischen von Manfred Pegam, Bochum, 2011