Ein kurzer Kommentar zu "Der Aufstieg Chinas..."

Mit diesem kurzen, persönlichen Kommentar möchten wir dazu beitragen, eine Diskussion über die verschiedenen linken Positionen in China zu beginnen - und erst recht mit ihnen...

Was ich an dem Text von Fred Engst kritisch sehe – eine erste Annäherung…

Der Text „Der Aufstieg Chinas und seine Implikationen“ von Fred Engst ist repräsentativ für eine wichtige politische Strömung in China. Allein schon der Anlass seines Beitrages, eine Tagung der ILPS (Internationale Liga des Kampfes der Völker) ist Hinweis darauf. Es handelt sich demnach um eine jener oppositionellen Strömungen in China, die sich auf die Ideen Mao Zedongs und die entsprechende Tradition der KP Chinas berufen.

Von der Redaktion Infoexchange im Projekt Forum Arbeitswelten mit einem einführenden Kommentar zu diesem Text betraut,  muss ich ehrlicherweise zwei Sachverhalte vorweg unterstreichen: Einmal – es handelt sich um eine Strömung, der ich mich selbst lange Zeit zurechnete; und zweitens, habe ich mir, unabhängig davon, angewöhnt, in Texten erst einmal jene Aussagen zu suchen, denen ich mehr oder weniger zustimmen kann, und eben nicht andersherum.

Mit diesem Text ist Fred Engst außerdem auch einigermaßen repräsentativ für eine der Strömungen beziehungsweise Gruppierungen in China, die an dem Projekt Forum Arbeitswelten beteiligt sind. Und all jene, die in der BRD im Mai 2011 an den Begegnungen oder an dem Dortmunder Workshop teilgenommen haben, haben erfahren, wie nützlich es ist, die Darstellung und Analyse der Zustände in einem Land und der entsprechenden Entwicklungen eben nicht nur „aus einem Guss“ zu erfahren, sondern von verschiedenen Gesichtspunkten aus, die dann auch zu verschiedenen Schlussfolgerungen führen.

Wenn ich im Folgenden drei Anmerkungen zum Inhalt dieses Textes mache, so sind dies erstens meine höchstpersönlichen Anmerkungen und sonst nichts. Und sie sind zweitens selbstverständlich auch ein Versuch der Redaktion Infoexchange, eine Diskussion anzustoßen – unter den Lesern und Leserinnen der deutschen Webseite, aber auch unseres chinesischen „Gegenstückes“ - sowie unter all jenen, die an den diversen Begegnungen der letzten Jahre in der einen oder anderen Weise teilgenommen haben.

1. Alle Erfahrung in der Geschichte sprechen dafür: wenn es darum geht, ein Land, eine Gesellschaft zu entwickeln, beziehungsweise ihr die Möglichkeit zur Entwicklung zu geben, ist der freie Zugang großer (und kleiner) transnationaler Unternehmen ein entscheidender Hinderungsgrund – beispielsweise spielten bei all jenen meist europäischen Ländern, die heute als entwickelte kapitalistische Gesellschaften gelten, in früheren Perioden Zollschranken eine Rolle. Dabei ist dies zunächst weitgehend unabhängig davon, welche Struktur die betreffende Wirtschaft und Gesellschaft haben.

Auch Tatsachenfeststellungen wie die, dass Landflucht Arbeitskräfte hervorbringt (egal, ob erzwungen oder freiwillig) kennt man seit Marx' Analyse der ursprünglichen Akkumulation. Kurzer Sinn: Ich stimme dem Argument von Fred Engst über die Gründe für Chinas „Aufstieg“ im Allgemeinen zu, ohne dies in der Frage des Charakters der Gesellschaft unbedingt zu tun.

Die erste Frage, die sich mir stellt ist, warum er davon ausgeht, dass andere Länder diesen Spielraum nicht haben können, im Vergleich eben zur VR China. Erstens sollte man grundsätzlich keine Momentaufnahmen (auch wenn es keine Momente, sondern im menschlichen Leben längere Zeiten sind) verallgemeinern; zweitens gibt es einige Länder, die in letzter Zeit einen Entwicklungsschub erleben.

Und mit Verallgemeinerungen muss man ohnehin vorsichtig sein: Die Behauptung etwa, der Unterschied zu Brasilien seien unter anderem die dortigen feudalistisch gebliebenen Strukturen auf dem Lande, würden zumindest den erheblichen Widerspruch der brasilianischen Landlosenbewegung MST ernten, die seit längerem davon ausgeht, dass sich vorherrschend ein agrarkapitalistisches Modell durchgesetzt habe. Es geht hier nicht um Linienstreit – es geht darum, sachliche Verhältnisse konkret einzuschätzen und sie nicht eigenen Lehrmeinungen anzupassen.

2. Dass Demokratie und Marktwirtschaft keineswegs zusammengehören, wie es der Apparat bürgerlicher Ideologiebildung pausenlos zu zementieren versucht, wusste schon Goethe und weiß jedermann, allerspätestens seit dem chilenischen Putsch 1973 – hätte es aber auch schon seit dem nationalsozialistischen Deutschland wissen können, dies kann folglich auch für China gelten. Und wer auch nur entfernt verfolgt, was in Europa gegenwärtig zur Krisenbewältigung geschieht, wird höchstens rudimentäre Reste einer bürgerlichen Demokratie vorfinden.

Cum grano salis könnte man sagen, was er im zweiten Teil seines Vortrags beschreibt, ist eine Variante sogenannter Modernisierungsdiktaturen, wie es in besonders brutaler Form und mit blutigster Konsequenz auch das sogenannte Dritte Reich in Deutschland war.: Der Staat oder auch die Regierung als Strukturbauer sozusagen, unter Ausschaltung jeglicher Opposition und konzentrierter ideologischer Mobilisierung, in Deutschland einst völkisch und von antisemitischer Vernichtungslogik geprägt, wie es eben aus der Formierung der deutschen Nation entstehen konnte – manche meinen, musste. Auch diesen Ausführungen könnte ich jedenfalls im Grundsatz zustimmen, aber auch hier ohne eine Art „sozialistische Notwendigkeit“ zu sehen.

3. Wo es dann für mich wirklich diskussionswürdig wird, ist immer dann, wenn solche Grundfragen wie Volk und Klasse behandelt werden. Es ist ja keine Besonderheit Chinas, daß sich die Klasse der Arbeiter und Arbeiterinnen beständig neu zusammensetzt, dass soziale Veränderungen unterschiedlichster Art eine ganze Gesellschaft umbilden. Um es vereinfacht zu sagen: Was „dem Chinesen“ die Wanderarbeiter (die wohl längst so sehr „Wanderarbeiter“ sind, wie in Deutschland die einstigen „Gastarbeiter“) waren „dem Deutschen“ meiner Generation jedenfalls die „Nebenerwerbslandwirte“. Eine heute in Deutschland längst unnötige (und weitgehend auch unmögliche) Unterscheidung.Umso prägnanter istin Deutschland heute die objektive Unterscheidung zu den "Prekären". So wenig man sich seine Gesellschaft aussuchen kann, so wenig geht dies mit einer sozialen Klasse, weswegen ich eigentlich Debatten in der chinesischen Linken darüber, wer denn nun sozusagen das revolutionäre Subjekt sei, die traditionellen Arbeiter oder die Wanderarbeiter für ganz wenig nützlich halte.

Wenn Fred Engst, zur Charakterisierung der Unterschiede in der Gesellschaft nach 1949 unterstreicht, die Arbeiter und Bauern können sich ihre Führer selbst wählen und die Arbeiter könnten nicht entlassen werden (Indirekt so gesagt) – dann erscheint mir das für eine andere, wohlgemerkt: für eine nichtkapitalistische Gesellschaft mindestens extrem wenig. Ihre Führer selbst wählen, das können sie in einer normalen bürgerlichen Demokratie auch – inklusive Deutschland. Sommer, Bsirske, Gabriel und Ernst – Hosianna,  Genosse! Gretchenfrage dabei: Wie ist es denn mit dem Abwählen?

Und als die Marktwirtschaft noch sozial genannt wurde, war es oft auch ziemlich kompliziert, entlassen zu werden, zumindest in den mitbestimmten Betrieben, die ja keinen so kleinen Teil der Arbeiterschaft umfassten.

Wir wäre es damit, die Rolle der Führer zumindest zu reduzieren, tendenziell abschaffen? Und den Kampf um soziale Rechte gesellschaftsübergreifend verstehen?

Da ist sonst eben, denke ich persönlich, das Grundproblem aller (selbsternannter oder nicht) Avantgarde, parteiförmig oder nicht: Was tun, wenn die Masse nicht so will, wie die Führungspersönlichkeiten? Schiessen lassen, wie es Stalinisten/Trotzkisten seit Kronstadt getan haben? Steht zur Debatte – auch mit diesem lesenswerten Text, und vermutlich gibt es einge Leserinnen und Leser, die das anders sehen als ich.

 

Helmut Weiss

 

20. Oktober 2011