Wie sozialistisch ist der chinesische Einparteienstaat?

Eine Rezension zu Wang Huis "Das Ende der Revolution: China und die Grenzen der Moderne" von Au Loong Yu Übersetzt von Manfred Pegam

Der Herausgeber von Wang Huis Buch Das Ende der Revolution: China und die Grenzen der Moderne, Verso, beschreibt das Buch folgendermaßen: „Wang Hui vertritt den Standpunkt, dass Chinas revolutionäre Geschichte und seine derzeitige Liberalisierung Teile desselben Diskurses über die Moderne sind und spricht sich für Alternativen zu sowohl seiner kapitalistischen Zukunft als auch seiner autoritären Vergangenheit aus.“

Diese Beschreibung ist der Ausgangspunkt der folgenden Besprechung des Buches : Inwieweit trifft die Einschätzung zu und wie relevant ist sie für die gesellschaftlichen Aktivisten, die gerade diese Alternative in China verwirklichen wollen?

Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass Wang Hui sich in erster Linie wissenschaftlich mit Kultur und Philosophie beschäftigt, speziell mit der chinesischen Geistesgeschichte. Obwohl der Titel des Buches eine hochgradig politische Debatte andeutet, geht es eher um Kultur- und Geistesgeschichte des zeitgenössischen Chinas als um politische Themen. Aus praktischen Gründen möchten wir zunächst Wangs politische Aufsätze kommentieren. Das betrifft die ersten drei Kapitel und damit die Hälfte des Buches.

Nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989 setzte die chinesische Kommunistische Partei unter Deng Xiaoping den Plan einer vollständigen kapitalistischen Restauration kombiniert mit rascher Industrialisierung durch, was nur durch die Öffnung des Marktes für ausländisches Kapital ermöglicht wurde. Die schiere Größe Chinas und die schrittweise Öffnung ließ inländischem Kapital genügend Raum und Zeit, schnell genug zu wachsen, um ausländisches Kapital daran zu hindern, die Führung in der Wirtschaft zu übernehmen. Das legte den Grundstein für den Aufstieg Chinas, forderte allerdings seinen Preis. Es waren die Arbeiter in den staatlichen und vergesellschafteten Sektoren, die dafür mit dem Verlust ihrer Arbeitsplätze, der damit verbundenen kostenlosen medizinischen Versorgung und einer erschwinglichen Bildung für ihre Kinder zahlten. Die meisten Intellektuellen unterstützten diese große Welle neoliberaler Angriffe auf den alten Wohlfahrtstaat. Die meisten Liberalen haben die Verringerung der Beschäftigten in Staatsbetrieben begeistert aufgegriffen, weil sie darin einen teilweisen Rückzug des allmächtigen Staates und das Wachsen eines autonomen Marktes sahen, worin sie die Grundlage für eine zukünftige demokratische Gesellschaft sahen. Sie beanstandeten nur, dass die Privatisierungen nicht durch eine moderate Verfassungsreform begleitet wurden.

Die Relevanz sozialer Bewegungen


Wang Hui gehörte zu den Linksgerichteten, die sich gegen die liberale oder neoliberale Richtung wandten. 2003 veröffentlichte er bei Harvard einige seiner früheren Artikel in englischer Sprache unter dem Titel China’s New Order. Dort findet sich ein Artikel von 1997 mit dem Titel Contemporary Chinese Thought and the Question of Modernity, in dem er sich über die liberale Idee mokiert, die Logik des Marktes sei ein freier Austausch individueller Rechte und daher in der Lage, „der exzessiven Expansion der Staatsmacht gewisse Restriktionen aufzuerlegen“. Ganz im Sinne von Karl Polanyis Unterscheidung von Markt und Marktgesellschaft sagt er:

In der Dichotomie von Plan/Markt wurde der „Markt“ als Quelle von „Freiheit“ gesehen. Diese Auffassung verschleiert jedoch die Unterschiede zwischen Märkten und einer Marktgesellschaft. Wenn wir sagen können, dass Märkte transparent sind und nach den Preismechanismen des Marktes funktionieren, dann würde eine Marktgesellschaft den Mechanismus des Marktes dazu benutzen, Politik, Kultur und alle anderen Lebensbereiche zu beherrschen – die Funktionsweise der Marktgesellschaft kann so nicht von einem monopolistischen Überbau unterschieden werden. Das ist genau die Art, wie die Idee der Märkte die Ungleichheiten in der modernen Gesellschaft und ihre ungleichen Machtstrukturen verschleiert.1

In dieser Debatte zur Zeit der Jahrhundertwende versuchten die Liberalen, die Marktreform zu verteidigen, indem sie alle gesellschaftlichen Übel, die in den Augen der Menschen mit der Reform verbunden sind, von ihr abtrennen: wachsende soziale Ungleichheit, wuchernde Korruption, offene Missachtung der Arbeits- und Umweltgesetzgebung, etc. Sie vertraten die Ansicht, dass weder der Markt noch der Kapitalismus für diese gesellschaftlichen Übel verantwortlich gemacht werden könnten, sondern dass Sozialismus und Einparteienstaat dafür verantwortlich gemacht werden müssten. Wang Hui erwiderte, dass sie

unfähig sind, die Tatsache zu verstehen, dass Chinas Probleme gleichzeitig die Probleme des kapitalistischen Weltmarktes sind und dass eine Diagnose dieser Probleme nicht ohne eine Einbeziehung der ständig wachsenden Probleme, die durch die Globalisierung des Kapitalismus geschaffen werden, möglich ist… Sogar das staatliche Handeln, das das Hauptziel des Denkens der Neuen Aufklärung war, wird durch diesen Riesenmarkt eingeschränkt. 2

In China, wo die Erinnerung an Mao immer noch sehr lebendig ist, endet jeder Angriff von Linken auf die kapitalistische Reform mit einem Verweis auf den Vorsitzenden Mao und seine Version des Sozialismus, um den Angriff zu rechtfertigen. Die einzig mögliche Erlösung von der Brutalität der kapitalistischen Reform wird im Einparteienstaat gesucht. Ebenso wie die Neoliberalen sehen sie Bewegungen von unten selten positiv. So entstand unter den Intellektuellen der so genannten Neuen Linken eine Strömung von nationalistischen und etatistischen Debatten – eine Bezeichnung, die Wang Hui selbst problematisch findet. Wang Hui mag dem nationalistischen Diskurs nicht kritisch gegenüber stehen, aber er ist einer der wenigen Intellektuellen, die die Bedeutung sozialer Bewegungen beim Kampf für soziale Gerechtigkeit anerkennen, sei es im Kapitalismus oder im Sozialismus. Obwohl er selber kein Aktivist ist, verfolgt er anscheinend das Entstehen sozialer Bewegungen in China. Das ist ein roter Faden, der von China’s New Order bis hin zu The End of the Revolution: China and the Limits of Modernity zu verfolgen ist. Er erinnert die Liberalen daran, dass, wenn sie den westlichen Kapitalismus als vorbildlich für seinen Respekt für die Rechte des Individuums und für parlamentarische Demokratie ansehen, sie nicht vergessen sollten, dass dies Ergebnisse der Aktivitäten sozialer Bewegungen waren. Es ist nicht überraschend, dass er einer der wenigen linksgerichteten Intellektuellen ist, die die Demokratiebewegung von 1989 und allgemein die direkte Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten hoch einschätzen. Sowohl die Neoliberalen als auch die Nationalisten sind geblendet von der falschen Dichotomie Markt/Staat. Beide Seiten suchen auf einer Seite dieser Dichotomie die Erlösung, sie sind sich einig in ihrer negativen Einschätzung der Demokratiebewegung von 1989 und sozialer Bewegungen im Allgemeinen. Sie sehen in der Bewegung von 1989 entweder eine „Konterrevolution“ oder eine „vom Imperialismus angezettelte anti-sozialistische Revolte“. Im zweiten Kapitel von The End of the Revolution: China and the Limits of Modernity verteidigt Wang Hui die Bewegung und weist darauf hin, dass tief in der Bewegung eingebettet sozialistische Tendenzen vorhanden waren:3

Studenten, Intellektuelle und andere Teilnehmer an der Bewegung unterstützten alle die Reform (eingeschlossen eine politische und wirtschaftliche Reform) und forderten Demokratie. … Die Menschen forderten, dass die wirtschaftliche Reform fortgesetzt werden sollte, jedoch auf der Grundlage von Demokratie und Gerechtigkeit. Sie sprachen sich nicht für einen so genannten absoluten Egalitarismus oder moralischen Idealismus aus. Die Forderungen standen in grundsätzlichem Widerspruch zu den Forderungen, die von besonderen Interessengruppen vorgebracht wurden, die eine radikalere Privatisierung forderten. Das volle Ausmaß dieses Konfliktes begriff man zu jener Zeit jedoch nicht.4

Nachdem wir nun Wang Huis Gedanken zur Marktreform, sozialen Bewegungen und Demokratie dargestellt haben, meinen wir sagen zu können, dass Wang Hui Alternativen sowohl für den kapitalistischen Entwurf als auch für autoritären Kollektivismus fordert.


Sozialistische Tradition: Was ist davon überhaupt noch übrig geblieben?


Man muss sich der Einschränkungen einer solchen Forderung jedoch bewusst sein. Wang Huis Beitrag besteht aus seinem Angriff auf den Neoliberalismus und auf den Mythos, der während eines scharfen Rechtsrucks in der Regierungspolitik seit der Mitte der 1990er rund um den Markt aufgebaut wurde. Er führt aber seinen Angriff selten bis zu einem Angriff auf das Regime weiter, das zwei Privatisierungswellen durchgedrückt hat, zuerst in den staatlichen und vergesellschafteten Unternehmen, dann auf städtischem Gebiet. Obwohl Wang Hui die zügellose Korruption in der Partei beunruhigt, nimmt er nur eine Kraft ins Visier, die er „spezielle Interessensgruppe“ nennt:

Unter den Teilnehmern an der sozialen Bewegung von 1989 befanden sich diejenigen speziellen Interessensgruppen, die in den 1980ern von der Dezentralisierung von Macht und Zuschüssen profitierten und die nun mit der bevorstehenden Politik der Anpassungsmaßnahmen unzufrieden waren.5

Das gegenwärtige Korruptionsproblem betrifft nicht nur einzelne korrupte Beamte. Es hängt auch mit der Frage zusammen, welche Beziehung zwischen Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik und Partikularinteressen besteht. Die Entwicklung der Kohlenwasserstoffindustrie und der Energieprojekte zum Beispiel wird oft durch einzelne spezielle Interessensgruppen behindert oder angeführt… Nationale und internationale spezielle Interessensbeziehungen sind schon in einem nie dagewesenen Ausmaß in staatliche Mechanismen und sogar in den Gesetzgebungsprozess eingesickert. Unter diesen Bedingungen wird die Frage, wie der Staat das so genannte „Gemeinwohl“ repräsentieren kann, nur noch sehr selten gestellt.6

Während die Liberalen die Verantwortung der meisten sozialen Missstände allein beim Einparteienstaat sehen, handeln viele linke Nationalisten genau entgegengesetzt und halten die Marktwirtschaft für allein verantwortlich, um so die Ehre der Partei zu retten. Die letzteren sagen, dass entweder Kräfte von außen (der Markt oder der Imperialismus) oder irgendeine geheimnisvolle „spezielle Interessensgruppe“ dafür verantwortlich ist, wenn die Partei ein Problem hat. Es ist dann nur logisch, dass diese „spezielle Interessensgruppe“ und nicht die Partei für die kapitalistische Restauration und für die Errichtung eines Regimes, das sich verstärkt gegen die Arbeiter richtet, verantwortlich zu machen ist. Diese Argumentation ist jedoch problematisch, weil gerade die Partei die Entscheidung fällte, die Bewegung von 1989 zu zerschlagen, ab 1992 eine vollständige kapitalistische Restauration vorzunehmen und sich von einer antibürgerlichen zu einer zutiefst probürgerlichen und arbeiterfeindlichen Partei zu entwickeln, und zwar so weit, dass sie 60 Millionen Arbeiter in staatseigenen und vergesellschafteten Betrieben entließ. Nur in diesem Kontext kann diese geheimnisvolle „spezielle Interessensgruppe“ auf Kosten der Menschen ihren Vorteil herausschlagen.

Wang Hui ist vielleicht nicht so weit gegangen wie die linken Nationalisten, aber seine unkritische Übernahme ihrer Argumente könnte es ihm auch schwer machen, sich von ihnen zu distanzieren.

Vielleicht liegt der Grund darin, dass Wang Hui nicht frei sprechen kann. Jeder, der sich mehr oder weniger mit China beschäftigt, weiß sehr gut, dass dort massiv zensiert wird. Jeder Autor, der die offizielle Darstellung der Partei oder des Staates, sie seien Verfechter eines „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen“, in Frage stellt, riskiert Bestrafung von oben. Wang Hui ist in der Tat schon bestraft worden. Man hat ihn als Herausgeber der namhaften Zeitschrift dushu entlassen. Um die Zensur zu umgehen benutzen chinesische Autoren gemeinhin eine Art von Code, wenn sie heikle Begriffe oder kritische Gedanken ausdrücken wollen. Eine dieser Umschreibungen ist „spezielle Interessensgruppe“. Durch dieses Vorgehen mögen Autoren die Zensur umschiffen können, was aber auf Kosten der politischen Eindeutigkeit geht – es gibt sehr unterschiedliche Auffassungen, was man unter einer „speziellen Interessensgruppe“ zu verstehen hat. Es ist zu beobachten, dass die schamlose Korruption in der Partei und der moralische Verfall in der Gesellschaft die Menschen dazu bringt, sich expliziter zu äußern. Sogar der sehr etablierte und bekannte Wirtschaftswissenschaftler Wu Jinglian greift jetzt das gegenwärtige System als „Klientelkapita­lismus“ an, ohne sich vor Gegenmaßnahmen zu fürchten.

Wir müssen den Faktor der Zensur berücksichtigen, aber wir hegen den Verdacht, dass die innere Logik von Wang Huis Schriften genügend Schwächen aufweist, die ihn daran hindern, seinen Ruf nach einer realistischen Alternative weiter zu entwickeln. Die Crux des Problems lieg in den folgenden Fragen:
Welche Klassenrolle spielt der Einparteienstaat seit 1989? Welchen Klasseninteressen hat er seitdem gedient? Wenn Wang Hui die Wichtigkeit eigener Antworten auf diese Fragen anerkennt, aber die Folgen einer Veröffentlichung fürchtet, kann er sich für entscheiden zu schweigen. Aber wie viele linke Nationalisten rechnet er dem Einparteienstaat Verdienste an, die er nicht verdient. Das zeigt sich darin, dass er die angeblich noch lebendige Tradition des Sozialismus im Einparteiensystem überbetont:

Die chinesische Kommunistische Partei hat durch die Ablehnung der Kulturrevolution weder die chinesische Revolution noch sozialistische Werte geleugnet… Dadurch wurden zwei Dinge bewirkt. Erstens hat die sozialistische Tradition in einem gewissen Grad als interne Beschränkung staatlicher Reformen funktioniert… Zweitens gab die sozialistische Tradition Arbeitern, Bauern und anderen gesellschaftlichen Vereinigungen einige legitime Mittel an die Hand, um gegen staatliche Korruption oder ungerechte marktwirtschaftliche Prozesse vorzugehen oder sie zu umgehen.7

Falls es in der KPCh eine sozialistische Tradition gibt, ist die unweigerliche Frage: Wie viel davon existiert? Unglücklicherweise bleiben uns die Verfechter der Theorie der „sozialistischen Tradition“ die Antwort schuldig, Wang Hui eingeschlossen. Und angesichts der beiden großen Privatisierungswellen und einer großen Welle von 60 Millionen entlassenen Arbeitern sollten wir nicht auch die folgende Frage stellen: Wie kapitalistisch ist die KPCh? Welche Richtung dominiert in der Partei? Wir bestreiten nicht, dass gelegentlich einfache Leute Teilsiege erringen können, wenn sie sich auf das in der Verfassung verankerte sozialistische Prinzip berufen, aber man darf auch nicht die Augen vor der anderen Seite der Medaille verschließen, dass nämlich viel mehr verloren gegangen ist, im Winde verweht, dass die Partei in ihrer Klassenrolle eine qualitative Veränderung erfahren hat und jetzt dem Kapitalismus dient und nicht dem Sozialismus. Es gab keine sozialistische Tradition im Einparteienstaat, die diese Entwicklung verhindern konnte. Kein ordentlicher Buchhalter kann eine Unternehmensbilanz erstellen, indem er nur die kleine Summe von übrig gebliebenen Aktivposten einträgt, ohne ebenfalls die entstandenen riesigen Verluste und Berge von Schulden einzutragen.

Wenn Wang Hui diesen Fehler gemacht hat, bedeutet es auch, dass er mit seiner Theorie den linken Nationalisten entgegenkommt, die die kommunistische Partei mit dem Argument reinzuwaschen versuchen, dass es zwar einen Bruch zwischen Maos China und Dengs China gegeben habe, er aber glücklicherweise nur in der Wirtschaft stattgefunden habe, während es auf politischer Ebene mehr Kontinuität gebe, weil die herrschende kommunistische Partei weiterhin herrsche und die „sozialistische Tradition“ im Einparteienstaat noch lebendig sei, und dass man diesen Einparteienstaat nur noch überzeugen müsse, wieder links zu werden. So argumentiert zum Beispiel Giovanni Arrighi in seinem Buch „Adam Smith in Beijing“.8 Seine Gedanken finden sich später wieder bei dem taiwanesischen Wissenschaftler Huang Debei, der Maos Sozialismus wohlwollend betrachtet und der argumentiert, dass der chinesische Staat bis jetzt ein autonomer bonapartistischer Staat und daher noch nicht dem Klasseninteresse der Bourgeoisie unterworfen sei. Daher könne er sich nach rechts oder links wenden (wie weit?).9 Wir werden im Gegenteil behaupten, dass, obwohl der Einparteienstaat über allen Klassen zu stehen scheint, das nicht impliziert, dass er völlig „neutral“ ist oder „autonom“ über allen Klassen steht. Es trifft eher zu, dass scheinbare Autonomie ihn nicht daran hindert, dem begrenzten Interesse der besitzenden Klasse zu dienen. In der Tat ist ein Einparteienstaat, der das Land in eisernem Griff hält, genau im Interesse der Bourgeoisie, weil es sonst unmöglich ist, eine Arbeiterklasse von über 400 Millionen – die im Kern sich an eine Zeit erinnern, in der die Industrialisierung sehr gut ohne die Dienste der Bourgeoisie erfolgte - solch erbärmlichen Arbeitsbedingungen zu unterwerfen. Unsere Schlussfolgerung ist daher, dass der Einparteienstaat seit 1989 sein eigenes Gründungsprinzip voll und ganz verrät und sich in einen bourgeoisen Einparteienstaat verwandelt hat.


Quellen der Korruption: Innerhalb der Partei oder außerhalb?


Der Begriff der „sozialistischen Tradition“ lässt fröhlich in Vergessenheit geraten, dass die Bürokratie des Einparteienstaates den harten Kern der neugeborenen Bourgeoisie auf Kosten der Arbeiter bildet. Die Bürokratie hat sich im Verlaufe der Kehrtwende in ihrer Klassenpolitik von antibürgerlich zu pro-bürgerlich selbst zu allererst bereichert. Wang Hui sollte also innerhalb der KPCh die Quelle der kapitalistischen Restauration suchen. Er sucht aber anderswo. Die Wahrheit ist, dass es nicht irgendwelche exogenen „Sonderinteressen“ sind, die mit dem Ziel der Korrumpierung in die Staatsmaschinerie „einsickern“, sondern sie ist die Quelle ihrer eigenen Degeneration. Für Marxisten ist der Staat immer eine der Gesellschaft entfremdete Macht, und die Bürokratie dient immer ihren eigenen Interessen. Das ist gerade dann der Fall, wenn die Staatsbürokratie und ihre Beamten schon in einem sehr frühen Stadium die gesamte politische Macht den Händen der „Hausherren“ entwunden hat. Das geschah nicht nur, weil es während des Belagerungszustandes in der Zeit des Kalten Krieges für notwendig erachtet wurde, sondern auch aus Eigennutz. Sie monopolisierten das Recht auf Verteilung des gesellschaftlichen Mehrwerts und bedienten sich selbst. Daher ist die Degeneration der Partei zu einer Partei der vollständigen Restauration eher das Ergebnis von endogenen als von exogenen Kräften. Also irrten sich Linksgerichtete, Wang Hui eingeschlossen, wenn sie dachten, dass es eine falsche politische Entscheidung war, als die KPCh den Weg der Marktreform einschlug. Sie vergaßen, dass die Entscheidung der KPCh weniger mit politischer Korrektheit zu tun hatte als mit den materiellen Interessen eines rücksichtslosen Beamtenapparates. Wenn es irgendeine Kontinuität zwischen Maos China und dem China Dengs und nach Deng gibt, ist es weniger die Kontinuität einer „sozialistischen Tradition“ als die Privilegien der Bürokratie, wie sie durch die KPCh verkörpert wird: an welchen „-ismus“ sie glaubt, ist nicht das Entscheidende; vorrangig ist ihr Monopol auf politische Macht. Und im Verlaufe der Zeit wurde sich die Partei immer mehr der Tatsache bewusst, dass ohne die Einführung des Rechts auf Privateigentum immer die Gefahr bestand, dass ihr Monopol auf politische Macht mit dem Ziel der Verteilung des gesellschaftlichen Mehrwerts nicht an ihre Kinder weitergegeben werden könnte. Die 60jährige Geschichte der KPCh wird nicht nur durch den Bruch zwischen einer autoritären kollektivistischen Vergangenheit und einer gleichermaßen autoritären kapitalistischen Gegenwart charakterisiert, sondern sie ist auch durch Kontinuität gekennzeichnet, verkörpert durch das Machtmonopol dieser bürokratischen Partei. Der Bruch geschieht gerade weil es der einzige Weg war, die Herrschaft der Partei ungehindert fortzusetzen. Daher ist eine Alternative zu einem kapitalistischen Weg und einem autoritären Kollektivismus nur vorstellbar, indem man gegen die Partei vorgeht und nicht indem man sie unterstützt und sagt, dass dieser Einparteienstaat immer noch gewisse Aspekte von „sozialistischer Tradition“ vertrete, aus diesem Grunde zur Selbstreform fähig sei und man die KPCh nur noch zu einem Politikwandel überreden müsse. Wenn man für die zweite Option argumentiert, sorgt man nur für Illusionen in einer entstehenden neuen Arbeiterklasse.


Wo ist der Ort für Klassenkämpfe?


Wang Hui ist nicht so weit gegangen, aber wie er die Klassennatur des Einparteienstaats, oder ihr Fehlen, charakterisiert und dass er die Theorie des Weiterbestehens einer „sozialistischen Tradition“ akzeptiert, könnte den Weg ebnen zu einer Position, die einfach auf Lobbyarbeit bei der herrschenden Partei vertraut, während eine Revolte von unten so notwendig wie dringend ist. Es ist wirklich auffallend, dass in Wang Huis Schriften die Thematik der Klassen, des Staates und der Bürokratie und ihre Bedeutung für das heutige China immer nur kurz und abstrakt abgehandelt wird, wenn sie nicht gar fehlt. Es gibt auch keinen Bezug auf den Klassenkampf als eine der Kräfte, die die zeitgenössische chinesische Geschichte vorantreiben. Tatsächlich behandelt Wang Hui das Thema der dramatischen Veränderung in der Rolle des Einparteienstaates nur am Rande. Er fasst seine Beobachtung nur in einigen wenigen Sätzen in seinem ersten englischen Buch zusammen:

Die moderne sozialistische Bewegung entstand durch eine Analyse der inneren Widersprüche des Kapitalismus und durch das Streben nach Überwindung dieser Widersprüche, aber in der Praxis versagte der Sozialismus dabei, dieses Ziel zu erreichen und wurde sogar vom globalen Kapitalismus absorbiert. Gleichzeitig schaffte es der Kapitalismus, vom Sozialismus und von zahlreichen Bewegungen zur Durchsetzung sozialer Rechte Gelegenheiten für Reform und Selbstkritik abzuleiten, sodass es heute unmöglich ist, Sozialismus oder Kapitalismus in ihrer ursprünglichen Erscheinungsform auf der Basis der autonomen Einheit des Nationalstaates zu definieren.10

Es scheint, dass in dieser Beschreibung des Versagens des Sozialismus eine Dosis Fatalismus enthalten ist, nämlich dass die Niederlage nur eine natürliche Evolution des Sozialismus ist. Diese Art von Aussage ist eine zu große Konzession an die neoliberale Theorie der „Übergangsökonomie“, nach der die sozialistische Bewegung im 20. Jahrhundert nur eine zeitweise Abkehr von der Marktwirtschaft war und dass ihre zentralistische Planwirtschaft dazu verurteilt war, ihre Position wieder der Marktwirtschaft zu überlassen, da nur sie die Produktion und das Verteilungssystem effektiv organisieren kann. Diese Diskussion ist jedoch zu ahistorisch, weil das Element des Klassenkampfes völlig außer Acht gelassen wird. Wang Huis eigenen Ansichten ergeht es nicht besser. Obwohl Wang Hui die Demokratiebewegung von 1989 sehr schätzt, konnte er in ihr keine massive Revolte gegen die Pläne der KPCh für eine kapitalistische Restauration erkennen. Er konnte nicht sehen, dass für die Mehrheit der Beteiligten das angestrebte Ziel gerade die „Alternative zum kapitalistischen Weg einerseits und zur autoritären Vergangenheit andererseits“ der KPCh war und dass die Intensität der Bewegung die oberste Führung der KPCh zeitweise so nervös gemacht hat, dass sie eine Spaltung der Armee fürchteten, wenn sie die Bewegung nicht rasch zerschlagen würden. Obwohl Deng Xiaoping schließlich sein schmutziges Werk erfolgreich beenden konnte, wurden nach dem Massaker die meisten oberen Führer vielleicht immer noch von der Erinnerung an die größte, tapferste und direkte Kampfansage an die KPCh verfolgt, die es jemals in der Geschichte der VR Chinas gegeben hat. Sie hinterließ in der Bewusstsein des Apparats einen so nachhaltigen Eindruck, dass er eine Paranoia gegenüber jeder Bewegung von unten entwickelte und China in den folgenden 20 Jahren in einen perfekten Polizeistaat verwandelte, was darin deutlich zum Ausdruck kommt, dass das Budget für Innere Sicherheit größer war als der Verteidigungshaushalt.11 Es gab also nichts Natürliches in der Metamorphose der Klassenrolle der KPCh, und die kapitalistische Restauration stand auch nicht unter dem Stern irgendwelcher geheimnisvoller ahistorischer Kräfte. Jeder Erklärungsversuch dieser Art entpolitisiert vielmehr ein sehr politisches Thema.

Ja, wir beleben wieder die altmodische Debatte von Kapitalismus und Sozialismus, von Klassen, Klassenkämpfen und dem Staat. Aber es handelt sich nicht um die Art von Streitereien zwischen kleinen Sekten, die an abstrakten politischen Formeln, wie sie sie verstehen, mehr interessiert sind als an realen Kämpfen in der realen Welt. Im Gegenteil, wir beleben sie, weil viele Arbeiter, die in staatseigenen Betrieben oder Kollektiven gearbeitet haben, diese Art Fragen sehr sehr oft gestellt haben: Warum ist aus einer anscheinend äußerst „revolutionären“ Partei eine Partei der Restauration geworden? Warum konnte die KPCh unter Deng Xiaoping diese Wende vollziehen? Warum gab es gegen diese Wende keine ernsthafte Opposition? Was ist das Wesen der KPCh und des von ihr beherrschten Staates überhaupt? Stimmt es nicht, dass sie sich jetzt vollständig zu einer Beschützerin der Ausbeuterklassen gewandelt hat?

Es ist sehr schade, dass es nur wenige linksgerichtete Intellektuelle gibt, die sich diese Fragen stellen. Selbst wenn einige von ihnen gegen Markt und Kapitalismus argumentieren, geschieht dies auf äußerst abstrakte und akademische Weise (zum Beispiel, indem sie „Gleichheit“ einen höheren Stellenwert einräumen als „Effizienz“). Wenn sie aber politischer argumentieren, lösen sie sich nicht aus der Falle der falschen Dichotomie von Staat und Markt, so dass sie schließlich das bestehende Machtmonopol des Einparteienstaats als Mittel des Kampfes gegen den Kapitalismus verteidigen. Dadurch haben sie die Arbeiterklasse und den Sozialismus als Ganzes abgeschrieben.

Wang Hui ist einer der wenigen, die besser abschneiden als die meisten anderen Linksgerichteten. Ein Teil seiner Veröffentlichungen kann als Ansatzpunkt einer Alternative dienen, aber da er auch große intellektuelle Konzessionen an die offizielle Ideologie macht, können seine Schriften auch in die entgegengesetzte Richtung führen.

In seinem vorliegenden Kommentar hat der Autor sein Bestes versucht, Wang Hui nicht misszuverstehen. Es stellte sich jedoch als schwieriges Unterfangen heraus, da seine Aufsätze wie üblich dahin tendieren, abstrakt zu sein und in einem einzigen Aufsatz so dicht mit vielen Bezügen auf wissenschaftliche Diskurse gespickt zu sein, dass man zuweilen an seiner Brauchbarkeit zweifelt. Hinzu kommt, dass seine chinesischen Aufsätze sich stark von seinen englischen unterscheiden können, selbst wenn sie denselben Titel haben. Ein Beispiel ist sein Aufsatz Politics: From East to West. Er ist keine vollständige Übersetzung aus dem chinesischen Original, sondern er ist auf gerade einmal 15 Prozent des Originals gekürzt. Wir kennen die Gründe nicht, warum hier nur so eine kurze Zusammenfassung vorliegt, aber offen gesagt bin ich der Ansicht, dass im chinesischen Original sein Gedankengang nicht ganz so klar herauskommt. In einem Interview beklagte Li Tuo, ein anderer linksgerichteter Autor, kürzlich Wang Huis Stil, durch den seiner Ansicht nach das Verständnis seiner Gedanken beeinträchtigt wird.12


Wang Hui über nationale Minderheiten


Leser im Westen werden auch darauf hingewiesen, dass ein vollständiger und fairer Kommentar zu Wang Hui schwierig ist, wenn man nur die englischen Übersetzungen liest. So wird in der englischen Übersetzung von The Year 1989 and the Historical Roots of Neo-Liberalism in China Wang Huis umfassend negative Beurteilung des Rechts auf Selbstbestimmung für nationale Minderheiten ausgelassen, die im chinesischen Original vorhanden ist.13 Seine Kritik beruht lediglich darauf, das Selbstbestimmungsrecht mit der imperialistischen Agenda in Jugoslawien in Verbindung zu bringen. Er lässt außer Acht, das gerade Marxisten wie Lenin wichtige Verfechter des Selbstbestimmungsrechts waren. Durch diese Argumentation wird er weder dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts gerecht noch all den unterdrückten Minderheiten weltweit, China eingeschlossen. In einem anderen Aufsatz in chinesischer Sprache, der später mit anderen Aufsätzen in Buchform veröffentlicht wurde, spricht er dem tibetischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung ab, indem er Zhou Enlai zustimmend zitiert, der das Recht auf Selbstbestimmung ablehnte. Damit Selbstbestimmung ohne das Entstehen von Konflikten zwischen Minderheiten funktioniert, muss nach Zhou eine Situation vorliegen, in der jede dieser Minderheiten ein eigenes Territorium besitzt, was angeblich im zaristischen Russland der Fall war. Darum konnte die Russische Revolution Minderheiten das Recht auf Selbstbestimmung und Sezession zugestehen und sie dann in einem Bund von Sowjetstaaten wieder vereinigen. Da China anders als die Sowjetunion – so die Argumentation – eine Han Mehrheit hatte und die Minderheiten geografisch vermischt waren, sollte China nicht den Föderalismus als mögliche Organisationsform in Betracht ziehen. Es gab vielmehr keine Alternative zur Gründung eines einheitlichen Staates. Der zweite Grund war nach Zhou, dass die bundesstaatliche Lösung (mit dem Selbstbestimmungsrecht als Grundvoraussetzung) eine imperialistische Intervention herausfordern könnte.14 Jeder, der sich etwas mit der Russischen Revolution und ihrer Haltung zu Minderheiten auskennt, weiß sehr wohl, dass Zhous Bemerkung faktisch falsch und theoretisch unzulässig war. Lenin war der Ansicht, dass Selbstbestimmung niemals automatisch eine Sezession oder die Gründung eines neuen Staates oder Föderalismus impliziert. Es ist enttäuschend, dass Wang Hui sich zustimmend auf Zhou bezieht.

Aber wir wollen nicht zu hart mit Wang Hui ins Gericht gehen. Wenn wir auf der Suche nach einer Alternative uns weiter umschauen müssen, so liegt das nicht so sehr an Wang Huis persönlichem Versagen. Der Grund liegt vielmehr in dem allgemeinen Versagen der Intellektuellen, unabhängig von der offiziellen Ideologie und von westlichem Liberalismus zu denken und sich von der falschen Dichotomie Staat gegen Markt zu lösen. Wenn der Einparteienstaat trotz seines Verrats an seinem Gründungsprinzip immer noch einen geistigen Einfluss auf linke Intellektuelle ausübt, liegt dieser Einfluss nicht so sehr an der angeblichen „sozialistischen Tradition“ der Partei, sondern eher an seinem verblüffenden Erfolg, kapitalistische Restauration mit schneller Industrialisierung zu verbinden, was in Klassenbegriffen bedeutet, dass er scheinbar von allen Klassen unabhängig und in der Lage ist, Klassen nach seinem Willen verschwinden oder entstehen zu lassen: zuerst durch Auslöschung der Klasse der Feudalherren und der Bourgeoisie in den 1950ern, dann durch Unterstützung der Wiedergeburt der Bourgeoisie (mit sich selbst im Zentrum) seit den 1980ern; zuerst wird der Arbeiterklasse die Ehre des „Herrn im Hause“ gewährt und dann lässt man sie in den darauf folgenden Jahrzehnten verarmen, ersetzt sie durch 250 Millionen Bauern vom Lande, die man in eine neue Arbeiterklasse verwandelt, nicht nur als billige Arbeitskräfte, sondern auch als Gegengewicht zu einer drohenden Rebellion der Arbeiter des staatlichen Sektors. Dieser große Erfolg des Leviathan des 21. Jahrhunderts hat alle Klassen überrascht und macht sie beherrschbar. Jeder, der eine linke Alternative sucht, muss zuerst die Geschichte der VR China hinsichtlich Klassen, Bürokratie und Staat studieren. Genau dieser Aspekt wird nur von wenigen linken Intellektuellen in befriedigender Weise behandelt.

10. April 2011

Übersetzung aus dem Englischen von Manfred Pegam, Bochum, 2011